
Beim zweiten nationalen Löwentanz-Wettbewerb im Mai dieses Jahres im Landkreis Chiayi (Südwesttaiwan) nahm eine dichte Atmosphäre vor einer Geräuschkulisse aus Trommeln, Gongs, Zimbeln und dem Geknatter langer Ketten von Knallkörpern die Zuschauermenge in ihren Bann. Im Innenhof des Pei-tien-Tempels zeigten über hundert Löwentanz-Teams von der ganzen Insel ihre anspruchsvolle Akrobatik. Beim Nachahmen der Bewegungen eines Löwen und der Darstellung seines Zorns, seiner Freude, Traurigkeit und Glückseligkeit prahlten die Wettstreitenden sowohl am Boden als auch auf den größeres Können verlangenden Stelzpfählen mit ihren Kunststücken.
Der lebhafte Löwentanz ist faszinierend, und es gibt bei Stil und Technik viele Variationsmöglichkeiten, die zwischen den Schaustellern genaue Koordination verlangen. In dem herrlichen, bunten Löwenkostüm bewegt eine Person den Kopf und eine andere Person das Hinterteil. Manchmal führt eine dritte Person mit der Maske eines lachenden Buddha den Tanz an, reizt den Löwen zu mehr Bewegung und trägt so noch zu der Fröhlichkeit des Schauspiels bei. Dieser dritte Tänzer mit der Buddhamaske hält in einer Hand einen Blumenball aus Seide und in der anderen Hand einen Fächer aus Bananenblättern.
Eine große Zuschauermenge aller Altersgruppen sah trotz sengender Sonne stundenlang dem zweitägigen Wettbewerb zu und belohnte jede Darbietung auf ihrem Höhepunkt mit begeistertem Applaus. "Löwentanz sehe ich total gerne, es ist einfach phantastisch", schwärmt eine ältere Zuschauerin. "Löwentanz erinnert mich immer gleich an meine Kindheit. Das war eine schöne Zeit!"
Die meisten Kinder in Taiwan sehen ihren ersten Löwentanz auf den Schultern ihrer Väter sitzend. Im traditionellen chinesischen Glauben ist der Löwe, der König der Tiere, ein glückverheißendes Symbol, das das Böse abschreckt und Stabilität und Wohlstand bringt. Das ist auch mit ein wichtiger Grund dafür, daß sich die Kunst des Löwentanzes auch heute noch so großer Beliebtheit erfreut. Diese traditionelle Volkskunst ist eine farbenprächtige und unverzichtbare Besonderheit chinesischer Feste, Tempelveranstaltungen, nationaler Ereignisse und anderer feierlicher Anlässe.
Die Kunst des Löwentanzes wurde ebenso wie andere Volkskünste -- etwa Huckepack-Spielchen, der Muschelgeist -Tanz und Stelzengehen -- in China über die Generationen weitergegeben. Die Bewahrung dieser Volksgebräuche wird jedoch immer schwieriger, und viele von ihnen sind in Taiwans Industriegesellschaft vom Aussterben bedroht. Gleichzeitig werden aber auch Rufe nach ihrer Bewahrung und Förderung laut. Seine gegenwärtige Popularität verdankt der Löwentanz zu einem großen Teil den gemeinsamen Bemühungen von Regierungsbehörden, akademischen Institutionen und verschiedenen privaten Gruppen.
"Diese Volksgebräuche sind einzigartige kulturelle Merkmale unserer Nation, und wir müssen sie nach Kräften verbessern und rühmen", fordert Chen Jong-sheng, stellvertretender Vorsitzender des Nationalrates für körperliche Fitneß und Sport. "So können die alten Kulturschätze ein lebendiger Teil des zeitgenössischen Lebens bleiben, und ihre dauerhafte Popularität wird das Leben der Menschen für viele Generationen bereichern." Nach Chens Empfinden symbolisiert der Löwentanz die chinesischen Ideale der Einheit und seelischen Kraft und ist daneben natürlich eine ausgezeichnete Sportart. Zur Förderung der Popularität des Löwentanzes hat der Nationalrat auch den Wettbewerb in Chiayi gesponsort. "Bei dem Wettbewerb sollten die Teilnehmer zur Verbesserung ihrer eigenen Fertigkeiten und der Qualität solcher Vorstellungen auf der Insel insgesamt dem Können der anderen nacheifern", fährt Chen fort. "Wir hoffen auch, daß die Öffentlichkeit durch solche Großveranstaltungen mehr über diese traditionelle Akrobatik lernen und so ihre wichtige Rolle, die sie in der chinesischen Volkskultur spielt, hochschätzen kann."

Die Geräuschkulisse aus Trommeln, Gongs und Zimbeln trägt noch zu der erregenden Atmosphäre bei einer Löwentanzaufführung bei.
Lu Kuang-lieh, Leiter der Abteilung "Sport für alle" des Nationalrates, erklärt, wie seine Behörde die Öffentlichkeit dazu ermuntert, an die frische Luft zu gehen und regelmäßig Sport zu treiben, um in Form und bei guter Gesundheit zu bleiben. Er bevorzugt die Förderung traditioneller Aktivitäten wie Löwentanz, Seilchenspringen und andere. "Solche Sportarten verdienen eine aktive Förderung, nicht nur weil es gute Freizeitaktivitäten sind, sondern auch, weil sie ein Teil unserer eigenen Volkskultur sind." Lu hat auch festgestellt, daß die meisten heute in Taiwan beliebten Sportarten von außerhalb eingeführt wurden. Dies erzeugt seiner Ansicht nach umso mehr die Notwendigkeit einer Förderung der traditionellen chinesischen Sportarten. Außerdem findet Lu die Sportkurse in Taiwans öffentlichen Schulen öde und wenig auf die Interessen von Kindern zugeschnitten. Das Angebot von Volkskunstaktivitäten erhöht die Wahlmöglichkeiten der Schüler bei außerschulischer sportlicher Betätigung.
Als Teil seines stark geförderten " Sonnenschein-Planes für körperliche Fitneß" hat der Nationalrat für körperliche Fitneß und Sport im Fiskaljahr 1999 nach Lus Angaben 80 Millionen NT$ (4,7 Millionen DM) für die Förderung traditioneller Volkskünste wie Löwentanz, Kampfsport und Diabolo zu Verfügung gestellt. Im nächsten Fiskaljahr wird der Betrag auf 100 Millionen NT$ (5,9 Millionen DM) erhöht. In Zukunft will der Nationalrat diese Volkskünste mit Aktivitäten für Eltern und Kinder an Wochenenden und Feiertagen verbinden.
Der Löwentanz-Wettbewerb im Landkreis Chiayi war vom Städtischen Lehrerkolleg Taipei geplant und durchgeführt worden. Dai Shay-ling, verantwortlich für die außerlehrplanmäßigen Veranstaltungen des Lehrerkollegs, weist darauf hin, daß Löwentanz mit akademischer Unterstützung hoffentlich ein interessierteres Publikum anlocken kann. Zusätzlich zum Unterricht traditioneller Sportarten am Lehrerkolleg forscht Dai mit einer Gruppe anderer Dozenten über die historische Entstehung und den gegenwärtigen Status dieser Volkskünste und formuliert PR-Strategien. "Diese Volkskünste sind unser Eigentum", beharrt sie. "Es wäre jammerschade, wenn wir nichts zu ihrer Förderung unternähmen und sie allmählich untergehen ließen. Sie sind die Verkörperung von Kunst mit einem hochentwickelten theoretischen Unterbau."
Zusätzlich zu den staatlichen Finanzspritzen und akademischer Planung und Forschung ist für die zweckmäßige Bewahrung und wirksame Förderung von Aktivitäten wie Löwentanz auch die Unterstützung von privater Seite erforderlich. Ein begeisterter privater Förderer des Löwentanzes ist Wang Hung-lung, von seinen Kollegen "Löwenkönig" genannt. Diesen Titel brachte ihm nicht nur seine lockige Löwenmähne und das löwenbraun gegerbte Gesicht ein, sondern auch seine langjährige Hingabe für den Löwentanz.
Zur Verwirklichung seines Traumes der Erhaltung und Förderung des Löwentanzes und zur Bereicherung des Tanzes selbst durch Innovationen gab Wang seinen Beruf als Arzt der chinesischen Heilkunde auf, nachdem er genug Geld zur Unterstützung seiner Familie verdient und gespart hatte. Im Jahre 1988 rief Wang mit ein paar gleichgesinnten Freunden den "Generalkonsul des Löwentanzes" ins Leben, und seit ihrer Gründung hat diese Organisation sich der Aufgabe angenommen, das Studium des Löwentanzes an die nächste Generation weiterzugeben. "Es ist wichtig, daß die Menschen in Taiwan ihre kulturellen Traditionen verstehen", begründet Wang. "Heutzutage fehlt jedoch offenbar vielen Menschen dieses Wissen. Deswegen bemüht der erziehungsorientierte Generalkonsul sich darum, die Menschen in Taiwan an die Existenz kultureller Traditionen zu erinnern, die nicht vergessen werden sollten."

Wang hat seitdem Informationen über die Ursprünge, die historische Entwicklung, grundlegende Aufführungsschritte, Produktionsmaterial und -techniken für die Kopf- und Rumpfkostüme beim Löwentanz zusammengetragen. "Die systematische Dokumentierung und Klassifizierung des Löwentanzes durch verschiedene Gruppen sind fundamental für die Bewahrung und Weitergabe von Wissen an neue Generationen", betont Wang, der mehrere Bücher veröffentlicht und Lehrvideos über den Löwentanz produziert hat. "Meine größte Erwartung ist, daß der Löwentanz anspruchsvoll und internationalisiert genug wird, so daß er auf Bühnen im In- und Ausland aufgeführt werden kann und nicht einfach nur eine ungeschliffene Disziplin für Straßenakrobatiker bleibt." Zusätzlich plant und organisiert der Generalkonsul zahlreiche verschiedene Löwentanzwettbewerbe und andere Veranstaltungen. "Dadurch hoffen wir, mehr Einheimische einbeziehen zu können und bei den Gemeinden größere Zustimmung zu Kulturveranstaltungen zu erzeugen, außerdem ein Verständnis der Menschen für diese kulturelle Tradition", sagt Wang.
Ein anderes für Wang wichtiges Projekt ist die Förderung von Darsteller- und Lehrtalenten. "Damit der Löwentanz nicht ausstirbt und weitergegeben werden kann, müssen mehr Menschen die Bewegungen erlernen", unterstreicht er. "Die Förderung von Nachwuchsteams wird daher unser Hauptziel." Jedes Jahr organisiert der Generalkonsul ein Studienlager und lädt am Löwentanz interessierte Lehrer zur Teilnahme ein. Bei der einwöchigen Schulung werden die Ursprünge des Löwentanzes, die Entwicklung der verschiedenen Stile, grundlegende Darstellungstechniken und Produktionen hervorgehoben.
"Wir hoffen, daß die Lehrer durch unseren Unterricht ein tieferes Verständnis und eine Leidenschaft für diese traditionelle Akrobatik entwickeln können", verrät Wang. "Dann werden sie nach ihrer Rückkehr in die Schulen die Saat des Löwentanzunterrichts aussäen können." In den letzten zehn Jahren haben etwa 600 Lehrer aus Kindergärten, Grundschulen, Mittelschulen und Colleges der ganzen Insel an dem Programm teilgenommen. Laut Wang waren die Resultate zufriedenstellend. "Nach der Teilnahme an der Schulung haben viele Lehrer sich für die Förderung dieses Volksgebrauchs in außerlehrplanmäßigen Veranstaltungen eingesetzt", freut sich Wang. "Für die Förderung des Löwentanzes sind Schulen der ideale Ort, weil sie systematischen Unterricht und ein regelmäßiges Trainingsschema bieten können. Und als lebhafte Sportart ist der Löwentanz für junge Schüler besonders geeignet."
Mitglieder der Organisation besuchen häufig Schulen, die Interesse an der Einrichtung von Löwentanzclubs und Tanzteams haben, und bieten ihnen Anleitung und nötigen Beistand. "Vor der Gründung des Generalkonsuls hatten noch nicht einmal dreißig Schulen der Insel Löwentanzteams", weiß Wang. "Durch unsere Entstehung und aktive Werbung ist die Zahl der beteiligten Schulen mittlerweile auf über 200 gestiegen." Wang ist zuversichtlich, daß der Löwentanz als Teil der charakteristischen Volkskultur der Insel sich dauerhafter Beliebtheit erfreuen und intakte Wurzeln behalten wird.
Su Chin-ming, Lehrer an der San-hsia-Grundschule, nahm 1993 "nur aus Neugier" an einem Löwentanz-Schulungscamp teil. "In der Vergangenheit wurde traditionelle Akrobatik meist direkt von den Meistern an ihre Schüler weitergegeben und nicht öffentlich gemacht", doziert Su. " Gewöhnliche Leute hatten kaum eine Chance, diese Kunst genauer kennenzulernen oder sich über die Bedeutung und ihren Wert klar zu werden." Der Intensivkurs im Camp erregte Sus persönliches Interesse und seine Bewunderung für den Löwentanz, und er erkannte dadurch auch die Notwendigkeit der Pflege dieser Volkskunst. "Der Löwentanz ist eine einzigartige chinesische Kulturtradition", definiert Su. "Warum sollten wir das nicht anerkennen? Außerdem ist es eine gesunde Betätigung, die Unterhaltung und Sport miteinander verbindet."
Im Jahr nach seiner Teilnahme an dem Lager arbeitete Su mit der Unterstützung seiner Schule in seiner Freizeit gemeinsam mit einem Kollegen an der Aufstellung einer Löwentanztruppe. In den letzten vier Jahren hat dieser traditionelle Tanz den Schülern viel Freude bereitet und einen Teamgeist geschaffen. "Die Schüler haben beim Erlernen des Löwentanzes ein großes Erfolgsgefühl, denn das ist schon eine Leistung", urteilt Su. "Besonders kleinen Kindern macht der Löwentanz wegen der lebhaften Bewegungen und der erregenden Geräuschkulisse Spaß."

Nach den Worten von Liang Keng, dem Rektor der Sanhsia-Grundschule, können die Schulen bei der Erhaltung vieler allmählich aussterbender traditioneller chinesischer Volkskünste eine Führungsrolle spielen. Außerdem ist es besser, mit dem Unterricht der Volksgebräuche in der Grundschule zu beginnen, wenn die Schüler noch mehr Energie und Zeit zum Lernen haben. "Löwentanz ist ja auch ein großartiges Freiluftvergnügen", ergänzt Liang. "Es ist intensives körperliches Training erforderlich, und dazu fehlt den meisten Schülern in der Stadt die Gelegenheit." Bei der Teilnahme an Freiluftveranstaltungen und Wettbewerben können die Löwentanzschüler auch neue Erfahrungen machen und unterschiedliche Menschen treffen. Liang: "Durch menschlichen Kontakt und Austausch beim Streben nach mehr Anerkennung entwickeln die Schüler soziale Fähigkeiten."
Liang erklärt weiter, daß das Löwentanztraining und der Unterricht der Schüler sich nicht in die Quere kommen, wenn das Training vor oder nach der regulären Unterrichtszeit angesetzt wird. Die meisten Eltern unterstützen das Programm. Den Schülern mit weniger guten schulischen Leistungen kann der Löwentanz ein Erfolgsgefühl schenken und sie mit etwas Konstruktivem beschäftigt halten. Und weil der Löwentanz eine körperlich anstrengende Sportart ist, sind die Schüler nach dem Training auch zu müde, um auf der Straße Unfug anzustellen oder Videospiele zu spielen, bemerkt Liang lächelnd.
Der 13jährige Schüler Yeh Chia-chia meint, daß er stärker und aktiver geworden ist, seit er mit dem Löwentanz angefangen hat. "Meine Mutter findet es echt gut, daß ich bei der Löwentanztruppe mitmache. Sie meint, vielleicht wachse ich dadurch mehr", berichtet er. Löwentanz macht mir total Spaß. Nach dem Lernen der Grundschritte habe ich mir zur Verbesserung der Vorstellung selbst ein paar Bewegungen ausgedacht." Yeh nimmt auch gerne an Wettbewerben teil, weil man da neue Leute kennenlernt, und der Applaus des Publikums ist für ihn immer eine große Ermutigung. Die gewonnenen Trophäen sind schöne Erinnerungen, und nach seinen Worten versteht er sich durch den beim Löwentanz erforderlichen Teamgeist auch besser mit den Mitschülern.
Ist der Löwentanz denn auch wirklich populärer geworden? Der Kostümdesigner Wu Yen-lin meint ja. Der 67jährige Wu stellt seit über 15 Jahren Kostüme für Löwentänzer her und freut sich sehr über die allmähliche Wiederbelebung dieser Kunst. "Vor etwa sechs Jahren begann das Bildungsministerium, die Städte und Kreise zur Förderung der Volksgebräuche mit jährlich drei Millionen NT$ (176 000 DM) zu unterstützen", sagt Wu. "Das hat sich bezahlt gemacht. Ohne das Engagement und die finanzielle Förderung durch die Regierung wäre es mit dem Löwentanz und anderen Volkskunstaktivitäten nicht aufwärts gegangen, und sie hätten nicht ihre jetzige Popularität."
Derzeit muß Wu oft über zehn Stunden am Tag arbeiten, um den durch die großen Bestellungen von Schulen und Privatorganisationen entstandenen Kostümbedarf decken zu können. Auch unterrichtet er an zehn Schulen aushilfsweise den Löwentanz und fungiert bei lokalen und nationalen Wettbewerben als Punktrichter. "Ich komme mit 24 Stunden pro Tag nicht aus", jammert Wu. "Ich hoffe nur, daß ich in meiner knappen Zeit so viele Dinge wie möglich und diese so gut wie möglich erledigen kann. Wir haben die Verantwortung, diese Volksgebräuche zu erhalten, und zwar dauerhaft zu erhalten." Glücklicherweise hat Wus 18jähriger Sohn auch großes Interesse, den Löwentanz und die Herstellung der dazugehörenden Kostüme zu erlernen. "Ich bin ein alter Mann", seufzt Wu. "Es ist ein riesiger Trost zu sehen, daß junge Leute wie mein Sohn diese traditionelle Akrobatik annehmen und weitergeben können."