21.05.2025

Taiwan Today

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Langsame Kraft voraus

01.09.2000
Von Kinmen aus kann man die festlandchinesische Küste mit bloßem Auge mühelos erkennen, aber direkte (legale) Reiseverbindungen gibt es bis heute nicht. (Huang Chung-hsin)

So nah und doch schier unerreichbar. Das ist einer der Hauptgedanken von Lee Juh-feng(李炷烽), einem Parlamentsabgeordneten von der Insel Kinmen (Quemoy), beim Blick auf die knapp zwei Kilometer entfernte festlandchinesische Küste. Die Insel gehört zur Republik China, ist geografisch jedoch der festlandchinesischen Provinz Fujian viel näher. Lee, Mitglied der Fraktion der Neuen Partei, war zu einem Seminar über die bilateralen Beziehungen nach Xiamen (Amoy) in der VR China eingeladen worden, gerade mal vierzig Bootsminuten von Kinmen entfernt. Wegen Taipehs Verbot direkter Verkehrsverbindungen mit dem Festland musste Lee erst nach Taipeh fliegen, dort einen Flug nach Hongkong nehmen und dann weiter nach Xiamen reisen. Diese Route war etwa 200 Mal so lang wie eine direkte Bootsfahrt von Kinmen nach Xiamen. Der Parlamentarier bezeichnet diese Situation als "bedauerlich" und legt dabei noch eine lobenswerte Selbstbeherrschung an den Tag.

Das Verbot direkter Kommunikations-, Handels- und Verkehrsverbindungen zwischen der Republik China und der VR China ist für viele Taiwaner seit langem ein Ärgernis. Seit im Jahre 1987 Bürgern der Republik China gestattet wurde, zu Verwandtenbesuchen über ein Drittland (zumeist Hongkong) auf das Festland zu fahren, sind die Kontakte über die Taiwanstraße viel intensiver geworden. Bis heute kann man allerdings nicht direkt von Taiwan aufs Festland (oder umgekehrt) reisen. Post muss ebenfalls zuerst in ein Drittland geschickt werden, in der Regel wieder Hongkong, auch wenn seit der Übergabe Hongkongs an die VR China 1997 nicht mehr von einem Drittland gesprochen wird, sondern von einem "dritten Ort". Viele Telefongespräche werden noch über Hongkong oder Tokyo geleitet, und Handel über die Taiwanstraße ist streng reguliert.

Auf dem Papier sehen diese Hindernisse allerdings höher aus, als sie in Wirklichkeit sind. Gegenseitiger, indirekter Handel mit dem Festland hatte laut Wirtschaftsministerium der Republik China im ersten Quartal dieses Jahres ein Volumen von 6,79 Milliarden US$. Nach Ansicht vieler Menschen in der Republik China, besonders Bewohnern der küstennahen Inselvorposten Kinmen und Matsu, macht die Aufrechterhaltung der unnatürlichen Isolierung keinen Sinn, zumal überall in der Welt die Parole "Globalisierung" lautet.

Die bislang einzige direkte Verbindung, zumindest legal und mit zuverlässigen Statistiken, ist der Schiffsverkehr über das Auslands-Verschiffungszentrum des Hafens Kaohsiung. Seit der Eröffnung des Zentrums im April 1997 können Frachtschiffe von dort direkt zu den festlandchinesischen Häfen Xiamen und Fuzhou fahren. Bis Mai dieses Jahres wurden in dem Zentrum insgesamt 944 000 Zwanzig-Fuß-Container umgeschlagen. Der Haken an der Sache ist aber, dass die Schiffe nur Güter aus einem Drittland transportieren dürfen -- Taiwan darf kein Zielort für festlandchinesische Waren sein und umgekehrt.

Freilich hält sich nicht jeder an die Gesetze. Die Containerschiffe transportieren zwar legal Fracht aus Drittländern zwischen Taiwan und dem Festland, aber zahllose kleinere Boote schmuggeln Fisch, Knoblauch, Sorghum-Wein und sogar Vieh zwischen dem Festland und den küstennahen, von der Republik China verwalteten Inseln.

Es gab und gibt auch Fälle, in denen taiwanische Verehrer der Meeresgöttin Matsu Boote chartern und sich direkt zum Heimatort der Göttin auf der Insel Meizhou vor der Küste Fujians schippern lassen. Der Glaube an Matsu ist schon lange in Taiwan verwurzelt, und es wird geschätzt, dass jedes Jahr zehntausende von einheimischen Matsu-Verehrern die Insel Meizhou besuchen. Die meisten unternehmen die Pilgerfahrt über ein Drittland wie Hongkong, aber manche nehmen das Risiko einer illegalen Direktüberquerung der Taiwanstraße auf sich. Beispielsweise fuhr im April dieses Jahres eine "religiöse Flotte" aus sechs Fischerbooten mit 30 Matsu-Jüngern an Bord von Ilan (Osttaiwan) nach Meizhou. In Taiwan wurde die Reise geheim gehalten, doch durch Berichte der festlandchinesischen Nachrichtenagentur Xinhua wurde das Ereignis publik. Übrigens ist es durchaus möglich, dass die Pilgerboote auch Schmuggelware transportierten.

Die Regierung der Republik China ist sich sehr wohl bewusst, dass der Druck auf Lockerung des Verbots direkter Verbindungen zunimmt. Ende März dieses Jahres verabschiedete das Parlament ein Gesetz, welches Kinmen, Matsu sowie der mitten in der Taiwanstraße gelegenen Pescadoren-Inselgruppe (auf Chinesisch Penghu genannt) die Eröffnung so genannter "Mini-Verbindungen" erlaubt und sie damit von dem bestehenden Direktverbindungs-Verbot ausnimmt. Während des Wahlkampfes hatte Präsident Chen Shui-bian selbst anerkannt, dass seine Regierung das Problem der direkten Verbindungen würde anpacken müssen, und die "Mini-Verbindungen" sind so etwas wie ein Versuchsballon des Parlaments dafür. Das alles nützt der Republik China freilich herzlich wenig, wenn die VR China andere Ansichten hat.

Vor der Eröffnung direkter Verbindungen verlangt Beijing nämlich, dass Taiwan die kommunistische Lesart des "Ein-China-Prinzips" akzeptiert. Diese Position schälte sich deutlich heraus, als Chens Amtsvorgänger Lee Teng-hui(李登輝) im Juli 1999 in einem Interview mit Journalisten der Deutschen Welle vorschlug, die Beziehungen mit dem Festland auf einer "zwischenstaatlichen" Grundlage zu behandeln. Die VR China hatte auf diese Vorschläge mit unverhältnismäßig heftigem Zorn reagiert, und die Aussicht auf baldige direkte Verbindungen zwischen beiden Seiten wurde unwahrscheinlicher. Bis jetzt hat Präsident Chen dieses Thema geschickt umgangen, aber politische Beobachter fragen sich, wie lange das noch geht.

"Die Anreize der VR China für die Zulassung direkter Kontakte waren immer eher politischer als wirtschaftlicher Natur", interpretiert Lee Juh-feng. Seiner Darstellung nach waren die Mini-Verbindungen ursprünglich sogar vom Festland vorgeschlagen worden, offensichtlich in der Annahme, dass eine höhere Interaktion über die Taiwanstraße schliesslich zur Vereinigung führen würde. Doch immer mehr taiwanische Unternehmen werden auf dem chinesischen Festland aktiv -- Handelsstatistiken belegen, dass das Festland vom Volumen her Taiwans größtes Investitionsziel ist, und die Geschäftsleute verlangen mit immer größerem Nachdruck direkte Verbindungen. Nun ist es das Festland, das sich keine Verzögerungen leisten kann.

"Es ist vorauszusehen, dass das Festland gemäß seiner Politik Bestimmungen für die Eröffnung direkter Verbindungen schaffen wird", glaubt Jaushieh Joseph Wu, stellvertretender Leiter des Instituts für Internationale Beziehungen an der Na tional Chengchi University (NCCU) in Taipeh. " In Bezug auf Politik wird das Problem der direkten Beziehungen sehr knifflig. Bei der Ein-China-Frage werden sie keine Kompromisse eingehen." Philip Hsu, Forschungsassistent am gleichen Institut, ist da nicht so sicher. "Wenn die VR China zu dem Schluss kommt, dass die Gefahr einer Unabhängigkeit Taiwans nicht so akut ist, dann werden sie vorübergehend das Ein-China-Prinzip zurückstellen und sich auf Wirtschaftsfragen konzentrieren", orakelt er. "Und Chen Shui-bian bemüht sich wohl um größere Flexibilität. Der Präsident bevorzugt zur Zeit einen pragmatischeren Ansatz."

Egal, was die Politiker sagen -- die beiden Seiten werden nach ihrer jeweiligen Aufnahme in die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) mit Sicherheit engere Beziehungen aufbauen und müssen in einem praktisch grenzenlosen internationalen Umfeld arbeiten. "Als WTO-Mitglied wird Taiwan betonen können, dass die Republik China ein souveräner Staat ist, was den Vereinigungsvorstellungen des Festlandes krass zuwiderläuft", bemerkt Philip Hsu. "Zum Beispiel kann Taiwan bilaterale Handelsdispute internationalisieren." Jaushieh Joseph Wu meint zustimmend: "In einem internationalen Forum wird Taiwan sich sicherer fühlen, denn dort gibt es Mechanismen zur Regulierung beider Seiten."

Langsame Kraft voraus

Wenn taiwanische Banken auf dem Festland Filialen einrichten könnten, dann würde der Zahlungsverkehr für die taiwanischen Firmen leichter und verlässlicher werden.

Viele Beobachter sind der Ansicht, dass dieses Ziel wahrscheinlich Ende dieses Jahres erreicht sein wird, zumal Ende Mai das US-Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf billigte, der der VR China dauerhaft normale Handelsbeziehungen einräumte. Gelockerte Handelsregeln sollten bei noch mehr einheimischen Geschäftsleuten Interesse an Investitionen auf dem Festland erregen. Eine andere Folge einer Aufnahme in die WTO wäre laut Philip Hsu, dass mehr ausländische Firmen sich in Taiwan und auf dem Festland niederlassen, und diese werden bessere Verkehrsverbindungen zwischen beiden Seiten verlangen.

Auf welcher Ebene werden diese Kontakte zuerst eröffnet werden? "Direkter Schiffsverkehr kommt wahrscheinlich zuerst", vermutet Hsu, denn Schiffe können nach seinen Worten viel mehr Fracht transportieren als Flugzeuge und bleiben räumlich auch auf die Küstengewässer beschränkt, während Flugzeuge tief in den taiwanischen Luftraum eindringen können -- ein zusätzliches Sicherheitsrisiko für die Insel. Die erwarteten Gefahren bei der Öffnung lebhaften Luftverkehrs von Taiwan zum Festland haben taiwanische Fluggesellschaften jedoch nicht an der Einrichtung von Vertretungsbüros auf dem Festland gehindert. 1996 eröffnete China Airlines (CAL) ein Vorbereitungsbüro in Beijing, und im Juni dieses Jahres folgte auch TransAsia Airways.

Zwar haben nun die CAL und ihr größter inländischer Konkurrent, die EVA-Airways, Verbindungsbüros in Beijing (CAL hat sogar noch ein zweites Büro in Shanghai), aber bisher ist ihr einziger Zweck das Sammeln juristischer und geschäftlicher Daten, nicht das Ausstellen von Flugscheinen. "Wir haben unsere Büros eröffnet, um Taiwanern auf dem Festland zu dienen, die vielleicht allgemeine Reiseberatung brauchen, aber unsere Präsenz hilft uns auch bei der Vorbereitung direkter Flugverbindungen", erläutert Sherman Yeng, Vizepräsident der Abteilung für Firmenangelegenheiten von CAL. "Niemand weiß, wann Flüge nach drüben zugelassen werden, aber keine der Fluggesellschaften hier kann sich Versäumnisse bei der Vorbereitung erlauben."

Bei Überlegungen über Art und Anzahl neuer Flugzeuganschaffungen denkt CAL ebenso wie ihre Konkurrenten an die Entwicklung des Festlandes, aber über kommerzielle Themen wie zukünftige Flugpreise und mögliche Gewinne ist das Unternehmen sehr zugeknöpft. Auch EVA-Airways teilt mit, dass ihre leitenden Angestellten für Interviews über ein mögliches Festlandgeschäft "zu beschäftigt" seien. CAL wiederum hat zwar zwei Festlandbüros, kann aber keine konkreten Zahlen vorlegen und begründet das mit unvollständigen Informationen über Flugdetails -- wie viele Fluggesellschaften werden welche Städte anfliegen dürfen? Yeng beschränkt sich auf die Aussage, er sei zuversichtlich hinsichtlich der Möglichkeit, dass Taiwan ein regionaler Knotenpunkt für Fracht- und Passagierluftverkehr werden kann. Yeng rechnet auch mit kürzeren Flugzeiten von Taiwan nach Europa, wenn Beijing in der Republik China registrierten Flugzeugen Überflugrechte für das Festland einräumt. Damit ist jedoch kurzfristig nicht zu rechnen.

Transport und Verkehr ist nicht der einzige Bereich, dem eine Öffnung direkter Verbindungen fundamentale Änderungen bescheren würde. Taiwans Bankensektor ist bei Geschäften mit dem Festland immer noch strikten Beschränkungen unterworfen. "Viele Banken schicken schon leitende Angestellte rüber, um den Weg für Festlandfilialen zu ebnen", verrät Wang Lee-rong, Forscherin am Chunghua-Institut für Wirtschaftsforschung. "Sobald Taiwans Banken den Betrieb auf dem Festland aufnehmen, werden Geldbewegungen für die taiwanischen Firmen dort sehr viel einfacher zu erledigen sein."

Jede Investition birgt auch ein gewisses Risiko, besonders in einem Markt wie Festlandchina. Wang warnt, dass taiwanische Banken sich im Konkurrenzkampf durch leichtsinnige Kreditvergabe übernehmen könnten und sich in Gefahr bringen, falls die festlandchinesische Wirtschaftslage sich verschlechtert oder soziale Unruhen ausbrechen. Die Folge wären Firmenabwanderungen und damit der Ruin für viele einheimische Unternehmen, deren Finanzen von den Festlandfilialen abhängen, und wegen der politischen Spannungen wären der Regierung der Republik China bei der Problemlösung ebenfalls die Hände gebunden. Die meisten Investoren glauben jedoch nicht an ein solches Szenario und machen geltend, das Festland profitiere so sehr von der Verbindung mit Taiwan, dass eine Unterbrechung undenkbar sei.

Wie sieht es denn mit dem umgekehrten Effekt aus? Würde ein plötzlicher Zustrom festlandchinesischen Kapitals nach Taiwan negative Auswirkungen auf die Wirtschaft der Insel haben? Wang Lee-rong macht sich da keine ernsthaften Sorgen. Sie weist darauf hin, dass das Festland als relativ unterentwickeltes Land nie sehr viel in Unternehmungen außerhalb der eigenen Staatsgrenzen investiert hat. Außerdem würden nach Taiwans Aufnahme in die WTO die ausländischen Investitionen auf der Insel insgesamt stark zunehmen, und es ist wenig wahrscheinlich, dass festlandchinesischer Bimbes allein so viel Wucht hat wie Geld aus anderen Ländern.

Die meisten Menschen machen sich eher Gedanken über Probleme, die der Heimat näher sind. Kinmens Abgeordneter im Parlament der Republik China, Lee Juh-feng, wünscht sich nur, dass er die Mikroökonomie seiner kleinen Insel retten und die Abwanderung der Bevölkerung stoppen kann. Kinmens zivile Bevölkerung ist auf 40 000 zurückgegangen, halb so viel wie vor zehn Jahren. Ab Anfang der achtziger Jahre wurde die Zahl der auf der Inselfestung stationierten Soldaten von 100 000 allmählich auf den aktuellen Stand von 10 000 reduziert. Daraufhin verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum der küstennahen Inselgruppe, und viel zu viele Einwohner wanderten auf die Hauptinsel Taiwan ab. Nach der Öffnung Kinmens für Touristen 1992 versiegte der anfängliche Massenandrang von Menschen, die einen bis dahin gesperrten Teil der Republik China besichtigen wollten, bald zu einem Rinnsal.

Lee plädiert auch aus humanitären Gründen für engere Beziehungen zwischen beiden Seiten. Für medizinische Notbehandlungen müssen Einwohner von Kinmen manchmal bis nach Taiwan fliegen, obwohl die Kliniken von Xiamen viel näher sind, und schlechtes Wetter kann diese Flüge noch verzögern. Die meisten Taiwaner haben genug Geld für Verwandtenbesuche oder Reisen auf dem Festland, und auch das Visum ist kein Problem, aber für die Landsleute drüben ist beides meist nicht der Fall. Laut Lee verschlugen die Wirren des chinesischen Bürgerkrieges 1949 über 5000 gebürtige Kinmener in die festlandchinesische Provinz Fujian, und die meisten von ihnen können sich einen Besuch in Taiwan nicht leisten. Sie können sogar schon froh sein, wenn sie überhaupt ein Visum für die Republik China ergattern -- die Regierung in Taipeh gestattet nur einer handverlesenen Schar von Bürgern der VR China einen Besuch auf der Insel, zumeist Gelehrten und Fachleuten.

Taiwans Zukunft hängt in großem Maße von einer Verständigung mit Beijing ab. Wie die Zukunft aussehen wird, weiß bislang niemand, zumal jetzt eine Nicht-KMT-Regierung am Ruder ist, die als Ballast noch Befürworter einer staatlichen Unabhängigkeit Taiwans mit sich herumschleppt. Der Handel mit dem Festland hat sich jedoch entwickelt, blüht und gedeiht weiter und sollte auch gefördert werden. Dieser Trend ist nicht aufzuhalten, und ebensowenig kann man vom Abgeordneten Lee Geduld bei den Mini-Verbindungen verlangen, wo er doch für Reisen aufs Festland so viel Zeit braucht. Lees Wunschprojekt für den Bau einer Brücke zwischen den beiden Hauptinseln der Kinmen-Inselgruppe und dem festlandchinesischen Hafen Xiamen nähert sich möglicherweise einer teilweisen Realisierung, denn Präsident Chen hat signalisiert, dass er die Verbindung von Kinmen mit Klein-Kinmen durch eine Brücke befürwortet. Ob man daraus ein Dreieck bilden und den Graben zwischen den ideologisch einander entgegengesetzten Seiten überbrücken kann, muss sich aber erst noch erweisen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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