Nachdem der von dem in Taiwan geborenen Regisseur Lee Ang(李安) gedrehte Film im Januar dieses Jahres den Golden Globe für den besten Film und die beste Regie erhalten hatte, wurde der Film vor der Oscar-Preisverleihung in diesen beiden Kategorien als Favorit gehandelt. Es wäre jedoch das erste Mal überhaupt in der Geschichte des Oscar gewesen, dass ein fremdsprachiger Film in der Kategorie Bester Film gewonnen hätte. Zum besten Film des Jahres 2001 kürten die rund 6000 Mitglieder der amerikanischen Filmakademie ( Academy of Motion Pictures Arts and Sciences, AMPAS) dann das Römerspektakel “Gladiator”, das insgesamt 5 Oscars einheimste.
Dennoch war in ganz Asien die Freude über den Oscar-Segen für den in Deutschland unter dem Titel “Tiger and Dragon” gezeigten Streifen groß -- nie zuvor hatte ein asiatischer Film den Oscar für den besten ausländischen Film erobert. Auch dass ein Film aus Taiwan im Vorfeld der Preisverleihung für nicht weniger als zehn Oscars nominiert worden war, hatte es noch nicht gegeben. Zuvor hatte der Film bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes bereits viel Lob geerntet, und im März wurde der Streifen von der Director's Guild of America mit einem “Golden Globe” für den besten Feature-Film geehrt.
Neben dem Oscar für den besten ausländischen Film triumphierte “Tiger and Dragon” in folgenden Kategorien: beste Kamera, beste Ausstattung, beste Filmmusik. Der in Hongkong geborene Kameramann des Films, Peter Pau, hat in der Vergangenheit mit dem ebenfalls aus Hongkong stammenden bekannten Hollywood-Regisseur John Woo (吳宇森,weltberühmt durch Action-Filme wie “Broken Arrow”, “Face/off” und “Mission impossible II”) zusammengearbeitet.
Der bei “Tiger and Dragon” für die Ausstattung verantwortliche Tim Yip(葉錫添), der in Hongkong zur Welt kam und heute in Taipeh lebt, kann gleichfalls auf Zusammenarbeit mit John Woo verweisen. Außerdem hatte er 1996 den Choreographen des taiwanischen Tanztheaters “Cloudgate”, Lin Hwai-min(林懷民), als Kostümdesigner der Oper “Rashomon” nach Österreich begleitet, eine Funktion, die ihm offenbar besonders liegt: Vor kurzem erhielt Yip auch den British Academy Award für das beste Kostümdesign.
Die Filmmusik für “Tiger and Dragon” komponierte Tan Dun(譚盾), der kürzlich in Stuttgart mit seiner “Matthäus-Passion” großes Aufsehen erregte. Die Cello-Solopartien spielte Yo-yo Ma(馬友友), und das Titellied “A Love before Time” sang die Popsängerin Coco Lee(李玟).
Das hochkarätige Team für die Produktion des Films umfasste auch die Creme der chinesischen Schauspieler. Die beiden Hauptdarsteller waren schon vor “Tiger and Dragon” im Westen wohl bekannt -- Chow Yun-fat(周潤發) brillierte in dem 1997 von John Woo produzierten Actionfilm “The Replacement Killers” (deutscher Titel: Die Ersatzkiller) und in dem Abenteuerfilm “Anna und der König” neben Jodie Foster. Michelle Yeoh(楊紫瓊) machte sich durch ihre Rolle in dem James Bond-Film “Tomorrow never dies” (deutscher Titel: Der Morgen stirbt nie) einen Namen.
Die Handlung des im 19. Jahrhundert spielenden Films beruht auf dem gleichnamigen Kungfu-Roman von Wang Tu-lu (王度盧,1909-1977), gedreht wurde an über 100 Orten auf dem chinesischen Festland. Im Mittelpunkt der Handlung steht das Zauberschwert “Grünes Schicksal”, das dem alternden Schwertkampfheld0en Li Mu Bai (Chow Yun-fat) gehört. Li Mu Bai will sich zur Ruhe setzen und gibt das Schwert in die Obhut seiner langjährigen Freundin Yu Shu Lien (Michelle Yeoh), die das Schwert dann nach Peking zu Meister Te (Lung Sihung郎雄) bringen soll. Doch das Schwert wird gestohlen, offenbar das Werk der berüchtigten Verbrecherin Jadefüchsin (Cheng Pei-pei鄭佩佩). Mit Jadefüchsin hat Li Mu Bai ohnehin noch ein Hühnchen zu rupfen, weil sie einst seinen Meister umgebracht hat. Undurchsichtig ist die Rolle der Aristokratentochter Jen (Zhang Ziyi張子怡), die nach außen hin ein traditionelles chinesisches Mädchen zu sein scheint, in Wirklichkeit sich aber nach einem anderen Leben sehnt. Sie soll gegen ihren Willen verheiratet werden, doch tatsächlich liebt sie den Räuberhauptmann Lo (Chang Chen) und zeigt ungewöhnliches Talent für den Schwertkampf. Mit ihrer ebenso unreifen wie ungestümen Natur löst Jen am Ende, ohne es zu wollen, großes Unheil aus.
Für den westlichen Zuschauer ist “Tiger and Dragon” gerade wegen seines exotischen Reizes ein Erlebnis. Die Gesichter, Kostüme und Bauten versetzen den Zuschauer in das China der Qing-Dynastie (1644-1911), und anders als in Asien sind westliche Zuschauer auch noch nicht mit dem Genre des Kungfu-Films übersättigt. Dass Kungfu-Kämpfer die Gesetze der Schwerkraft überwinden, Häuserwände hinauflaufen und von Baum zu Baum fliegen, ist im Osten nichts Neues. Die Choreographie der Kampfszenen besorgte übrigens niemand anderes als Yuen Wo-ping(袁和平), der auch für den Film “The Matrix” den Hauptdarsteller Keanu Reeves in der Kampfsportkunst unterwies.
“Tiger and Dragon” bietet mit den atemberaubenden Kampfkunstszenen viel Action und baut mit der altchinesischen Kulisse gleichzeitig eine exotische Phantasie- und Märchenwelt auf, ohne den Zuschauern zu viel Wissen über den kulturellen Hintergrund abzuverlangen. Wohl auch wegen dieser gut dosierten Eigenschaften konnte der Film in den USA über 100 Millionen US$ einspielen, was zuvor noch kein fremdsprachiger Film mit Untertiteln geschafft hatte. In Asien selbst hatte der Film dagegen nur durchschnittlichen kommerziellen Erfolg. International werden Lee Angs vier Oscars nach Einschätzung von Experten dem taiwanischen Film und chinesischen Kungfu-Filmen aber neuen Auftrieb geben.
Der Regisseur und seine Filme
Lee Ang wurde 1954 in Taiwan geboren und ging 1978 in die USA. An der University of Illinois erwarb er nach dem Studium der Theaterwissenschaft einen B.F.A. und graduierte anschließend an der New York University.
In seinem ersten langen Film, “Pushing Hands” (1992; deutscher Titel: Schiebende Hände) verarbeitete er auch seine persönliche Erfahrung als chinesischer Einwanderer in den USA. Es ist bezeichnend für Lees herausragendes Talent, dass schon sein Erstlingswerk in der Panorama-Sektion der Berlinale gezeigt wurde. In Taiwan erhielt der Film drei “Golden Horse Awards”.
Lee Angs 1993 gedrehter Film “The Wedding Banquet” (deutscher Titel: Das Hochzeitsbankett) erlangte Weltruhm. Auf der Berlinale uraufgeführt, errang diese interkulturelle Komödie dort einen Goldenen Bären und trug Lee dann auch seine erste Oscar-Nominierung ein. Die nächste Oscar-Nominierung holte Lee Ang sich ein Jahr später mit dem Film “Eat Drink Man Woman”.
Aus Hollywood kam nun das Angebot, die Regie für die Verfilmung des Jane-Austen-Romans “Gefühl und Vernunft” zu übernehmen. Lee nahm das Angebot an und drehte 1995 “Sense and Sensibility” (deutscher Titel: Sinn und Sinnlichkeit) mit hochkarätigen Schauspielern wie Hugh Grant, Kate Winslet und Emma Thompson in den Hauptrollen. Dieses mit viel Fingerspitzengefühl geschaffene Meisterwerk wurde auf der Berlinale mit einem goldenen Bären ausgezeichnet und gleich sieben Mal für den Oscar nominiert.
Mit “Tiger and Dragon” erfüllte Lee Ang sich einen Kindheitstraum: “Man ist kein echter Filmemacher, bevor man nicht einen Martial-Arts-Film gedreht hat”, glaubt Lee. Dem muss man nicht zustimmen -- dass Lee Ang heute ein Regisseur von Weltrang ist, hat er vorher schon mit wunderschönen Filmen wie “Das Hochzeitsbankett” oder “Sinn und Sinnlichkeit” bewiesen.