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Die Seelenverwandtschaft

01.03.2001
Einige von Yus Werken. Schreiben und Übersetzen sind nach Yus Ansicht ähnliche Tätigkeiten, da auch der Schriftsteller seine Gedanken erst in die passenden Worte "übersetzen" muss.

Yu Kwang-chung: Die Übersetzung eines literarischen Werkes und die Schaffung eines neuen Werkes sind im Grunde genommen ähnliche Tätigkeiten, denn beides hat mit "Übersetzen" zu tun. Schriftsteller übersetzen das, was ihnen durch den Kopf geht, in Worte. Ihre Gedanken und Gefühle sind oft recht undeutlich und erhalten erst das erforderliche Maß an Scharfsinn, wenn sie in Worte gefasst werden, durch welche die Leser die Erfahrung des Autors teilen können. Die Sprache muss der Erfahrung entsprechen, wenn die Leser durch die verwendete Sprache Zugang zu der Erfahrung erhalten sollen.

Übersetzer arbeiten mit sauberen Texten aus Redewendungen und Sätzen. Sie denken beim Lesen des Textes über die Gedanken und Gefühle des Autors nach und übersetzen diese dann in eine andere Sprache. Der Originaltext, die zu dem Originaltext führende Erfahrung des Autors und die Übersetzung sind wie die drei Ecken eines Dreiecks miteinander verbunden und beeinflussen einander.

Um die Gedanken des Autors nachvollziehen zu können, muss ein Übersetzer daher so viel wie möglich von dem kulturellen, historischen und sozialen Hintergrund und den persönlichen Erfahrungen dieses Autors erforschen. Bei der Übersetzung von Ernest Hemingways Büchern beispielsweise muss man ihn als Schriftsteller kennen, als Mensch, man muss wissen, wer seine besten Freunde waren, und man muss über seinen Liebeskummer Bescheid wissen. Man braucht Kenntnisse über Hemingway im Spanischen Bürgerkrieg, und warum er in diesen Krieg zog. Bei der Übersetzung von "Der alte Mann und das Meer" muss man auch die anderen Bücher von Hemingway lesen, man muss das nötige Wissen über Fischarten und das Klima in der Karibik erwerben, denn das alles war Teil des Umfeldes und der persönlichen Erfahrungen von Hemingway.

Historische Anspielungen gehörten nicht zu Ernest Hemingways bevorzugten Stilmitteln. Seine Charaktere waren meistens Männer der Tat. Wenn man dagegen etwa James Joyce übersetzt, muss man die gesamte europäische Geschichte und klassische Literatur des Kontinents kennen. Und genau das ist eigentlich die großartigste Erfahrung und der größte Lohn des Übersetzers: Er hat praktisch für Monate oder sogar Jahre Gesellschaft von den größten Seelen, die jemals gelebt haben. Wenn ein Pianist Chopin spielt, wird er selbst Chopin. Als ich John Keats' Gedichte übersetzte, hatte ich das Gefühl, ich sei selbst Keats. Übrigens sollte man meiner Ansicht nach nicht alles in die moderne chinesische Umgangssprache übersetzen. Wären wir nicht näher am Original, wenn wir ein vor 500 Jahren geschriebenes englisches Gedicht statt dessen in die klassische chinesische Schriftsprache übertrügen?

Manche Leute haben versucht, meine eigenen Gedichte ins Englische zu übersetzen, und ich finde, das ist ihnen nicht schlecht gelungen. Ich habe auch selbst ein paar von meinen Gedichten übersetzt. Der Vorteil dabei ist, dass ich so die Gefahr einer Fehlinterpretation des Originals ausschließen kann. Aber weil der Autor sein eigenes Werk so gut kennt, wird er oft durch das Gefühl entmutigt, dass man das Original mit all seinen unterschwelligen Bedeutungsnuancen unmöglich hundertprozentig genau übertragen kann. Sobald er sich einer Fremdsprache widmet, fühlt er sich der Verzerrung schuldig. Um meine Übersetzung vor dem Verflachen in bloße prosaische Paraphrasierung zu bewahren, musste ich manchmal Genauigkeit zugunsten von Schwung opfern.

Ich übersetze nur Gedichte, die universeller zugängliche menschliche Erfahrungen zur Grundlage haben. Die Übersetzung von Gedichten mit einem einzigartigen Kulturkontext, historischen Hintergrund oder sprachlichen Stil führt in der Regel trotz aller Bemühungen nicht zu dem gewünschten Erfolg. Ich habe ein paar Gedichte über Li Bo (李白,701-762) geschrieben, aber wie viele Ausländer können mit einem Gedicht über einen alten chinesischen Dichter etwas anfangen? Ich habe aber auch Gedichte über Vincent van Gogh verfasst, der den meisten Ausländern wohl vertraut sein dürfte.

Weil ich sowohl übersetze als auch selbst schreibe, fördern und beeinflussen die beiden Tätigkeiten sich gegenseitig. Ich habe über 300 englische und amerikanische Gedichte übersetzt. Dadurch lernte ich die Fähigkeiten der Dichter kennen und habe einige davon in meinen eigenen Gedichten übernommen, vor allem Reimschemata.

Zum Schreiben müssen Inspiration wie auch die Schreibfähigkeit ausgereift sein. Manchmal hört man von Leuten, die das Schreiben aufgegeben haben, weil sich ihr Talent oder die Ideen erschöpft haben, aber zum Übersetzen braucht man Fähigkeiten, die mit der Zeit immer reifer werden. Vor vielen Jahren habe ich für die Übersetzung eines Buches über van Gogh ein Jahr gebraucht. Als ein Verleger dann später eine Neuauflage herausbringen wollte, verbrachte ich ein weiteres Jahr mit der Durchsicht meiner Originalübersetzung und nahm buchstäblich Tausende von Korrekturen vor. Das lag nicht daran, dass ich das Original beim ersten Mal falsch übersetzt hätte, aber mein chinesischer Schreibstil hatte sich in den Jahren dazwischen verändert, und ich war mit meiner ersten Übersetzung nicht mehr zufrieden.

Ein Übersetzer braucht sich nie zu sorgen, es könnten ihm die Ideen ausgehen, denn es warten so viele großartige Werke auf seine Aufmerksamkeit, und so viele großartige Seelen wollen begleitet werden.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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