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Europas Chinaforscher

01.03.2001
Historische Dokumente im Archiv des sinologischen Instituts der Universiteit Leiden. Im Mittelpunkt der Forschung stehen immer noch Geschichte, Literatur und Philosophie.

Im Herbst letzten Jahres richtete sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf China, als der Nobelpreis für Literatur des Jahres 2000 Gao Xingjian (高行健)verliehen wurde. Der Schriftsteller und Dramatiker lebt zwar seit 1987 in Paris und besitzt auch die französische Staatsangehörigkeit, aber geboren wurde er 1940 in Taizhou (Provinz Jiangsu, VR China). Durch seine Herkunft und Ausbildung hat Gao eindeutig einen chinesischen Hintergrund, und Sinologen aus aller Welt gratulierten dem ersten Literaturnobelpreisträger, dessen Hauptwerk in chinesischer Sprache geschrieben wurde.

Die Ehrung erhöhte auch kurzzeitig das Interesse an der Sinologie -- ein Fach, das bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Damals reiste der venezianische Kaufmann Marco Polo (1254-1324) ins Reich der Mitte, verbrachte dort anschließend 23 Jahre und schrieb dann einen berühmt gewordenen Reisebericht. Viele andere traten später in seine Fußstapfen. Die ersten von ihnen waren Missionare, die ab dem 16. Jahrhundert in China eintrafen. Dann begann der Aufstieg der westlichen Seemächte (England, Frankreich, Holland, Spanien, Portugal etc.) und ihre Expansion nach Osten, was zum Aufbau der Kolonialreiche führte. "Grundsätzlich begannen die Europäer, China aus zahlreichen praktischen Gründen zu erforschen", verrät J. C. P. Liang, Leiter des Sinologischen Instituts der Universiteit Leiden (Niederlande). "Die westlichen Mächte schickten Diplomaten und Regierungsbeamte nach Asien, wo sie ihre Kolonien kennen lernten und auch erfuhren, wie man sich dort anpasst."

Als besonders gutes Beispiel für diesen Prozess führt Prof. Liang Indonesien an. Während der Zeit der holländischen Herrschaft über den Inselarchipel wurden viele Einwohner Südostchinas zur Hilfe bei der Entwicklung dorthin verschifft, damit ihre Kolonialherren Wissen über die chinesische Sprache und Kultur erwarben. Sobald die niederländischen Beamten in den Ruhestand traten, kehrten sie nach Holland zurück und lehrten in manchen Fällen andere, was sie im Ausland gelernt hatten. Damals steckte die Sinologie jedoch noch in den Kinderschuhen. Heute ist sie ein seriöses Studienfach, deren Inhalte weit über die Bedürfnisse und Praktiken des Kolonialismus hinausgehen.

Nach Liangs Meinung besitzt Europa eine solider entwickelte Grundlage für sinologische Forschung als die Vereinigten Staaten, wo sich vor dem Zweiten Weltkrieg kaum jemand für dieses Thema interessierte. Erst als die amerikanische Regierung die wachsende Bedeutung Chinas auf der Weltbühne erkannte, begann man dort mit der Heranbildung von Chinaexperten. In den sechziger Jahren rollte dann eine regelrechte China-Modewelle über die USA, und in den Colleges und Universitäten sprossen sinologische Institute wie Pilze aus dem Boden. "Außer an ein paar Orten wie Harvard hat man in den amerikanischen Schulen jedoch die ferne Vergangenheit Chinas weitgehend ignoriert", bemerkt Liang. "Ansatzpunkt ihrer Forschung war normalerweise das moderne China, was ich etwas seltsam finde. Wie kann man denn behaupten, China zu kennen, wenn man von der Geschichte des alten China keine Ahnung hat?"

Aber auch in Europa ist die Sinologie keine Konstante. Viele europäische Länder haben zwar mindestens einen oder zwei Sinologen der Spitzenklasse, aber laut Christian Henriot, Professor am Institut für Ostasienstudien an der Université Lyon 2 "Lumière", haben die früheren größeren Kolonialmächte in China -- Frankreich, die Niederlande, Großbritannien und Deutschland -- in diesem Bereich eine stärkere Tradition. Im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte hat die Sinologie sich in Skandinavien hervorragend entwickelt, und auch in Italien erlebte sie ein beachtliches Wachstum, aber die jüngsten Fortschritte wurden in Spanien und Portugal verzeichnet. Darüber hinaus gibt es auch in Osteuropa einige angesehene sinologische Lehrstätten, allen voran die Karlsuniversität in Prag.

Bei den Forschungsschwerpunkten der verschiedenen Bereiche herrscht eine außerordentliche Vielfalt. "Beispielsweise gab es vor den sechziger Jahren bei französischen Sinologen kaum Forschung über das moderne China und auch nur wenig über das China der Qing-Dynastie (1644-1911)", weiß Henriot, der sich seinerseits auf Forschung über das gesellschaftliche Umfeld von Shanghai zwischen 1937 und 1945 konzentriert. "Fast alle früheren Generationen von Sinologen, darunter auch meine eigenen Lehrer, waren Historiker. Man konnte kaum Experten für Soziologie oder Wirtschaft finden."

Sinologie beschränkt sich mittlerweile jedoch nicht mehr nur auf chinesische Geschichte, Literatur und Philosophie, wie populär diese Bereiche auch heute noch sein mögen. Der Lehrplan des sinologischen Instituts in Leiden spiegelt immerhin insofern noch die alte Ordnung wider, als die Sinologie dort in fünf Bereiche unterteilt wird -- Literatur, Geschichte, Kunstgeschichte, Linguistik und modernes China. In ihrem letzten Studienjahr wählen die Studierenden sich zwei dieser Fächer als Spezialgebiet aus. In den ersten beiden Studienjahren wird allgemeine Sinologie studiert, das dritte Jahr verbringt man zum Sprachstudium in Taipeh oder Peking.

Wer sich für das moderne China interessiert, wird diesen Bereich zum Studium auswählen, denn er beleuchtet das heutige China aus verschiedenen Blickwinkeln wie Politik, Wirtschaft und Anthropologie. Studierende mit größerem Inter esse an der Vergangenheit können sich zwei der vier anderen Fächer aussuchen. "Wir bieten Kurse für moderne und für alte Chinastudien", wirbt Prof. Liang. "Die Studierenden müssen übrigens sowohl die traditionellen, in Taiwan verwendeten Schriftzeichen (Langzeichen) lernen als auch die vereinfachten Schriftzeichen aus der VR China (Kurzzeichen)."

In akademischen Kreisen ist Sinologie immer wichtiger geworden, auch wenn sich ihre Entwicklung seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ( Tiananmen) am 4. Juni 1989 verlangsamt hat. Prof. Liang von der Universiteit Leiden teilt mit, dass in den zehn Jahren vor dem Massaker jedes Jahr zwischen 200 und 250 Leute sich um die 90 Studienplätze an seinem Institut bewarben. Zum Semesterbeginn im Herbst 1989 kamen dann aber lediglich 19 Studienanfänger. "Der Tiananmen-Zwischenfall hat eine außerordentliche Feindseligkeit gegenüber China ausgelöst", enthüllt er. "Die Zahl der Studienbewerber ist mittlerweile zwar wieder gestiegen, aber wir haben uns trotzdem noch immer nicht vollständig von diesem Schock erholt."

Joël Bellassen, Professor an der Chinesischabteilung der Université Paris 7 "Denis Diderot" und Generalinspekteur für die Chinesischsprachausbildung im französischen Bildungsministerium, hat in der jüngsten Zeit ein neu erwachtes Interesse an China registriert. "In Frankreich steigt die Zahl der Gymnasiasten, die Chinesischsprachkurse belegen, jedes Jahr um 15 Prozent an", meldet er. Woher kommt die gesteigerte Nachfrage? "Chinesische Sprache und Kultur galten immer schon als exotisch und faszinierend", erläutert Bellassen. "Heute gibt es noch einen zusätzlichen Grund für die Leute, Chinesisch zu lernen -- auf den exponentiell expandierenden Märkten ist es nützlich."

Natürlich widmen manche Gelehrte sich unabhängig von Modeerscheinungen jahrzehntelang dem Studium der Chinawissenschaften. Einer von ihnen ist Jacques Gernet, Honorarprofessor am Collège de France und Autor des Buches Le Monde chinois ("Die chinesische Welt") über die chinesische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Pflichtlektüre an vielen sinologischen Instituten. Der ältere Gelehrte, der oft die Verheerungen der Kulturrevolution beklagt, forschte mehr als zwanzig Jahre über die Werke des chinesischen Philosophen Wang Chuan-shan (1619-1692).

Ein weiterer ehrwürdiger Anhänger der Sinologie ist der 81-jährige Pater Claude Larre, der 1972 das Institut Ricci de Paris gründete. [Matteo Ricci (1552-1610), war ein italienischer Jesuitenpater, der im Jahre 1601 vom chinesischen Kaiserhof der Ming-Dynastie (1368-1644) die Erlaubnis zu missionarischer Tätigkeit in Peking erhielt.] Gemeinsam mit zahlreichen Kollegen und Freiwilligen in Taiwan und Frankreich verbrachte Pater Larre fast ein halbes Jahrhundert mit der Durchsicht und Aktualisierung eines Chinesisch-französischen diachronischen enzyklopädischen Wörterbuches. Als er damit anfing, waren "imperialistische" Ausländer in Peking nicht willkommen, daher begann er mit seiner Forschung in Taipeh. "Politik interessierte mich nicht", bekennt der Geistliche. "Ich wollte nur einen Ort finden, wo wir arbeiten konnten."

Dieses Wörterbuch, Le Grand Dictionnaire Ricci de la langue chinoise , auch Le Grand Ricci genannt, enthält rund 13 500 Einzelschriftzeichen und über 300 000 Stichwort-Kombinationen und ist sicherlich das vollständigste Werk seiner Art. Das Buch ist auch bemerkenswert wegen der Aufnahme der alten, zuweilen an Hieroglyphen erinnernden Formen jedes chinesischen Schriftzeichens, Zitate mit dem betreffenden Schriftzeichen aus chinesischen Klassikern und die Verwendung in den verschiedenen Bereichen der heutigen Umgangssprache, etwa Wirtschaft oder Medizin. "Wir wollen die Quintessenz der chinesischen Kultur bewahren und gleichzeitig die Forschungshorizonte ausdehnen", formuliert Pater Larre und fügt hinzu, dass die Redaktion dank der Computerisierung das Wörterbuch permanent aktualisieren kann.

Mit seinem unpolitischen Ansatz bei der sinologischen Forschung ist Larre bei weitem nicht allein. "China" ist keineswegs nur ein Synonym für das kommunistische Regime auf dem Festland, welches politisch in scharfem Kontrast zu Taiwan und den westlichen Ländern steht. "Ich will 'China' gar nicht allzu genau definieren", beschwichtigt Maghiel van Crevel, Profes sor für chinesische Sprache und Literatur am sinologischen Institut der Universiteit Leiden. "Der Begriff kann sich auf das Festland, Hongkong und Taiwan beziehen. Im Bereich der Chinastudien kann er manchmal sogar chinesische Gesellschaften in Singapur und Malaysia umfassen." Van Crevel und viele andere Sinologen wollen China als Konzept am besten in einem ausschließlich kulturellen Kontext verstanden wissen.

Wenn es um Taiwan geht, kommt man an Politik freilich kaum vorbei. Befürwortern einer staatlichen Unabhängigkeit Taiwans oder auch denjenigen, die zwar nicht gerade für eine Abspaltung vom chinesischen Festland eintreten, aber doch eine Lokalidentität schaffen möchten, bereitet jeder Versuch Unbehagen, Taiwan als Teil von China zu klassifizieren. Die Insel wurde zwar nie von der VR China beherrscht, aber es lässt sich kaum abstreiten, dass Taiwans Gesellschaft ethnisch gesehen überwiegend eine chinesische Gesellschaft ist und kulturell entscheidend vom Festland beeinflusst wurde. Prof. Lee Yuan-tseh(李遠哲), Präsident der Academia Sinica in Taiwan und 1986 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet, hat eine Idee für diese Quadratur des Kreises. "Eine Lokalisierung Taiwans bedeutet nicht notwendigerweise eine Entsinisierung", erklärte er während der Dritten Internationalen Sinologiekonferenz, die im Juni 2000 in Taipeh stattfand.

In mancher Hinsicht ist Taiwan als Studienort für sinologische Forschung besser geeignet als das chinesische Festland. Erstens hat Taiwan ganz offensichtlich viele chinesische Kulturtraditionen erhalten, die die Kommunisten auf dem Festland ausgerottet haben. Ein Beispiel dafür ist das Festhalten an der traditionellen Form der chinesischen Schriftzeichen im Gegensatz zu der Verwendung vereinfachter Schriftzeichen drüben. Zweitens verboten die Kommunisten nach ihrer Machtergreifung auf dem Festland 1949 fast alle akademische Forschung über traditionelle chinesische Kultur -- eine Tendenz, die in der kulturzerstörerischen Raserei der so genannten "Kulturrevolution" ihren traurigen Höhepunkt erreichte. "In Taiwan wurde diese Forschung jedoch fortgesetzt", lobt Mark Kalinowski, Professor am Ecole Pratique des Hautes Etudes (EPHE) an der Sorbonne in Paris. "Zahlreiche wertvolle Dokumente wurden auf der Insel erhalten und befinden sich heute im Nationalen Palastmuseum in Taipeh."

Selbst heute, wo die Atmosphäre gegenüber historischer Forschung auf dem Festland weniger feindselig ist, erhalten ausländische Gelehrte für gewöhnlich in Taiwan leichter Zugang zu Quellen. "Es ist insgesamt doch eine offenere Gesellschaft", charakterisiert der deutsche Student Henning Klöter, der sowohl auf dem Festland als auch in Taiwan sinologische Forschungen durchführte. "Ich finde, dass ich bei Forschungen in Taiwan schneller vorankomme."

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Das sinologische Institut der Uni Leiden. Immer mehr Sinologen betrachten die Sprache als nützliches Werkzeug, um sich Zugang zu Chinas Märkten zu verschaffen.

Klöter, Doktorand an der Universiteit Leiden, zeigt sich auch beeindruckt von den finanziellen Fördermöglichkeiten in Taiwan durch Organisationen, die eigens für die Unterstützung sinologischer Forschungen eingerichtet wurden. Die Chiang Ching-kuo-Stiftung für internationalen Gelehrtenaustausch (abgekürzt CCK-Stiftung) etwa wurde im Jahre 1989 eingerichtet und nach dem kurz zuvor verstorbenen Präsidenten der Republik China benannt. Klöter kennt einige Doktoranden, die von der Stiftung gefördert wurden. "Die finanzielle Unterstützung ist für sie sehr wichtig", unterstreicht er. "Ohne sie würden sie ihre Dissertationen kaum vollenden können."

Das Institut in Lyon, an dem Prof. Henriot lehrt, profitiert ebenfalls von der Stiftung. 1993 erhielt es von der CCK -Stiftung einen Zuschuss zur Erweiterung der Bibliothek durch den Erwerb von in Taiwan verlegten Büchern. Heute machen Bücher über die Insel ein Viertel des gesamten Bibliotheksbestandes aus, der über 20 000 Bücher und zahlreiche Zeitschriften umfasst. Von den Zeitschriften haben ebenso viele mit Taiwan wie mit dem Festland zu tun. Mit Geld von der CCK-Stiftung wurde auch die Herausgabe zweier Bücher finanziert.

Henriot kennt ähnliche Organisationen in Südkorea und Japan. "Auf dem chinesischen Festland gibt es dagegen meines Wissens keine solche Organisation, und ich denke, das liegt vielleicht teilweise daran, dass sie sich das nicht leisten können", kontempliert er und fügt hinzu, dass das Festland wahrscheinlich kein besonderes Interesse an der Förderung sinologischer Studien im Ausland hat. "Die denken doch nur ans Geld. Immer wenn ich mit denen über Gelehrtenaustausch diskutierte, lief es aufs Schachern um Geld hinaus. Das ging so weit, dass ich es schließlich nicht mehr aushalten konnte."

Die CCK-Stiftung bietet Stipendien für sinologische Forschung bei Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften. Das Geld wird für viele Zwecke verwendet, darunter Förderung von Seminaren, Bibliotheksverbesserungen und Publikationen, aber um Förderung können sich nur Organisationen bewerben, die in irgendeiner Form ein kooperatives Verhältnis mit einem anerkannten Forschungsinstitut in Taiwan haben. Doktoranden und Postgraduiertenforscher kommen ebenfalls für finanzielle Beihilfen in Frage. Nach Auskunft der Stiftung hat sich im Laufe der Zeit fast jede angesehene sinologische Organisation der Welt einmal um Zuschüsse bemüht, aber niemand hat so viel abgesahnt wie US-amerikanische Organisationen. In Europa erhielt Großbritannien die meisten Zuschüsse, gefolgt von Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. 1999 verteilte die CCK-Stiftung rund 4,5 Millionen US$ an Zuschüssen und Stipendien.

Eine andere Quelle für Bimbes aus Taiwan ist das Zentrum für chinesische Studien, 1981 unter dem Namen Informa tions- und Servicezentrum für Chinastudien gegründet. (Der Name wurde 1987 geändert.) Das Zentrum verteilt jährlich rund 100 000 US$ an Doktoranden und andere Gelehrte, aber man wird nur bei Forschungen in Taiwan berücksichtigt.

Viele Jahre lang hatte Taiwan noch einen weiteren Vorteil als Ort für sinologische Studien: Es galt und gilt in den Augen vieler Gelehrter als guter Ort zum Lernen von Hochchinesisch. "Die meisten Anfänger gehen lieber aufs Festland, wo sie die Sprache lernen und ausgiebig reisen können", berichtet Prof. Bellassen. "Wenn man aber schon eine Weile studiert hat und wirklich Fortschritte machen möchte, dann ist Taiwan die bessere Wahl."

Dennoch hat er seine Vorbehalte. "Kulturveranstaltungen wie von der Regierung der Republik China in Paris organisierte Ausstellungen sind eindrucksvoll, aber ich sehe keine Aktivitäten zur Werbung für chinesische Sprachstudien", bemängelt Bellassen. "Im Gegensatz dazu fördert die japanische Regierung ihre Sprache aktiv im Ausland, und die französische Regierung auch." Nach seinen Worten leistet der Weltverband der chinesischen Sprache, eine private akademische Organisation, bei der Förderung von Chinesischsprachstudien im Ausland durch die alle drei Jahre in Taipeh veranstalteten internationalen Konferenzen viel mehr.

Trotz aller Vorteile Taiwans für Sprachstudien konzentrieren die meisten Sinologen sich eher aufs alte China oder das moderne chinesische Festland, daher müssen sie für Informationen aus erster Hand und Kontakte mit lokalen Akademikern in die VR China gehen. In dieser Hinsicht gilt Taiwan nach wie vor als etwas ab vom Schuss. Prof. Henriot befürchtet, dass viele Europäer generell kein Interesse für Asien haben, von Taiwan ganz zu schweigen, und er bedauert die Vernachlässigung Taiwans zugunsten des Festlandes durch die Sinologen. "Taiwan ist die erste Demokratie überhaupt in der Geschichte Chi nas", argumentiert er. "Vielleicht ist es noch keine perfekte Demokratie, aber schon die Entwicklung ist sehr wichtig."

Auch die Wirtschaftsentwicklung der Insel verdient Beachtung -- Henriot weist auf einen Kollegen an seinem Institut hin, der sich ausschließlich mit taiwanischen Unternehmern beschäftigt. Henning Klöter forscht derzeit über die Linguistik des taiwanischen Dialekts, und Chen Tsung-ming, ein seit August 2000 am Institut für Ostasienstudien der Université Lyon eingeschriebener taiwanischer Doktorand, erhielt von Henriot den Auftrag, sich mit den während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) in Taiwan lebenden westlichen Missionaren zu befassen. Chen wollte ursprünglich über den Boxeraufstand forschen, auch weil es zu diesem bekannten historischen Ereignis umfangreiches und leicht zu findendes Material gibt, aber statt dessen vertiefte er sich in die Lektüre der taiwanischen Geschichte und fand es dann fesselnd. "Außerdem finde ich, je weniger beliebt ein Thema ist, desto lohnender wird die Forschung", konstatiert er.

Wieso geht Chen zur Forschung nicht nach Taiwan? "Dokumente dieser Periode aus Taiwan sind tendenziell antijapanisch", begründet er. "Daher bin ich auf der Suche nach einer objektiveren Perspektive nach Frankreich gekommen." Vor dem Hintergrund eines Kommentars von Prof. Gernet war das wohl eine kluge Entscheidung: "Bei der Forschung denken Europäer anders als Chinesen -- wir stellen Fragen, die chinesische Gelehrte nicht stellen würden." Das Hinterfragen der Haltung ist jedoch kein Vorrecht der Franzosen.

Die Sichtweisen sind in ganz Europa verschieden. Prof. Henriot verweist auf die kürzlich von seinem Institut eingerichtete Internet-Website, die dem Besucher eine virtuelle Reise zu sinologischen Instituten, Bibliotheken und Chinesischabteilungen in Frankreich und Südeuropa anbietet. "Wir müssen mehr darüber wissen, was sich im Südteil unseres Kontinents tut, denn dort haben sie unterschiedliche Kulturen, die wiederum andere und einzigartige Sichtweisen über China hervorbringen."

Die gegensätzlichen Ansichten westlicher Sinologen bekommt man wegen der Sprachbarrieren nicht so ohne weiteres zusammen. Prof. van Crevel von der Universiteit Leiden schrieb einmal über dieses Thema einen Artikel mit dem Titel "Ein Krüppel beim Marathon". Der niederländische Gelehrte spricht Chinesisch fast ebenso gut wie ein Chinese und befasst sich seit über 13 Jahren mit sinologischer Forschung, aber nach seiner Beobachtung kann ein chinesischer Gelehrter einen chinesischsprachigen Text immer noch vier bis fünf Mal schneller lesen als er selbst. "Das ist nun mal kein Vergleich", räumt er ein. "Ich brauche mir keine Hoffnungen zu machen, die Informationen so gründlich wie ein Chinese aufzunehmen, aber manchmal unterscheiden wir uns in der Art der Analyse und Betrachtung. Auf diese Weise ergänzen wir einander."

Europas Chinaforscher

Die Bibliothek des Instituts für Ostasienstudien der Uni Lyon, Bücher über Taiwan machen ein Viertel des Bibliotheksbestandes aus.

In Sinologenkreisen erfährt Taiwan weniger Beachtung als das chinesische Festland. "Natürlich ignoriert unsere Schule Taiwan nicht", versichert Prof. Liang von der Universiteit Leiden und reagiert damit auf die Anregung eines Studenten, dass im Lehrplan der Schule Taiwan mehr Raum geboten werden sollte. "Es gibt jedoch in der kurzen Studienzeit so viel zu lernen, dass man einfach keine ausschließlich auf Taiwan ausgerichteten Kurse einrichten kann." Das bedeutet allerdings nicht, dass die Insel im Lehrplan völlig unsichtbar wäre. Prof. van Crevel zum Beispiel hat einen neuen Kurs begonnen, "Chinas Literaturszene im 20. Jahrhundert". "Taiwans Literatur ist im Unterrichtsplan enthalten", rapportiert er. "Wenn man die moderne chinesische Literatur anschaut, kann man Taiwan einfach nicht ignorieren, besonders im Hinblick auf die letzten fünfzig Jahre."

Trotzdem könnten Taiwans Gelehrte noch eine Menge tun, um engere Beziehungen mit ihren europäischen Kollegen aufzubauen. "Die meisten taiwanischen Akademiker neigen eher zu Austausch mit Amerikanern, nicht mit Europäern", bedauert Prof. Kalinowski vom EPHE und fügt trocken hinzu: "Manche von ihnen sind zu amerikanisiert." Das zeigte sich auch an der Teilnehmerschaft der Dritten Internationalen Sinologiekonferenz in Taipeh, bei der nur 22 von über 300 Teilnehmern aus Europa kamen. Kalinowski gibt jedoch zu, dass die Franzosen selbst wie die Europäer allgemein ebenfalls immer amerikanisierter werden. "Was die Amerikaner interessiert, erweckt auch die Aufmerksamkeit der Europäer. Das trifft auf alle Bereiche zu, die Sinologie nicht ausgenommen."

Während europäische und amerikanische Geschäftsleute Chinas sich öffnende Märkte anpeilen, gibt es Anzeichen dafür, dass die jetzige Generation von Sinologiestudierenden ihr Fach nicht nur als akademische Disziplin betrachtet, sondern auch als praktisches Werkzeug. Yin Kwaan Mok zum Beispiel, eine Studentin chinesisch-holländischer Abstammung am sinologischen Institut der Universiteit Leiden, verbindet ihre Chinastudien mit Kursen über Marketing und Management. "Wenn man gut genug Chinesisch beherrscht, kann man dolmetschen oder übersetzen", regt sie an. "Viele chinesische Firmen kommen nach Holland." Prof. Henriot stimmt ihr zu: "Sinologische Forschung wird immer populärer werden. Viele Lokalverwaltungen in Frankreich entwickeln allmählich ein Interesse an Asien, besonders an China, daher finanzieren sie sogar Chinastudien in manchen Schulen."

Werden eines Tages europäische Gymnasiasten das Werk "Der Seelenberg"(靈山) des chinesischen Literaturnobelpreisträgers Gao Xingjian im Original lesen müssen? Wahrscheinlich nicht -- das ist selbst für geschulte europäische Sinologen kein Kinderspiel. Dass Schüler in Zukunft mehr über China erfahren, liegt dagegen eher im Bereich des Möglichen. Und wenn die Texte nicht leicht zu verstehen sind, bietet die Metapher von Maghiel van Creven Trost, nach der ein beharrlicher Läufer, behindert oder nicht, immer mit großzügigem Applaus rechnen darf.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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