Thomas Mann, Hermann Hesse, Franz Kafka, Heinrich Böll, Günter Grass -- taiwanischen Germanisten sind solche großen Namen der modernen deutschen bzw. deutschsprachigen Literatur natürlich geläufig, und längst nicht nur, weil sie (außer Kafka) jeweils Träger des Nobelpreises für Literatur sind. Anders als der durchschnittliche Bücherwurm in Taiwan müssen die Germanisten der Insel solche Literatur jedoch im Original lesen. Große Leseleistungen sind da nicht zu erwarten, denn da Deutschunterricht an Taiwans Oberschulen bisher die Ausnahme ist, müssen die Studierenden an der Uni beim Spracherwerb meist bei Null anfangen.
Ein übliches Hochschulstudium in Taiwan besteht in einem vierjährigen Bachelor-Studiengang nach US-amerikanischem Muster. Nur eine Minderheit der Bachelor-Absolventen bleibt für einen Magister-Studiengang an der Universität, und die Zahl der Doktoranden ist noch viel geringer. Der Vorteil des taiwanischen Hochschulsystems liegt in der straffen Gestaltung des Studiums und der Vermeidung von überlangen Studienzeiten -- die Absolventen sind zum Zeitpunkt des Examens im Schnitt deutlich unter 25 Jahre alt.
Die Kürze des üblichen Bachelor-Studiums hat indes den Nachteil, dass die dabei ausgebildeten Germanisten zu einer routinierten Lektüre von Texten mit einem hohen Schwierigkeitsgrad kaum in der Lage sind. Das dafür erforderliche Niveau erreichen erst die Studierenden im Magister- und Promotions-Programm.
Vor dem dritten Studienjahr des Bachelor-Studienganges ist also an lohnende Lektüre anspruchsvoller deutscher Literatur nicht zu denken, daher müssen die Dozenten des vierjährigen Bachelor-Studienganges Germanistik sich auf Schwerpunkte beschränken. "Die Lektüre literarischer Werke hat zwei Ziele: die Erhöhung des Sprachverständnisses und die Vermittlung der deutschen Mentalität", verrät Cheng Fang-hsiung, Germanistikprofessor an der Soochow University in Taipeh.
Auch wenn in puncto Literatur das Hauptaugenmerk sicherlich auf moderner Literatur liegt, so umfasst der Lehrplan doch gleichfalls ältere, klassische Werke wie von Goethe und Schiller. Freilich ist die Lektüre von klassischer wie moderner Literatur für die Studierenden des Bachelorstudiums mit viel Frust verbunden, worüber sich auch die Dozenten keine Illusionen machen. "Die Studenten interpretieren deutsche Texte oft ganz falsch", weiß Prof. Cheng. Um die Studierenden nicht zu überfordern, wird gar nicht erst versucht, umfangreiche Romane wie etwa Grass' Blechtrommel zu lesen, statt dessen werden im Unterricht bevorzugt Kurzgeschichten und Erzählungen behandelt.
Ein sehr beliebter Autor ist dabei Franz Kafka, dessen zahlreiche Erzählungen relativ schnell zu lesen sind und wegen ihres mystischen Charakters auch viel Diskussionsstoff bieten. Mit Thomas Mann befasst Prof. Cheng sich dagegen weniger gern: "Die Themen seiner Werke sind oft sehr abstrakt, und ohnehin ist Mann für Studenten schwer zu verstehen, denn ein einzelner Satz kann über eine halbe Seite gehen."
In dieser Hinsicht eignen sich Werke von Heinrich Böll viel besser für den Unterricht: die Sprache ist relativ einfach und logisch, und auch thematisch erfüllen viele von Bölls Werken den Zweck, neben Sprache auch die Mentalität zu vermitteln. Berührungsängste vor linken Autoren wie Brecht bestehen heute in Taiwans Unis, 14 Jahre nach Aufhebung des Kriegsrechtes, schon lange nicht mehr.
Dem breiten taiwanischen Lesepublikum kann man aber deutsche Literatur natürlich nicht im Original vorsetzen. Die Hauptwerke deutschsprachiger Literatur liegen in chinesischer Übersetzung vor, doch die Qualität der Übersetzungen ist nicht immer zufriedenstellend. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Zum einen gibt es in Taiwan nicht viele Übersetzer, die deutsche Literatur ins Chinesische übertragen. Taiwans Germanistenverband hat nur 120 Mitglieder, was im krassen Gegensatz zum eher deutschlandorientierten Japan steht: Japans Germanistenverband hat laut Prof. Cheng nicht weniger als 7000 Mitglieder. Die knappen Ressourcen werden auch nicht immer effektiv verteilt. So darf man beispielsweise die Frage stellen, ob von Goethes "Die Leiden des jungen Werther" wirklich ein gutes Dutzend verschiedene Übersetzungen angefertigt werden mussten.
Desweiteren gibt es nicht genügend Anreize zum Übersetzen von Literatur. Es ist durchaus nicht einfach, eine Übersetzung anzufertigen, die dem Originaltext inhaltlich gerecht wird und in der Zielsprache stilistisch schön ist. Gemessen an der Schwierigkeit wird Übersetzungsarbeit unverhältnismäßig schlecht bezahlt, und für gute Übersetzungen gibt es nur wenige Preise oder Förderungsgelder vom Bildungsministerium oder Nationalen Wissenschaftsrat ( National Science Council, NSC).
Den Germanistikdozenten und -professoren wiederum fehlt die Zeit zum Übersetzen -- Übersetzungen werden wissenschaftlich nicht anerkannt, und im Hinblick auf eine akademische Karriere nutzen Germanisten ihre Zeit lieber zum Abfassen wissenschaftlicher Arbeiten. Ein Ende dieser Misere ist nicht abzusehen, und auch Prof. Cheng hält es für wenig sinnvoll, den pädagogischen Schwerpunkt an den Unis der Insel auf Literatur zu legen. "Für literaturwissenschaftlich orientierte taiwanische Germanisten gibt es nach dem Examen nur wenig Arbeitsmöglichkeiten."
Übersetzernachwuchs wird in Taiwan sowieso nicht herangebildet: Eine gezielt auf Übersetzungen ausgerichtete akademische Ausbildung für Germanisten gibt es an den Unis der Insel nicht. Angeboten werden lediglich Seminare, in denen die Studierenden vorhandene Übersetzungen mit den Originaltexten vergleichen, auf Fehler hinweisen und über die Qualität diskutieren.
Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass viele in Taiwans Buchläden erhältliche Übersetzungen deutscher Literatur nicht in Taiwan entstanden sind, sondern auf dem chinesischen Festland. Nicht nur ist die absolute Zahl von Germanisten dort höher als in Taiwan, sondern Autoren aus dem deutschsprachigen Raum mit einem kulturellen (und kommerziellen) Interesse an der Verbreitung ihrer Werke wenden sich selbst meist eher an festlandchinesische Übersetzer, um dadurch einen direkteren Zugang zum riesigen Buchmarkt der VR China zu erhalten.
Die festlandchinesische Herkunft eines Übersetzers ist laut Prof. Cheng keineswegs ein Hinweis auf schlechtere Qualität -- so wurde seiner Ansicht nach Grass' Blechtrommel auf dem Festland hervorragend ins Chinesische übertragen. Große qualitative Unterschiede bei chinesischen Übersetzungen deutscher Literatur findet man in Taiwan wie auf dem Festland gleichermaßen.
Der Grund für solche Qualitätsunterschiede ist der, dass Verlage meist nicht bereit sind, ein übersetztes Werk vor der Drucklegung noch einmal von einem anderen Übersetzer prüfen zu lassen. Das würde Zeit und Geld kosten, und überdies schüttelt man Leute, die ausreichende Kenntnisse in der Original- und Zielsprache haben, nicht von den Bäumen. Die Autoren des übersetzten Werkes sind nur in seltenen Fällen in der Lage, die Qualität der fremdsprachigen Übersetzungen eines ihrer Werke sachkundig beurteilen zu können.
Die Qualität der Übersetzungen litt auch unter einer anderen verwerflichen Praxis, die sich ebenfalls aus dem Mangel an qualifizierten Übersetzern ergab: Manche Verlage ließen kommerziell vielversprechende deutschsprachige Werke, die bereits in englischer Übersetzung vorlagen, aus dem Englischen ins Chinesische übertragen, da es für Englisch in Taiwan mehr Übersetzer gibt und die Übersetzungsgebühren für Englisch überdies niedriger angesetzt werden als die für Deutsch. Bei solchen indirekten Übersetzungen ist die Gefahr von inhaltlichen Übersetzungsfehlern natürlich viel größer als bei direkten Übersetzungen. Glücklicherweise wird deutschsprachige Literatur in Taiwan immer seltener indirekt übertragen.
Die Frage der Rezeption deutscher Literatur in Taiwan hängt untrennbar mit der Übersetzungsproblematik zusammen, daher sind umfassende Änderungen der aktuellen Situation kurzfristig eher unwahrscheinlich. Auf dem breiten Buchmarkt der Insel lässt sich die Bekanntheit deutscher Literatur und ihr Profil gegenüber Literatur aus englischsprachigen Ländern nur mit mehr Übersetzungen steigern.
"Deutschlands Literatur wurde zu wenig mit Übersetzungen bekannt gemacht", bestätigt auch Prof. Cheng. "Dabei ist die Nachfrage im Prinzip vorhanden." Diese Nachfrage wurde wohl auch durch die Verleihung des Literaturnobelpreises an Günter Grass im Jahre 1999 gefördert. Nach dieser Ehrung für Grass wurde in Taiwans Zeitungen viel über den 1927 in Danzig geborenen Autor geschrieben. Nach Prof. Chengs Ansicht spricht Taiwans Lesepublikum nach den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen auf der Insel seit Beginn der industriellen Entwicklung in den sechziger Jahren auf Grass' sozialkritische Themen gut an.
Zu einer höheren Produktion chinesischer Übersetzungen von deutschsprachiger Literatur ist Taiwan aus eigener Kraft derzeit kaum in der Lage. Eine mögliche Lösung wäre eine verstärkte Zusammenarbeit mit festlandchinesischen Germanisten.
Der Gedanke einer Kooperation von Taiwans Verlagsbranche mit dem Festland ist nicht neu, und die rege Teilnahme deutscher Verleger an der jährlichen Buchmesse in Taipeh ist auch auf die Sprungbrettfunktion zum festlandchinesischen Buchmarkt zurückzuführen, die die Verleger Taiwan zuschreiben. Taiwans Verlage haben wegen ihres hohen technischen Niveaus, der westlichen Geschäftspraktiken und der Einhaltung des Urheberrechts hohes Ansehen im Westen, und da es zwischen Taiwan und dem Festland keine Sprachbarriere gibt, sind Taiwans Verlage für eine Vermittlerrolle zwischen westlichen und festlandchinesischen Verlagen geradezu prädestiniert.
Die den deutschen Verlegern vorschwebende Zusammenarbeit wäre allerdings im Prinzip eine Kooperation von Taiwan zum Festland, aber die dazu erforderlichen Kontakte zwischen taiwanischen und festlandchinesischen Verlagen ließen sich zweifelsohne auch in die andere Richtung nutzen.
Eine solche Zusammenarbeit ist insgesamt durchaus nicht unrealistisch, denn trotz der politischen Gegensätze über die Taiwanstraße hat Taiwan in vielen Branchen schon seit Jahren die Fühler aufs Festland ausgestreckt, und auch Zusammenarbeit im akademischen und verlegerischen Bereich ist kein Novum. So könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen -- auf der einen Seite mehr deutsche Literatur nach Taiwan bringen und auf der anderen Seite die Zusammenarbeit über die Taiwanstraße weiter ausbauen.