Li kam 1925 als Sohn einer Literatenfamilie in der festlandchinesischen Provinz Shandong zur Welt, und er lernte schon früh mit einer Schere umzugehen. "Damals hatten nur sehr wenige Kinder die Gelegenheit zum Schulbesuch", erinnert sich Li. "Noch nicht mal 10 Prozent der Buben erhielten eine Schulbildung, von den Mädchen will ich gar nicht erst reden." Stolz bemerkt Li, dass seine Heimatstadt Linyi, in alter Zeit auch "Langyieh" genannt, der Geburtsort zahlreicher berühmter Intellektueller war, darunter der Militärstratege Chu-ko Liang (諸葛亮,181-234) und der Kalligraphiemeister Wang Hsi-chih (王羲之,321 -379).
Als einer der wenigen Glücklichen in einer Stadt, in der akademische Studien hoch angesehen waren, half Li schon bald Frauen und Mädchen beim Vorschreiben von chinesischen Schriftzeichen und beim Kopieren von Mustern für ihre Scherenschnittarbeiten. Das galt als wichtige und wertvolle Fertigkeit. Mütter legten Wert darauf, dass ihre Töchter sich beim Sticken, Nähen und der Anfertigung von Scherenschnitten Geschicklichkeit erwarben, denn all dies war bei der Zusammenstellung der Mitgift erforderlich.
Der Junge hatte eine schwierige Kindheit. Als sein Vater starb, war er gerade zehn Jahre alt. Nicht lange danach wurde Shandong von japanischen Invasionstruppen besetzt, und Li und seine Mutter flüchteten nur mit dem, was sie am Leibe trugen. Lis Mutter verdiente dann Geld als Näherin, und das bescheidene Einkommen konnte Mutter und Sohn gerade über Wasser halten. Trotz der Armut setzte Li seine Schulbildung fort.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrten die beiden in ihre Heimat zurück, doch dann brach der chinesische Bürgerkrieg aus, und Lis Mutter schickte ihren Sohn in Begleitung seiner Lehrer und Schulkameraden nach Südchina in Sicherheit. Als sich die von den Kommunisten geschlagenen Nationalisten 1949 dann nach Taiwan zurückzogen, bestieg Li eines der letzten Schiffe zur Inselgruppe Penghu, rund 50 Kilometer westlich von der Hauptinsel Taiwan. Li sollte seine Mutter nie wieder sehen, aber als die Regierung der Republik China Ende 1987 die Reisebeschränkungen für Privatbesuche auf dem chinesischen Festland aufhob, unternahm er eine Pilgerfahrt in seine Heimatstadt.

Das Schriftzeichen fu, zu Deutsch “segen”, ist eines der vier Elemente für ein gutes Leben.
In Taiwan hatte der junge Li weder Verwandte noch Freunde, daher trat er in die Armee ein, nur um zu überleben. Als einer seiner mittlerweile im Verteidigungsministerium beschäftigten Schulkameraden Dokumente fand, die exilierten Schülern die Fortsetzung ihrer Studien gestatteten, konnte Li an die Schulbank zurückkehren. 1969 bestand er eine Prüfung und wurde in die Lehrerausbildungsabteilung der Yuanlin-Experimentaloberschule in Zentraltaiwan aufgenommen. Nach nur einem Jahr machte er Examen und arbeitete die nächsten dreißig Jahre als Grundschullehrer in Taipeh, wo er überdies 1976 ein Diplom vom staatlichen Lehrerkolleg Taipeh erwarb.
Lis Kunst erregte erstmals bei einer Schulausstellung Aufsehen. Ein Beamter des Bildungsamtes der Stadtverwaltung Taipeh, der gleichzeitig Mitglied des Komitees des staatlichen Kulturverbandes war, interessierte sich besonders für Lis Scherenschnitt-Reproduktionen mehrerer berühmter Kalligraphien und drängte ihn, sein Können an andere weiterzugeben. Mit finanzieller Unterstützung von dem Kulturverband begann Li im Jahre 1981, Grundschullehrer in der Scherenschnittkunst zu unterweisen. Mit zunehmender Bekanntheit dehnte Li seine Unterrichtstätigkeit auch auf andere Leute aus, darunter Kinder und Ausländer.
Der Scherenschnitt hat seine Wurzeln in der traditionellen chinesischen Volkskunst. Die genauen Ursprünge sind natürlich nur schwer zurückzuverfolgen, aber es wird angenommen, dass dieses Kunsthandwerk erstmals in der Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien (420-589) vorkam, als Frauen zur Verschönerung ihrer einfachen Wohnstätten bunte Muster ausschnitten und auf ihre Ölpapierfenster klebten. Die Muster sollen blumenförmig gewesen sein, daher nannte man diese Kunstrichtung "Blumenfenster", auf Chinesisch chuanghua(窗花). Während der Feierlichkeiten zum chinesischen Neujahrsfest wurden diese "Schnittblumen" außerdem an den Innenwänden und den oberen Türbalken angebracht, und die Auswahl von Mustern vergrößerte sich bald und umfasste auch Motive, die man beim Besticken von Kleidern, Schuhen und Hüten benutzte.
In der Zeit der Fünf Dynastien (907-960) erhielt die Scherenschnittkunst Auftrieb und wurde zur Dekoration von Häusern während Feiertagen, Hochzeitszeremonien und Geburtstagsfeiern benutzt. Selbst auf Papierlaternen fanden sich sorgfältig ausgeschnittene chinesische Schriftzeichen. In der Song-Dynastie (960-1279) war Scherenschnitt für heiratsfähige Frauen zu einer unverzichtbaren Fertigkeit geworden.
In der Ming-Dynastie (1368-1644) konnte man wegen der Begeisterung der Kaiser für diese Kunstform überall Scherenschnitte finden, unter anderem auf Fächern, Wandschirmen, Zimmerdecken, Spiegeln, Kissen und sogar auf der tutou genannten Unterbekleidung für Frauen. In der Qing-Dynastie (1644-1911) vertrieben kaiserliche Konkubinen sich mit Scherenschnitten viele Stunden der Einsamkeit und Vernachlässigung.
Traditionell wird bei Scherenschnitten rotes Papier verwendet, denn Rot symbolisiert Reichtum und Glückseligkeit. Die am häufigsten verwendeten Schriftzeichen sind fu福 (Segen), lu 祿(Wohlstand), shou壽 (langes Leben) und hsi (Glückseligkeit), also die vier Elemente eines guten Lebens. In der Vergangenheit waren Tiere und Pflanzen beliebte Bildmotive, besonders wenn das Motiv einen tieferen Nebensinn oder das chinesische Wort dafür eine klangliche Ähnlichkeit mit einem glückverheißenden Wort hatte. Die Muster traditioneller Papierschnitte haben viele Formen, am häufigsten sind Kreise, Quadrate, Sechsecke, Achtecke, Vasen und Gurkenformen.

Detailansicht von Einhundert Schönheiten. Diese Arbeit, die schachspielende Frauen zeigt, verdeutlicht Lis Können besonders.
Das Wesen der Scherenschnittkunst hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Aufbauend auf den einfachen Anfängen flochten Scherenschnittkünstler auch Prinzipien von Malerei und Kalligraphie in ihre Arbeit mit ein, so dass daraus nach und nach eine äußerst komplizierte Kunstform wurde. Die für eine Darstellung als geeignet angesehenen Motive weiteten sich auf alle Tierarten aus, man schnipselte Insekten und Pflanzen, Landschaften, volkstümliche Legenden und historische Anekdoten, religiöse Themen und sogar Alltagsbegebenheiten. Auch die kultivierte Elite griff zur Schere. Künstler kopierten Bilder, indem sie filigrane Landschaften oder Figuren ausschnitten und Kalligraphien und Papier-Siegel" hinzufügten. Manche beherrschten das so meisterhaft, dass ihre Schnitte manchmal irrtümlich für echte Gemälde gehalten wurden.
Doch nicht nur die Kunstform ist vielfältig, sondern auch das Material. Es gibt sehr viele unterschiedliche Papiersorten. Wenn ein Künstler es sich leisten konnte, wählte er handgemachtes Baumwollpapier, denn es ist dünn, leicht, weich und haltbar. Außerdem kann man gleichzeitig drei bis fünf Bögen Baumwollpapier schneiden, ohne die Integrität der Muster zu beschädigen. Es wird aber auch Stoff verwendet, wobei die Auswahl der Farben größer ist als bei Papier. Strenggenommen beschränkt die Technik sich auch nicht mehr nur auf "Schneiden". Bei der Reproduktion von Mustern gibt es zwei Hauptmethoden: konventionelles Ausschneiden nach altem Stil sowie Schablonieren.
Als Werkzeug braucht man nur eine Schere, so dass im Prinzip jeder damit anfangen kann, der Zeit und Lust dazu hat. Manche Scherenschnittkünstler verwenden zur Erzeugung unterschiedlicher Effekte auch Messer -- Scheren sind gut für glatte Kreise und Kurven, für gerade Linien bieten sich eher Messerklingen an. Li verwendet beides. "Mit der Schere geschaffene Arbeiten sehen feiner aus, mit dem Messer ausgeführte Stücke maskuliner", erläutert er. "Mit der Kombinierung der beiden Techniken erzielt man noch bessere Effekte."
Die Motive der heutigen Zeit sind von Künstler zu Künstler sehr unterschiedlich, aber dabei spielt Regionalismus auch eine gewisse Rolle. Allgemein neigen Künstler aus dem Nordteil des chinesischen Festlandes dazu, Alltagsszenen und Theaterfiguren darzustellen, und sie bemühen sich um eine klare Linienführung und unkomplizierte Struktur. Die Künstler in Südchina dagegen bevorzugen Naturmotive -- Tiere, Blumen und Landschaften -- mit komplizierteren Linien und einer zur Steigerung des visuellen Genusses sorgfältig kalkulierten Struktur.
Li Huan-chang begann mit Scherenschnitten, die ihn an seine Heimat erinnerten, kein ungewöhnlicher Anfang für einen von seiner Familie getrennten jungen Mann mit Heimweh. Mit der Zeit veranlasste ihn sein wachsendes Interesse zu Experimenten mit anderen Formen und Bildern. Selbst ein weniger aufmerksamer Beobachter kann die historische Entwicklung der Scherenschnittkunst in seinen Werken wiedererkennen. Seine frühen Arbeiten sind stilistisch relativ einfach, die späteren sind eher kompliziert, enthalten oft Kalligraphieschnitte und erinnern stark an Gemälde. Eines der besten Beispiele dieses Stils ist sein Meisterwerk, eine geschnittene Imitation des von Kaiser Hui (宋徽宗趙吉,1083-1135) in der Nördlichen Song-Dynastie (960-1126) erfundenen Schreibstils mit schlanken, kräftigen Strichen.
Li hat nie eines seiner Werke verkauft, aber häufig Freunden und Bekannten zum Geschenk gemacht. Außerdem hat er sich die angenehme Geste angewöhnt, rasch das Sternzeichen von jemandem auszuschneiden, den er gerade kennen gelernt hat, und der Person den Schnitt dann als Geschenk zu überreichen. Wenigstens ein Mal im Jahr stellt Li seine besten Stücke öffentlich aus. Indem er andere auf diese Weise an seinen Werken teilhaben lässt, erhält er die Genugtuung, die ihm Kraft zum Weitermachen gibt.

Bis jetzt hat Li über tausend Scherenschnitte geschaffen, möchte sie aber nicht gern im Hinblick auf Wert einteilen, denn sie interessieren ihn alle gleichermaßen. " Ich kann lediglich sagen, dass manche Arbeiten mir mehr Können abverlangt haben." Seine fruchtbare Kunstfertigkeit blieb nicht ohne öffentliche Anerkennung: Im Jahre 1991 verlieh ihm der Rat für Kulturangelegenheiten der Republik China (Council for Cultural Affairs, CCA) den Volkskunst-Kulturerbe-Preis, die höchste von der Regierung verliehene Auszeichnung, die ein Volkskünstler bekommen kann.
Li Huan-chang wurde 1989 pensioniert, aber heute hat er mehr zu tun als je zuvor. Über die Scherenschnittkunst gibt es nicht viele Bücher, und diese konzentrieren sich überwiegend auf Schnittmuster. Lis größter Wunsch besteht darin, mit einem umfassenden Buch über die historische und technische Entwicklung der Kunstform diese Lücke zu überbrücken, und dazu hat er seine Forschung in den letzten Jahren ausgeweitet. Wenn Li heutzutage nicht gerade sein Können irgendwo vorführt, besucht er wahrscheinlich die Nationalbibliothek oder Ausstellungen in der Sun Yat-sen-Gedächtnishalle oder der Chiang Kai-shek-Gedächtnishalle, um mehr über Scherenschnitt, die Werkzeuge und sogar den Ursprung von Papier zu lernen. "Ich habe zehn Jahre gebraucht, um all das betreffende Material in der Nationalbibliothek zu kopieren", behauptet er.
Im Laufe seiner Suche nach mehr Informationen über die Kunst des Papierschneidens reiste Li mehrmals aufs chinesische Festland. Während diesen Reisen sammelte er eine riesige Menge von Schnitten und fotografierte auch einige schöne Arbeiten. Er stellte außerdem Kontakt zu mehreren älteren Damen her, die das Kunsthandwerk heute noch ausüben. "Die ältesten bisher gefundenen Scherenschnitte befanden sich in einem Grab in Turfan, Provinz Xinjiang, und sie stellen zwei Affen und mehrere Pferde dar", doziert Li.
Lis Wohnzimmer und Atelier sind vollgestopft mit Arbeiten und Materialien, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Es gibt keine freie Ecke, und manche Stapel türmen sich bis zur Decke. Trotz dieses Chaos findet Li jederzeit gleich alles, was er gerade sucht. Obwohl Li nicht mehr der Jüngste ist, sitzt er immer noch gern am Fenster und arbeitet so lange, wie er Lust hat. Wundersamerweise ist seine Sehkraft nach wie vor so scharf, dass er keine Brille benötigt. Gute Augen und ruhige Hände sind beim Papierschneiden unentbehrlich, denn nach Lis Worten müssen gute Arbeiten, egal ob einfach oder kompliziert, glatte Linien haben. "Genauigkeit und Stärke sind daher ein Muss."
Als wortkarger Mann drückt Li seine Gedanken und Gefühle am liebsten mit seiner Arbeit aus. Li Huan-chang hat einen langen Weg hinter sich, seit er das erste Mal einen Bogen Papier und eine Schere in die Hand nahm, aber der Geist des enthusiastischen Kindes, das vor so vielen Jahren den Frauen in Linyi bei ihren Kalligraphien und Scherenschnitten zur Hand ging, bleibt ungedämpft.