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Taiwan Today

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Zarte Blüte im Meer

01.11.2001
Touristen, die zum ersten Mal Lanyu besuchen, wird eine Wanderung rund um die Insel empfohlen. Lanyu ist aber auch zum Schnorcheln oder Fischen eine Reise wert.

Zur Morgendämmerung erscheint die Sonne gemächlich am Horizont und beleuchtet sanft die an der Ostküste der Orchideeninsel gelegene Tungching-Bucht. Nach einem tiefen Schlummer unterm Sternenzelt erwachen die Berge und Hügel zum Leben. Das Kikeriki der Hähne kündigt menschliche Geschäftigkeit an. Einige der Dorfbewohner, die in ihren offenen Pavillons genächtigt haben, beginnen sich zu regen, während andere noch liegen bleiben und die morgendliche Brise genießen. Ein Motorboot tuckert übers Wasser und verschwindet in der Ferne.

Das Boot scheint indes ein wenig fehl am Platz in der Atmosphäre dieser traditionellen Insel, die vom Volk der Tao(達悟人) bewohnt wird, einem der neun Ureinwohnerstämme der Republik China, in Taiwan und anderswo eher unter der Bezeichnung “Yami”(雅美) bekannt. Im einheimischen Idiom bedeutet “tao” soviel wie “Mensch”, und der Stamm kommt ursprünglich wahrscheinlich aus dem Norden der Philippinen und benutzt zum Fischen traditionell handgeschnitzte Kanus. “Die jüngeren Leute benutzen zum Fangen der fliegenden Fische eher Motorboote”, verrät Huang Ah-chung, gebürtiger Yami und Gemeindebeamter. “Als wir früher noch die Kanus verwendeten, war der Fischfang sehr viel mühsamer.”

Die Orchideeninsel, auf Chinesisch Lanyu(蘭嶼) , hat ihren Namen von den dort wachsenden exotischen Blumen. Lanyu liegt 44 Seemeilen (81,5 Kilometer) vor Taiwans Südostküste und bedeckt eine Fläche von 45 Quadratkilometern. Das Land und seine Bewohner erfuhren im Laufe der Jahre große Veränderungen, denn moderne Annehmlichkeiten haben allmählich alle traditionellen Lebensbereiche durchdrungen. Viele Touristen, die gerne einmal einen Blick auf “das Yami-Leben” werfen würden, sind sicher enttäuscht, dass traditionelle Kleidung wie die T-förmigen Lendenschurze lediglich noch von ein paar Greisen regelmäßig getragen werden. Volle traditionelle Trachten werden nur noch zu besonderen Feiertagen und Ritualen angelegt, die von den Menschen weiterhin begangen werden.

Der han-chinesische Einfluss auf die lokale Kultur ist zwar nicht zu übersehen, aber einige natürliche Reize blieben unverändert. Die vulkanische Insel beeindruckt viele Besucher mit ihren unberührten Bergen, deren Hänge bis zum Meer hinabreichen. Die 38 Kilometer lange Straße, die die sechs Siedlungen der Insel mit ihren 3000 Einwohnern miteinander verbindet, bietet die Gelegenheit für eine atemberaubende Mopedtour. “Auf der Insel laufen Schweine, Ziegen und Hühner frei rum”, beschreibt Wei Hsiu-chen, eine Touristin aus Taipeh. “Das wirkt so natürlich.”

Die von Korallenriffen umgebene Insel ist außerdem ein guter Ort zum Schnorcheln. “Unter Wasser ist die Sicht hier ausgezeichnet, und wegen der steilen Klippen und großen Höhlen macht es auch Spaß, die Gegend zu erkunden”, schwärmt der Schnorchellehrer Chou I-chung, der das Schnorchel-Niveau auf Lanyu mit Palau vergleicht, einer Inselgruppe im Westpazifik. Für interessierte Gäste organisieren die meisten Hotels und Gästehäuser halbtägige Schnorchelausflüge.

Große Anziehungskraft üben auch die frischen und überall erhältlichen Meeresfrüchte auf die Besucher der Insel aus. Der andernorts als Delikatesse geltende Hummer ist in Lanyu etwas relativ Normales, und von den Hotels engagierte einheimische Taucher fangen auf Bestellung der Gäste die Krustentiere. Die lokalen Meeresfrüchte sind schon unwiderstehlich, doch noch mehr angetan war Wu Hsien-chang aus Chiayi während seines dreitägigen Besuches auf dem Eiland von der Yami-Gastfreundschaft. Besonders eine Übernachtung im Freien hat ihm Spaß gemacht. “Die Luft ist so rein und die Sterne so hell.” Bei einer Wanderung konnte Wu sich aus erster Hand von den Reizen der Insel überzeugen, und er appelliert an die Behörden, die natürliche Schönheit der Insel zu bewahren. “Es wäre am besten, die Insel so zu lassen, wie sie jetzt ist, und sie nicht weiter zu entwickeln.”

Wus Ängste vor einer übermäßigen Entwicklung Lanyus sind vielleicht übertrieben, denn wegen der begrenzten Zugänglichkeit für große Touristenzahlen bleibt die Insel immer noch relativ isoliert. Eine Schiffspassage von der osttaiwanischen Hafenstadt Taitung dauert rund dreieinhalb Stunden, und nur wenige Boote befahren die Route regelmäßig. Lediglich eine Fluggesellschaft fliegt Lanyu von Taitung aus zehn Mal täglich in der Hauptsaison (Mai bis September) an, in eine Maschine passen dabei nicht mehr als 20 Passagiere. Der Flugverkehr zu diesem unberührten Fleckchen Erde bleibt jedoch schwer berechenbar. “Selbst wenn man schon in Sichtweite des Flugplatzes ist, muss man vielleicht wegen des wechselhaften Wetters doch noch im letzten Moment abdrehen”, seufzt der Angler Chung Chin-hung aus Taitung, der Lanyu regelmäßig besucht. Bei seiner letzten Reise erreichten zwei Flüge nicht das Ziel -- der erste Flug wurde wegen starken Windes gestrichen, und das zweite Mal musste die Maschine wegen plötzlich einsetzendem Regen umkehren.

Nicht allzu selten stattfindende Artillerieübungen der Armee an Taiwans Südostküste haben auch schon zur Annullierung von Flügen geführt. “Dieser unzuverlässige Flugservice kann Reisepläne über den Haufen werfen, und das hat natürlich negative Auswirkungen auf Lanyus Fremdenverkehr”, klagt Chou I-chung, der eines der beiden Hotels der Insel betreibt. Auch die Kosten spielen eine Rolle: Ein Hin- und Rückflugticket von Taipeh nach Lanyu via Taitung kostet immerhin rund 5800 NT$ (175 Euro). “Das ist ganz schön happig, besonders für Studierende”, kritisiert Wei Hsiu-chen. “Für nur wenig mehr bekommt man schon Tickets nach Hongkong oder Thailand.”

Wer zum ersten Mal nach Lanyu kommt, ist sicherlich von der Schönheit der Natur und der Yami-Kultur beeindruckt, aber in den Augen von häufigeren Besuchern sind die Reize der Insel im Laufe der Jahre etwas verblasst. Chung Chin-hung, der Lanyu zum ersten Mal vor zehn Jahren besuchte, findet die Insel bei jedem Besuch weniger attraktiv. “Diese neuen Betonklötze sind planlos hingesetzt worden”, enthüllt er. “Sie wirken total fehl am Platze. Ich frage mich, wieso die Regierung nicht irgendeinen Bebauungsplan aufgestellt hat, der die einzigartigen Aspekte der lokalen Kultur hervorhebt.”

Die traditionellen Holzhäuser der Yami wurden teilweise unter der Erdoberfläche gebaut. Von 1966 bis 1977 propagierte die Regierung einen Eigenheim-Entwicklungsplan, nach dem die alten Behausungen abgerissen und ihre Fundamente für neue Gebäude gefüllt wurden. Doch wegen mangelhafter Baumaterialien -- namentlich Seesand -- mussten auch die neuen Häuser bald wieder abgerissen werden. Heute bietet die Regierung den Bewohnern Zuschüsse für den Bau neuer Häuser an, die aufgrund ihrer individuellen Spezifikationen errichtet werden. Die von Chung beschriebenen Betonklötze sind das Ergebnis der jüngsten Bemühungen, den Yami angemessene Wohnstätten zur Verfügung zu stellen. “Man kann Lanyu unmöglich von der Zivilisation und den damit zusammenhängenden besseren Lebensbedingungen abkoppeln, aber man muss ebenfalls gut durchdachte Pläne ersinnen, mit denen man die ursprüngliche Schönheit der Insel bewahren kann”, empfiehlt Chou I-chung.

Allerdings darf man auch nicht die ganze Schuld der Regierung in die Schuhe schieben. Laut Lin Yi-yeh, stellvertretendem Direktor der Nationalparkabteilung in der Bau- und Planungsverwaltung des Innenministeriums, brachte die Zentralregierung im Jahre 1985 einen Vorschlag auf den Tisch, Lanyu zum geschützten Nationalpark zu erklären. Von 1988 bis 1993 warb die Regierung um Unterstützung für den Plan, indem sie den Bewohnern mehrere Beihilfen und einen Haushalt von 80 Millionen NT$ (nach heutigem Umtauschkurs 2,4 Millionen Euro) zur Verbesserung der Lebensbedingungen anbot. “Die Einheimischen lehnten es jedoch ab, ihr Land zum Nationalpark erklären zu lassen, vor allem weil sie der Regierung nicht über den Weg trauten”, erinnert sich Lin.

Das Misstrauen rührt zum Teil auch von der Entscheidung der Regierung her, der staatlichen Stromgesellschaft Taiwan Power Co. (Taipower) die Lagerung von Atommüll auf Lanyu zu erlauben; die ersten Fässer mit dem brisanten Inhalt trafen 1982 auf der Insel ein. Zwar sind bisher keine Zwischenfälle mit radioaktiver Verseuchung bekannt geworden, aber die Versendung des unerwünschten Materials wurde von den Einheimischen auf Lanyu als bezeichnend für die Einstellung der Regierung ihnen und der Insel gegenüber empfunden. Wegen der anhaltenden und manchmal auch gewalttätigen Proteste gegen die Lagerung beschloss die Regierung, die Verschiffung der strahlenden Abfälle nach Lanyu im Jahre 2002 zu beenden und das Zeug danach woanders abzuladen. “Das glaube ich denen aber nicht”, kommentiert Chou I-chung das Versprechen der Regierung. “Sie sagen uns mal wieder nur, was wir hören wollen.”

Chou befürwortet die Umwandlung der Insel in einen Nationalpark und ist der Ansicht, die Regierung sollte bei der Kommunikation mit den Menschen in Lanyu mehr Geduld üben. “Die Regierung hat kein echtes Interesse an der Zukunft der Insel gezeigt”, behauptet er. “Sie hat sich sehr bemüht, die Yami zu überzeugen, dass der Atommüll hier bleiben muss. Wenn sie sich genau so angestrengt hätte, die Leute von der Idee des Nationalparks zu überzeugen, dann hätte sie das meiner Ansicht nach auch geschafft.” Das Misstrauen gegenüber der Regierung hat dazu geführt, dass die Yami sich gegen alle von der Regierung unterstützten Vorschläge wehren. “Der Nationalpark-Plan und die Sache mit dem Atommüll waren zwei Paar Schuhe”, meint Lin Yi-yeh. “Die Einheimischen sollten gegen Taipower protestieren, nicht gegen die geistigen Väter der Nationalparkidee. Wir haben versucht, sie zu überzeugen, aber wir sind am Ende gescheitert.” Die Pläne zur Umwandlung Lanyus in einen Nationalpark liegen bis auf weiteres auf Eis und werden wohl auch nicht mehr reaktiviert werden.

Der Mangel an Vertrauen und gegenseitigem Verständnis zwischen den einheimischen Yami und Außenstehenden ist angesichts der geografischen Isolation der Insel nicht ungewöhnlich. Besucher werden angewiesen, Einheimische nicht ohne deren Erlaubnis zu fotografieren. Es gab schon häufig Streit zwischen Einheimischen und Touristen, weil die Einheimischen das willkürliche Fotografieren der Touristen als respektlos empfanden. Der Yehyin-Stamm(野銀) an der Ostküste der Insel ist Außenstehenden gegenüber besonders empfindlich. Für Touristen ist die Gegend reizvoll, weil noch ein paar traditionelle Tiefparterre-Häuser dort stehen, aber die Bewohner der Siedlung lehnen diese Neugier ab.

“Manche taiwanische Touristen knipsen einfach gern, interessieren sich aber nicht wirklich für die Orte, die sie besuchen”, geißelt der englische Student Andrew Limond, der Forschungen über die Yami-Kultur durchführt. “Anscheinend blicken sie sogar auf die Ureinwohner herab.” Su Jui-ching, ein Yami-Reiseleiter, stimmt dem zu. “Es kommen einige Tagesausflügler her, aber zumindest was mich betrifft, brauchen wir die nicht. Sie lernen überhaupt nichts von der Reise und erzählen dann, es gäbe auf der Insel nichts zu sehen.” In den Augen von Su sollte eine Reise auf der Insel mehr enthalten als einfach nur eine Straßenrundfahrt, und für einen tieferen Einblick in Lanyu empfiehlt er eine dreistündige Tour mit Führer zum Tien Chih, einem bekannten See auf einer Bergkuppe. Dort kann der Besucher einen näheren Blick auf die einheimische Flora werfen und auch das Holz sehen, mit dem die Yami ihre Kanus und unterirdischen Häuser bauen. Seiner Meinung nach würde eine solche Informationstour Interesse wecken und mehr Besucher anlocken.

Der Hotelier Chou I-chung teilt Sus Optimismus für Lanyus Fremdenverkehr nicht, vor allem weil die Regierung sich heraushält. Die ebenfalls vor Taiwans Südostküste gelegene Grüne Insel hat demgegenüber einen blühenden Tourismus entwickelt, nachdem sie 1999 in das Nationale Landschaftsgebiet Ostküste aufgenommen worden war. Im Gegensatz dazu schätzt Chou die Belegung seines Hotels selbst in der Hochsaison auf nur zehn Prozent.

Angesichts der mangelnden Zusammenarbeit zwischen den Yami und der Zentralregierung könnte eine passende Lösung in Selbstverwaltung liegen. Die Frage der Selbstbestimmung der Ureinwohner war von Präsident Chen Shui-bian(陳水扁) während des Präsidentschaftswahlkampfes im Jahr 2000 ins Gespräch gebracht worden. Wegen ihrer Isolation sind die Yami der naheliegendste Kandidat für die Verwirklichung eines solchen Vorschlags. Sie wären dann für alle Aspekte ihres Lebens außer Landesverteidigung und diplomatische Angelegenheiten selbst verantwortlich. Nach Aussage des Gemeindebeamten Huang Ah-chung findet der Vorschlag bei den Yami jedoch keine Unterstützung. “Die meisten von ihnen sind keine Intellektuellen”, weiß er. “Sie äußern sich nicht zu dieser Frage, weil sie nicht wissen, worum es bei Selbstverwaltung geht. Ein paar von ihnen haben höhere Bildung, aber ihrer Ansicht nach sollte Lanyu nicht autonom sein, bevor die Bewohner sich selbst versorgen können, was bislang nicht der Fall ist.”

Ohne solide Unterstützung der Regierung oder eine klare Zielsetzung der Bewohner bleibt die weitere Entwicklung von Lanyu als Touristenziel zweifelhaft. Für Chou I-chung steht aber außer Frage, dass die Zukunft der Insel vom Fremdenverkehr abhängt. “Ich kann mir nicht vorstellen, dass die jüngere Generation der Yami die Traditionen fortsetzt, Taro und Yams [Hauptgrundnahrungsmittel der Einheimischen] anzubauen und fliegende Fische zu fangen”, spekuliert er. “Wir müssen uns auf den Tourismus stützen. Das sollte unsere Zukunft sein. Meiner Ansicht nach ist das den Leuten hier schon bewusst, deswegen werden auch mehr Gästehäuser gebaut.”

Es wäre aber ein Fehler anzunehmen, dass die Entwicklung des Tourismus alle Probleme lösen kann. Eine Zunahme des Einflusses von außen und ein stärkerer Zustrom von Touristen könnte die Kultur der Insel weiter verwässern und der empfindlichen Schönheit der Natur Schaden zufügen. “Ich halte unsere jetzigen Touristenzahlen für ausreichend”, urteilt Su Jui-ching. “Bei dieser Quote können wir die natürliche Umwelt hier weiterhin schützen. Es reisen bereits zu viele Touristen zum Schnorcheln zur Grünen Insel, sie schaden den dortigen Korallenriffen. Ich frage mich, ob der Fremdenverkehr dort von Dauer sein wird.”

Sollte Lanyu isoliert bleiben oder Touristen willkommen heißen? Während die Bewohner über die Optionen nachdenken, könnten man vielleicht etwas von der Geschichte der gehörnten Eule lernen, die traditionell als böser Geist verachtet wurde. Huang Ah-chung erinnert sich, die Eulen als Kind in der Nähe seines Dorfes gesehen zu haben. Damals hatten die Yami -Kinder vor dem nächtlichen Rufen der Eulen Angst, doch heute fürchtet sich kein Dreikäsehoch mehr davor. “Nachdem wir elektrische Lampen zu verwenden begannen, haben die gehörnten Eulen sich tief in die Berge zurückgezogen”, erzählt Huang. “Die Dörfer sind nun zu hell für sie.” Je weiter die Bequemlichkeiten der modernen Zivilisation auf der Insel eingeführt werden, desto weiter scheint die Natur sich zurückzuziehen.

Das Eindringen in die traditionelle Lebensweise der Insel ist angesichts der Entwicklung der heutigen Gesellschaft unvermeidlich. Lanyu und seine Bewohner müssen auf dem Pfad des Fortschrittes weitergehen, aber ebenso wichtig ist es, die ursprüngliche Integrität von Land und Kultur zum Wohle des Natur- und Kulturerbes der Menschen und ihrer Zukunft -- die vom Tourismus profitieren könnte -- zu bewahren. Bei dem Entwicklungsprozess muss unbedingt eine Balance gehalten werden. Diese Balance kann sowohl die Einheimischen ernähren, die dabei ihren Stolz auf ihre Lebensweise erhalten wollen, als auch den Touristen nützen, die unterm nächtlichen Sternenzelt die frische Luft genießen möchten.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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