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Die Atayal von Wulai: Eine Kultur im Umbruch

28.10.2003
Die Atayal waren die Ersten, die sich in Wulai niederließen. Das Bergdorf hat sich viel von seiner Ureinwohneratmosphäre erhalten und ist daher ein beliebtes Ausflugsziel.

Das Atayal-Volk, einer von Taiwans 11 Ureinwohnerstämmen, sucht in dem Gebirgsstädtchen Wulai nach einem Gleichgewicht zwischen kulturellen Traditionen und den Anforderungen der modernen Wirtschaft -- mit Unterstützung der Regierung der Republik China.

Als vor langer Zeit Fischer vom Ureinwohnerstamm der Atayal(泰雅族) einen Bergfluss in Nordtaiwan aufwärts bis etwa 30 Kilometer südlich der heutigen Inselhauptstadt Taipeh fuhren, stießen sie auf eine dichte Dampfwolke in der Luft. "Wu lai ga lu", riefen sie, zu Deutsch: "Eine heiße Quelle!" Bei diesem Namen blieb es, und die Atayal waren die ersten Menschen, die sich in Wulai(烏來) niederließen.

Die in einer rauen Bergregion gelegene Ortschaft Wulai ist bekannt für ihre gewundenen Straßen, Wasserfälle, eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt und natürlich die heißen Quellen. Tagesausflüge zur unberührten Wildnis von Wulai sind bei den Stadtbewohnern Taipehs heute sehr beliebt.

Eine umstrittenere Attraktion sind die Atayal selber und die Überreste ihrer Kultur. Totempfähle und andere heilige Ornamente der Atayal locken Touristen an, und die Hotels und Restaurants der Gegend sind in einem Pseudo-Ureinwohnerstil gestaltet, durch den die Gäste etwas von dem Atayal-Flair spüren sollen. In der Old Street in Wulai reiht sich ein Souvenirgeschäft mit Ureinwohner-Kunsthandwerk an das Nächste, und in den zahlreichen kleinen Restaurants dort werden Ureinwohnerspezialitäten serviert, etwa Klebereis in Bambusröhren à la Atayal, in Reiswein mariniertes Fleisch auf Stein gegrillt, Betelnuss-Blütensuppe sowie machi , ein beliebter Ureinwohnernachtisch aus Hirsemehl und gefüllt mit einer Paste aus roten Bohnen, Erdnüssen oder Sesam. Und das nahe gelegene Wulai-Ureinwohnerkulturdorf bietet Ureinwohner-Tanzvorführungen, Ausstellungen kultureller Objekte und Kunsthandwerkverkauf.

Der Erfolg von Wulai als Touristenmagnet hat die Erhaltung der kulturellen Traditionen der Atayal indes noch erschwert. "Im Laufe der Modernisierung hat Wulai beachtliche Fortschritte gemacht", beobachtet der 43-jährige Chien Mu-sheng, Vorsitzender des Ureinwohner-Entwicklungsverbandes der Gemeinde Wulai (Aboriginal Development Association of Wulai Township , ADAWT). "Das Kulturerbe der Atayal hat dagegen erheblich gelitten."

Heute erhalten die Atayal von der Zentralregierung Hilfe bei der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen der Entwicklung örtlicher Gewerbe wie Fremdenverkehr und der Bewahrung des Ureinwohner-Kulturerbes. In dem umfassenden Sechsjahresplan für nationale Entwicklung "Herausforderung 2008" legte der Exekutiv-Yuan 行政院(also der Ministerrat der Republik China) Vorschläge dar, die Taiwan wettbewerbsfähiger machen und das einzigartige Kulturerbe schützen sollen. Von den zehn Hauptdirektiven des Plans bezieht sich der Begriff "neue Heimatstadt- und neue Stämme-Bewegung" direkt auf Vorschläge für die Bewahrung von Ureinwohnersiedlungen in Taiwan und für Versuche, dafür zu sorgen, dass sie nicht vom Wirtschaftswachstum des Landes ausgeschlossen bleiben. Für die Atayal sind die Probleme greifbar genug, denn selbst Geld, das mit der Förderung ihrer eigenen Kultur verdient wurde, fließt oft in die Taschen außenstehender Entwicklungsunternehmer.

Charakteristisch für den Kampf örtlicher Atayal-Geschäftsleute ist die Erfahrung von Chivas Rabu, Inhaberin der kleinen Herberge "Sa Li Ta" (dieser Atayal-Ausdruck bedeutet zu Deutsch: unser Heim). Das 1995 eröffnete kleine Gästehaus mit traditioneller Architektur und Atayal-Küche bietet allgemein etwas Authentischeres als die kommerziellen Hotels. "Es macht mir großen Spaß, bei der Förderung unserer eigenen Kultur helfen und Leute aus verschiedenen Ländern kennen lernen zu können", versichert sie.

Allerdings macht Rabu die Konkurrenz von Hotel- und Feriensiedlungsketten mit dicken Finanzpolstern zu schaffen, die sich im Laufe der Jahre in der Gegend breit machten. "Im Stadtgebiet von Wulai sind luxuriöse Hotels mit heißen Quellen wie Pilze aus dem Boden geschossen, im Vergleich mit denen erscheinen wir minderwertig", klagt sie. "Wir stehen nun entweder vor der Umwandlung in eine höherklassige Einrichtung oder -- auf lange Sicht -- dem Bankrott. Ich habe aber schon meine gesamte Altersversorgung in meinen Laden gesteckt und habe einfach kein Geld mehr für weitere Expansion."

Solche Dilemmas sind nicht selten in den vielen Ureinwohnersied-lungen auf der ganzen Insel, wo die Bewohner auf der einen Seite mühsam ihren Lebensunterhalt bestreiten und auf der anderen Seite ihr Kulturerbe zu bewahren suchen. In mancherlei Hinsicht führen die Ureinwohner diesen Kampf schon seit Jahrhunderten. Die Ureinwohner sind die frühesten Bewohner der Insel -- es wird vermutet, dass sie vor über 6000 Jahren auf Taiwan eintrafen. Seit dem Beginn der chinesischen Besiedlung der Insel sank der Anteil der Ureinwohner an der Bevölkerung Taiwans jedoch auf unter zwei Prozent.

Selbst in Wulai, einem "Atayal-Dorf", sind nur etwa 2000 von 7000 Bürgern Ureinwohner, und die meisten Beamten der Stadtverwaltung sind ethnisch Chinesen. Außerdem besuchen die meisten Touristen Wulai, um in den heißen Quellen zu baden, einzukaufen oder essen zu gehen, und die betreffenden Betriebe gehören zum großen Teil Nicht-Ureinwohnern. Tatsächlich profitieren die meisten Ureinwohner in Wulai nicht besonders von der wachsenden Beliebtheit des Ortes als Touristenzentrum und führen immer noch ein recht hartes Leben.

Die "neue Heimatstadt- und neue Stämme-Bewegung" der Regierung soll diesen Trend umkehren. Mit einem geplanten Budget von 7,3 Milliarden NT$ (192,1 Millionen Euro) allein für das Jahr 2003 wird das Projekt in 55 Ureinwohnergemeinden in 12 Landkreisen der Insel in die Praxis umgesetzt.

"Das Projekt hat den Aufbau einer selbsttragenden Wirtschaft für die Ureinwohnerstämme zum Ziel, und dazu hilft man ihnen, in den Stammesgemeinden Gewerbe zu entwickeln", erläutert Wang Chiu-I, Leiter der Bildungs- und Kulturabteilung im Rat für Ureinwohnerangelegenheiten (Council of Indigenous Peoples , CIP) im Ministerrat der Republik China. "Wir hoffen, dass die Ureinwohner durch eine allgemeine Verbesserung ihres wirtschaftlichen Umfeldes sowie der Lebens-, Bildungs- und Beschäftigungsbedingungen ein stabiles Leben führen und gleichzeitig ihre Stammeskultur bewahren und fördern können."

Laut Wang will die Regierung den Ureinwohnern bei der Entwicklung von Gewerben oder Geschäften mit lokalen oder traditionellen Merkmalen helfen, etwa Kräuterfarmen, traditionelle Kunsthandwerkstudios und Herbergen. Der Fremdenverkehr wird ebenfalls eine Rolle spielen, doch Pläne für Tourismusaktivitäten können auch mit der lokalen Kultur verbunden werden.

Jedes Jahr nach der Getreideernte im Juli und August ist es bei den Atayal beispielsweise Brauch, Rituale zum Dank an die Geister der Ahnen abzuhalten. Dieses Erntefest kann interessant für alle sein, welche die lebende Atayal-Kultur sehen wollen. Außerdem veranstaltet die Verwaltung des Landkreises Taipeh gemeinsam mit dem örtlichen Gemeindebüro und Gemeindeorganisationen während der Kirschblüte im Februar und März ein einmonatiges Festival mit Ureinwohnermusik, Volkstanz, traditionellen Delikatessen, Vorführungen der Webkunst sowie Fotoausstellungen und Dokumentationen mit lokalen Themen.

Die Atayal von Wulai: Eine Kultur im Umbruch

Das neue Interesse an Taiwans Ureinwohnerstämmen hatte zur Folge, dass in manchen öffentlichen Schulen nun auch Ureinwohnersprachen unterrichtet werden.

Um die Atayal zur Diskussion und Dokumentierung ihrer Geschichte zu ermuntern, will die Regierung Anreize zum Aufbau von Studiengruppen, Volkshochschulen, Kulturpflegeklassen und eines Museums für lokale Kunstgegenstände bieten. Außerdem soll die Bildung von Ureinwohner-Fernsehkanälen angeregt und die Menschen zur Teilnahme an der Programmgestaltung aufgefordert werden. Das Hauptziel dieser Bemühungen ist die Wiederbelebung der Kultur, Geschichte und Sprache der Ureinwohner, beteuert Wang.

Zum Ausbau der Verbindungen mit der Außenwelt hilft der CIP bei der Einrichtung von 15 Bibliotheken und Informationszentren in Ureinwohnerdörfern, wo die Bewohner den Gebrauch eines Computers erlernen, Informationen aus dem Internet erhalten und die Möglichkeiten des Fernstudiums nutzen können.

Bildung spielt in dem Programm eine zentrale Rolle. Wenn die Atayal die Früchte der modernen Wirtschaft Taiwans ernten wollen, brauchen sie berufliche Schulung und auch Unterstützung bei der Verbesserung der örtlichen Infrastruktur. "Der Gedanke der Neue Stämme-Bewegung besteht darin, die Ureinwohner zur Ausarbeitung ihrer eigenen Ideen und Strategien für Entwicklung zu befähigen", analysiert Wang. "Nur mit der vollen und aktiven Mitwirkung der Ureinwohner selbst kann eine solche Kampagne den Ureinwohnerdörfern langfristigen Wohlstand bringen."

Allein in Wulai arbeiten bereits acht Verbände an Gemeindeentwicklungsprojekten, und sie begrüßen die Vorschläge der Regierung. Kuo Chin-ming, Vorsitzender des Chungchih-Gemeindeentwicklungsverbandes, weist darauf hin, dass sein Verband seit vergangenem Jahr in Zusammenarbeit mit dem CIP, dem Rat für Kulturangelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA) und dem Rat für Arbeitnehmerfragen (Council of Labor Affairs, CLA) an der Neue Stämme-Bewegung teilnimmt. Dank der staatlichen Zuschüsse konnte sein Verband mehrere Projekte starten, darunter berufliche Schulung sowie den Aufbau von Informationszentren und einer speziellen Website.

Unterdessen versorgt der CLA die Gemeindebewohner mit zeitlich begrenzten Arbeitsgelegenheiten, darunter Säuberung der Umgebung, Verarbeitung von Informationen, Tourismusplanung und Sammeln von Informationen über die Atayal-Kultur.

Laut Kuo war die schwierigste Aufgabe am Anfang, bei den Gemeindemitgliedern Konsens zu bilden sowie Unterstützung und Beteiligung von ihnen zu bekommen. Zu diesem Behufe lud der Verband Professoren in die Gemeinden für Vorträge vor Anwohnern ein, um ihnen die Ziele der Gemeindeerneuerungsprogramme begreiflich zu machen und ihren Rat einzuholen. Kuos Gruppe organisiert zudem Studienreisen zu anderen Ureinwohnerdörfern, um von deren Erfahrungen zu lernen.

Kuo beabsichtigt im kommenden Jahr den Aufbau eines Atayal-Kultur- und Ökologieparks, der ausschließlich von örtlichen Stammesangehörigen betrieben werden und ihnen auch gehören soll. Gemäß seinem Plan soll der Park traditionelle Ureinwohnerhäuser aus Bambus zeigen, Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, Geräte für die Jagd und zur Gesichtstätowierung, dazu andere Exponate wie traditionelle Trachten, Keramik und Schnitzereien. Die Atayal werden auch ihre Handwerkskünste vorführen, örtliche Delikatessen zubereiten und Stammeslieder singen. Souvenirs wie CDs mit Ureinwohnermusik, Armbänder, Ohrringe, bestickte Taschen, Bekleidung, Puppen und Wandschmuck sollen zum Verkauf angeboten werden.

Trotz des kommerziellen Aspekts ist der Park nach Kuos Worten nicht nur für Touristen bestimmt. "Wir möchten den Besuchern einen Eindruck davon verschaffen, wie die primitive Ureinwohnerkultur und die Traditionen einmal aussahen", berichtet er. "Gleichzeitig sollen unsere Nachfahren begreifen, wie unsere Ahnen lebten, damit die jüngeren Generationen ihre Kultur leichter verstehen und sich mit ihrem Erbe identifizieren können."

Nach der Meinung von Chen Sheng-jung, Rektor der Fushan-Grundschule in Wulai, sind die Gemeindeprojekte ein gutes Beispiel dafür, dass auch große Dinge klein anfangen müssen. "In der Vergangenheit haben wir die Entwicklung unserer jeweiligen Heimatorte und Stämme vernachlässigt und uns auf viel größere Dinge konzentriert", rekapituliert er. "Doch erst durch die Entwicklung der verschiedenen Bestandteile kann eine Gesellschaft als ganze gestärkt werden."

Chen findet, dass man für eine höhere Wirksamkeit der Kampagne den Schwerpunkt auf lokaler Ebene auf Erhaltung und Förderung kultureller Rituale und ebenso auf die Ureinwohnersprachen legen sollte. Diese Aufgaben können von den Schulen und Gemeindebildungszentren vor Ort wahrgenommen werden.

Chien Mu-sheng vom ADAWT wiederum weist darauf hin, dass Wulai viel mehr zu bieten hat als nur heiße Quellen oder traditionelles Kunsthandwerk und Naschereien. Nach seinen Worten beschränken viele Besucher ihren Aufenthalt auf den Stadtkern, doch die wahre Schönheit von Wulai könne man etwa vier Kilometer weiter flussaufwärts an einem Ort namens "Puppental" entdecken -- dort gibt es das echte Ureinwohnerleben zu sehen, das nicht als Vorführung für die Touristen gedacht ist. Ein Spaziergang führt durch eine atemberaubende Schlucht mit einem reißenden Fluss am Grund und gewährt Aussichten in üppige, urtümliche Wälder. Die Einheimischen suchen dort oft nach Kräutern für Atayal-Gerichte und für Heilzwecke.

Lange Rede, kurzer Sinn: Die Schätze der Atayal-Kultur befinden sich in der hübschen Verpackung der Landschaft um Wulai -- ein Erbe, das sich wahrhaftig zu erhalten lohnt. "Wir, die Atayal, wurden mit Mut und Optimismus geboren", glaubt Chien. "Trotz der Hindernisse auf unserem Weg werden wir auch weiterhin darum kämpfen, den Geist der Atayal in Wulai am Leben zu erhalten."

(Deutsch von Tilman Aretz)

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