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Auf dem Dachfirst der Welt

28.12.2003
Wu Chin-hsiung, Everest-Bezwinger: "Wenn man sich auf den Aufstieg auf einen Berg von dieser Höhe vorbereitet, darf man nicht an Abkürzungen denken."

Im Mai dieses Jahres feierte die Welt den 50. Jahrestag der Erstbesteigung des Mount Everest. Wenige Wochen vorher hatten auch einige taiwanische Bergsteiger Grund zum Feiern -- zehn Jahre waren vergangen, seit sie den höchsten Berg der Welt bezwungen hatten. Bei dem Abenteuer hatten sie eine Menge über sich selbst gelernt und dazu Taiwan einen Platz auf dem Gipfel der Welt erobert.

In den 39 Jahren nach der Erstbesteigung des Mount Everest durch Edmund P. Hillary und Sherpa Tenzing Norgay am 29. Mai 1953 hatte es nicht ein Bergsteiger aus Taiwan auf den 8848 Meter hohen Gipfel geschafft. Doch am 5. Mai 1993 wurde der Taiwaner Wu Chin-hsiung(吳錦雄) das 499. Mitglied im exklusiven Klub derer, die ihre Fußspuren im Schnee und Eis der einsamen Bergkuppe hinterlassen hatten. Nirgendwo sonst auf der Erde ist man mit den Füßen am Boden dem Himmel so nah.

Der Erfolg von Wu und dem internationalen Bergsteigerteam -- zu dem auch festlandchinesische und tibetische Kletterer gehörten -- war nicht nur ein Pionierabenteuer der taiwanischen Bergsteiger, sondern auch ein seltenes Beispiel der Zusammenarbeit von beiden Seiten der Taiwanstraße, die seit dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges 1949 politisch voneinander getrennt sind. Politik hatte in einer Expedition, bei der das Überleben der Teilnehmer von bedingungslosem Vertrauen zueinander und ungebrochenem Teamgeist abhing, einfach nichts zu suchen.

Als Wu Chin-hsiung den Gipfel erreichte, fühlte er sich, als ob das ganze Team bei ihm sei, denn ohne diejenigen, die ihm während des Aufstiegs Halt und Unterstützung gegeben hatten, hätte er nach eigenen Worten den Gipfel nicht erreichen und für seine Landsleute Geschichte machen können. Unmittelbar vor dem Ziel brach Wu, der mit 43 Jahren älteste Bergsteiger in der Seilschaft, in Tränen aus. "Mein Herz war voller Dankbarkeit gegenüber dem Berg, der Mannschaft, meiner Familie und gegenüber allen, die das möglich gemacht hatten", erinnert er sich. Die Begeisterung ließ jedoch schon nach ein paar Minuten nach, als er daran dachte, dass man "mit dem Erreichen des Gipfels nur die Hälfte der Aufgabe erfüllt" hat. Die Mission würde erst erfolgreich abgeschlossen sein, wenn die gesamte Mannschaft wieder sicher im Basislager auf 5500 Metern Höhe angekommen war.

Für Lee Chun-jung(李淳容), die Initiatorin der taiwanisch-chinesischen Expedition und Führerin der zehnköpfigen Bergsteigermannschaft aus Taiwan, bestand die größte Sorge damals darin, die Kletterer wieder vom Berg herunter zu bekommen. "Wenn ein Bergsteiger erfolgreich den Gipfel erreicht hat, füllt sich sein Herz mit Stolz", weiß sie. Wenn der Bergsteiger sich dann von seinem Triumph mitreißen lässt, kann er leicht die Tatsache vergessen, dass der Abstieg ebenso gefährlich ist wie der Aufstieg. Auf einem tückischen Berg wie dem Everest, der keinen Fehler verzeiht, kann jedes Versäumnis des Bergsteigers tödlich sein -- bis heute liegen auf dem Berg rund 120 tiefgekühlte Leichen von früheren Expeditionen herum. "Die wichtigste Voraussetzung beim Bergsteigen ist Demut", stellt Lee fest. "Hätte unser Bergsteiger auf dem Gipfel das kleinste Zeichen von Hoffart gezeigt, würde ich das Unternehmen als Misserfolg betrachtet haben, denn das hätte bewiesen, dass ich den falschen Mann dafür ausgesucht hätte. Glücklicherweise bewies mir Wu, dass das nicht der Fall war."

Bei diesem Abenteuer war Wu der Held auf dem höchsten Punkt des Mount Everest und Lee die Heldin, welche die Bergsteiger vom Basislager aus unterstützte. Nach ihren Worten erregte der Himalaya ihre Phantasie, als sie 13 Jahre alt war und im Erdkundeunterricht das Gebirge und sein höchster Gipfel behandelt wurden, den die Tibeter Qomolangma(珠穆朗瑪) nennen, das tibetische Wort für "Mutter Gottes des Universums". Von ihrem Vater hatte Lee eine Vorliebe für Freiluftaktivitäten geerbt, und als in den achtziger Jahren bei Taiwans Kletterfreunden Auslandsexpeditionen beliebt zu werden begannen, bestieg sie mehrere über 6000 Meter hohe Berge. Zwar hatte sich damals noch niemand an den Everest herangewagt, doch der Himalaya ließ die Bergsteiger nicht mehr los, und als Lee und Dutzende anderer Bergsteiger (darunter auch Wu Chin -hsiung) einen Kletterverein gründeten, benannten sie ihn nach dem Gebirge ihrer Träume.

Dass die Klubmitglieder ihre Worte über den Himalaya nicht in Taten umsetzen konnten, hatte mehrere Gründe. Zum einen hat Taiwans höchster Berg -- Yushan(玉山) , zu Deutsch Jadeberg, auch unter dem Namen "Mount Morrison" bekannt -- nur eine Höhe von 3952 Metern, so dass taiwanische Bergsteiger auf ihrer Insel kaum Gelegenheit haben, ihre Kletterkünste auf extrem hohen, vereisten Bergen zu erproben. Außerdem machte es die politische Lage zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße einheimischen Bergsteigern schwer, den Himalaya, der sich entlang der chinesisch-nepalesischen Grenze erstreckt, überhaupt zu erreichen. Beispielsweise wurde es im Jahre 1982 einer weiblichen Seilschaft aus Taiwan, der auch Lee angehörte, von Nepals Regierung verboten, vom Basislager in 3800 Metern Höhe aufzubrechen, nachdem das kommunistische Regime in Peking Druck auf das Königreich im Himalaya ausgeübt hatte.

Die Gefahren, den höchsten Berg der Erde zu besteigen, sind zudem beträchtlich. Selbst in niedrigeren Lagen können Erschöpfung, Höhenkrankheit, Lawinen, Unterkühlung oder einfach nur ein leichtsinniger Augenblick den Kletterer das Leben kosten, und Lee kannte die Risiken genau. 1983 hatte sie an einer Expedition zum Mount Bhrigupanth (6772 Meter) in Indien teilgenommen, die zu dem Unternehmen mit den meisten Todesopfern in der Geschichte des taiwanischen Alpinismus werden sollte. Drei Mitglieder der Seilschaft ließen auf dem Berg ihr Leben, und die Begeisterung für Klettertouren im Ausland ließ deutlich nach.

Der Mount Everest ging Lee indes nicht aus dem Kopf. Sie verbrachte zehn Jahre mit dem Sammeln von Spendengeldern und der Vorbereitung einer Tour im Himalaya, ein Vorhaben, das viele einheimische Bergsteiger aus politischen, wirtschaftlichen und technischen Gründen für undurchführbar hielten. Als diese verwegene Bergsteigerin direkt bei den Chinesen vorsprach, war die Überraschung daher groß.

Im Jahre 1988 schickte Lee von San Francisco aus einen Brief mit einem Zeitplan und einem Entwurf ihres Planes nach China. Dass die Chinesen ihre Bitte akzeptierten und sie auf die lange Warteliste der Expeditionen setzten, die sich auf die Besteigung des Mount Everest vorbereiten, kam für sie selbst unerwartet. Nach 1989 wurden die "Gespräche" zwischen Lee und den Chinesen häufiger, und nachdem China erkannt hatte, dass die Bergsteigerin fachlich auf der Höhe war, begann eine taiwanisch-chinesische Expedition Gestalt anzunehmen.

Von den drei möglichen Routen von Tibet aus wählte Lee den so genannten traditionellen Weg, den auch das erste chinesische Expeditionsteam im Jahre 1960 beschritten hatte. Außerdem sammelte sie 10 Millionen NT$ (256 410 Euro) an Spenden und kam damit den Kostenberechnungen aus der Zeit, als sie den Plan entworfen hatte, schon recht nahe. Bis zum anberaumten Abreisedatum im März 1993 trafen sich drei Jahre lang interessierte Bergsteiger regelmäßig jeden Samstag bei Lees Firma I-lun Productions und studierten den Everest.

Die aus rund zehn Personen bestehende Gruppe erforschte jedes Detail des Berges und die Erfahrungen früherer Expeditionen. Weil das Wetter eine Schlüsselrolle spielt, verfolgte die Mannschaft die meteorologische Geschichte des Berges der letzten 15 Jahre. Schon ein Jahr vor dem Beginn der Expedition hatte das Team sich in Tibet mit der grundlegenden Ausrüstung versehen, etwa Sauerstoffflaschen und Brennöfen.

Nach drei Jahren Training und Vorbereitung bildete die Gruppe ein von Lee geführtes Team aus zehn Personen, darunter zwei Zeitungsreporter. "Die wichtigste Voraussetzung für die Aufnahme in die Seilschaft war Teamgeist, dass das Team immer an erster Stelle stand", berichtet Lee. "Körperliche Stärke war demgegenüber zweitrangig." Als das Team am 28. Februar 1993 nach Tibet aufbrach, waren die Mitglieder sich einig, dass das Team vor allem Vorrang hatte, da sie wussten, dass ihr Leben davon abhing.

In Tibet trafen die taiwanischen Bergsteiger mit ihren chinesischen Partnern zusammen. Zu dem elfköpfigen Team aus China gehörten fünf Tibeter und ein Arzt. Der Leiter des chinesischen Teams, Zeng Shusheng, wurde zum Führer der Expedition gewählt. "Der Hauptunterschied zwischen den beiden Seiten war der, dass wir die Reise aus persönlichem Interesse und Ehrgeiz unternahmen, wogegen unsere chinesischen Kameraden Athleten waren, die von ihrem Land für diese Aufgabe ausgewählt worden waren", enthüllt Lee.

Sobald die Mannschaft zusammengestellt war, gab es ungeachtet der jeweiligen Motive nur noch ein Ziel: den Everest zu bezwingen. Das Expeditionsteam richtete eine Satellitenverbindung zur Kommunikation mit dem Basislager auf 5500 Metern Höhe ein, und jedes Mitglied der Seilschaft erhielt ein Funksprechgerät. Bis zum 22. April waren fünf weitere Lager mit Vorräten aufgebaut worden -- auf 6300 Metern, auf 6500 Metern, auf 7028 Metern, auf 7790 Metern und auf 8300 Metern. Das siebte Lager sollte auf 8680 Metern Höhe aufgeschlagen werden, bevor die Kletterer den letzten Vorstoß zum Gipfel auf 8848 Metern Höhe wagen wollten.

Am Berg selbst bekam die monatelang vorbereitete Expedition das gefürchtete wechselhafte Wetter des Mount Everest zu spüren. Am 23. März 1993, zwei Tage nach dem Aufbau des dritten Lagers, wurde das Lager von einem heftigen Sturm heimgesucht, der die Teammitglieder dort zum Abstieg zwang. Wu und seine beiden taiwanischen Kameraden brauchten für den Rückweg zum Basislager 17 Stunden. Zwei Kletterer, einer aus Taiwan und einer aus China, erlitten schwere Frostschäden und mussten das Unternehmen aufgeben, um sich medizinischer Behandlung zu unterziehen. Mehrere andere Bergsteiger waren leicht verletzt.

Die Auswahl der Personen für den letzten Abschnitt vor dem Gipfel ist bei allen Expeditionen schwierig. Der für diesen Abschnitt ursprünglich vorgesehene taiwanische Bergsteiger war Wu Yu-lung, ein Ureinwohner vom Stamm der Bunun, der jünger und schneller als seine Kameraden war. Wu Chin-hsiung war der Ersatzmann für den Gipfelsturm. "Ich war vollkommen einverstanden mit dem Plan, denn allein die Möglichkeit, an diesem historischen Ereignis beteiligt zu sein, war für mich schon denkwürdig", sagt Wu bescheiden. "Außerdem war der Hauptgrund für meine Aufnahme in das Team, zu dem Erfolg der Seilschaft beizutragen, und mit 8300 Metern hatte ich meinen persönlichen Rekord von Klettern in 7500 Metern Höhe schon überboten." Doch im Morgengrauen des 5. Mai 1993 verzichtete Wu Yu-lung auf den bevorstehenden Aufstieg zum Gipfel, da er in der Nacht schlecht geschlafen hatte. Nach kurzer Diskussion und wiederholter Beratung mit Wu Yu-lung bestimmten die Führer im Basislager die Aufnahme von Wu Chin-hsiung in das sechsköpfige Gipfelteam.

Diese Entscheidung quasi in letzter Minute legte dann fest, wie an diesem Tag Geschichte geschrieben wurde. "Auf die Gelegenheit zu verzichten, den Mount Everest zu bezwingen, erfordert viel mehr Mut als den Aufstieg tatsächlich zu wagen", behauptet Wu Chin-hsiung. "Für Bergsteiger aus Taiwan war das im Prinzip eine einmalige Chance, wie man sie im Leben nicht mehr bekommen würde." Auf dem Weg nach oben hatten die Kletterer unter der schneidenden Kälte zu leiden. Fünf von ihnen erlitten Frostschäden verschiedener Grade, so dass bei manchen Zehen oder Teile von Fingern amputiert werden mussten. Wu Chin-hsiung ging es recht gut, doch in der dünnen Luft japste er nach Sauerstoff. Wu war den vier tibetischen Bergsteigern dankbar, die ohne zusätzlichen Sauerstoff kletterten, so dass er und sein chinesischer Kamerad genug Sauerstoff für den abschließenden Aufstieg hatten. Schließlich stand Wu auf dem Dach der Welt und pickelte sich dann erschöpft, aber triumphierend den Rückweg durchs Eis ins Basislager. "Wu Chin-hsiung war nicht so schnell, aber dafür sehr stabil", vermerkte Lee.

Die hohen Risiken des Kletterns auf dem Everest -- eine Angelegenheit auf Leben und Tod -- erinnerten Wu Chin-hsiung unablässig an den Ernst dieses Abenteuers und verliehen ihm unterwegs Gelassenheit. Seine Ausgeglichenheit beim Klettern ergab sich aus seiner Erfahrung, seinen Kenntnissen über physische Akklimatisierung in großer Höhe und gründlicher Vorbereitung. "Wenn man sich auf den Aufstieg auf einen Berg von dieser Höhe vorbereitet, darf man nicht an Abkürzungen denken", doziert er. Vor jener Expedition hatte Wu acht Berge über 6100 Meter in Indien, Nepal, Alaska und der chinesischen Provinz Xinjiang bestiegen. Zur Vorbereitung auf den Everest erstieg Wu im Jahr davor den 7583 Meter hohen Mount Changtse, nördlich des Qomolangma.

In der bitteren Kälte des Gipfels auf dem Mount Everest kontrollierte Wu seine Atmung und sein Tempo, um seine Kräftereserven zu schonen, und zum Vermeiden von Erfrierungen bewegte er von Zeit zu Zeit seine Finger und Zehen, während er sich jeden Schritt auf dem potenziell tödlichen Pfad genau überlegte. Zu keinem Zeitpunkt gestattete er sich ein Nachlassen der Konzentration, und er musste seine ganzen Klettererfahrungen zusammennehmen.

Nach Abschluss der Everest-Expedition wurde Wu eingeladen, zwei Vorträge in Beijing und zwölf in ganz Taiwan zu halten. Im gleichen Jahr erschien ein Buch mit einem Dokumentarbericht über die Expedition, und 1997 wurde ein weiteres Buch mit Aufzeichnungen von Wu selbst und einem Reporter als Co-Autor herausgegeben. Die Arbeit an Lees Version über die Himalaya-Expedition ist noch nicht abgeschlossen.

Lee weist darauf hin, dass es beim Bergsteigen um das Ertragen von Entbehrungen geht, und beim Klettern geschlossene Freundschaften sind besonders wertvoll, weil sie ausschließlich aus Rücksichtnahme und Achtgeben auf Andere erwachsen. Lee: "In großer Höhe weitet sich das Herz, weil die weltlichen Angelegenheiten keine Rolle mehr zu spielen scheinen." Wu Chin-hsiung spricht auch von der Faszination, in großer Höhe seinem eigenen Herzschlag zu lauschen. "Diese Stille und Nähe zur Natur findet man sonst nirgends", glaubt er. Wu ist inzwischen ein berufsmäßiger Bergsteiger geworden und schult andere Kletterer für Expeditionen. Lee wiederum hat im Jahr 2000 eine weitere taiwanisch-chinesische Expedition nach China geführt, nämlich auf den 8611 Meter hohen Chogori (auch K2 oder Mount Godwin-Austen genannt) im Karakorum-Gebirge (Provinz Xinjiang, VR China).

Sicherlich wird für Lee und Wu der Mount Everest in ihrer Bergsteigererfahrung von großer Bedeutung bleiben, weil sie damit nicht nur als Bergsteiger einen persönlichen Triumph errangen, sondern auch Taiwaner auf die gleiche Stufe mit Abenteurern aus der ganzen Welt hoben. Seither sind mehrere Bergsteiger aus Taiwan, darunter eine Frau, Wus Beispiel gefolgt und haben -- zumindest zeitweise -- ihre Fußspuren im Schnee auf dem Gipfel des Mount Everest hinterlassen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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