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Der große Kinderfresser und andere Abenteuer

28.02.2004
Nufu, Grafik-Designer vom Stamm der Ami: "Je mehr ich über meinen Stamm weiß, desto unsicherer werde ich mir über meine Aufgabe." (Foto: Chang Su-ching)

Den Menschen in Taiwan sind chinesische und auch viele westliche Mythen und Legenden nicht unbekannt. Doch wie viele Menschen hier haben die Geschichten gehört, die in der taiwanischen Scholle verwurzelt sind?

Ein Verwandlungskünstler kommt in ein ihm unbekanntes Dorf. Er nimmt die Gestalt eines vom Fischen heimkehrenden Ehemannes oder einer stillenden Mutter an, pirscht sich an die Kinder des Dorfes heran und verspeist manchmal ihre Eingeweide, bis nur noch die äußere Hülle eines Kindes übrig ist. Furchterregend und rücksichtslos mit seinen Zauberkräften kann er auch die Angriffe der Krieger des Dorfes abwehren. Man nennt ihn Alikakay, den Kinderfresser.

Nufu, der sich auf Chinesisch Lin Shun-tao(林順道) nennt, wusste bis vor kurzem nur wenig über den Kinderfresserriesen Alikakay. Der gelernte Grafik-Designer vom Stamm der Ami(阿美族) -- Taiwans größter Ureinwohnerstamm -- erhielt 2002 den Auftrag, ein Buch über Legenden und Mythen der Ami zu illustrieren. Über dreißig Jahre, nachdem Nufu als Sechsjähriger seine Heimatstadt Taitung an der Südostküste Taiwans verlassen hatte, machte er sich mit seiner neuen Aufgabe vertraut und entdeckte dabei Alikakay und viele andere Geschichten, die von seinen Ahnen überliefert worden waren. "Ich lebe seit langem ein städtisches Leben in Taipeh", bekennt er. "Ich musste mir von meiner Mutter mehr über diese Legenden und Mythen erzählen lassen."

Viele Ureinwohner wissen mehr über die Legenden und Mythen der Han-Chinesen -- die zahlenmäßig bei weitem größte Volksgruppe in China und Taiwan -- und die aus dem Westen als über ihre eigenen. In der Tat: Die meisten Menschen in Taiwan sind sicherlich eher vertraut mit der Legende der Mondgöttin Chang O(嫦娥) oder sogar mit der griechischen Mythologie der Büchse der Pandora, als mit Alikakay. Doch die Volksgeschichten der Ureinwohner erlangen allmählich größere Verbreitung, so dass sich ein Verleger dazu entschloss, eine Buchserie mit zehn Bänden für Teenager zu schaffen. Einer der Bände wurde von Nufu illustriert. Die bei dem Verlag Third Nature Publishing Co. erschienene Serie wird die wachsenden Kenntnisse der taiwanischen Öffentlichkeit über die Ureinwohnergemeinden der Insel weiter vergrößern.

Ein großer Teil der Serie beruht auf Texten, die von Autoren verschiedener Stämme verfasst wurden. So ist zum Beispiel Alang Manglavan vom Stamm der Bunun(布農), deren Siedlungen normalerweise in den Bergen in Lagen über 1500 Metern liegen, eine wandelnde Schatztruhe der Mythologie seines Volkes. In seiner Jugendzeit war er von den Erzählungen der Stammesältesten hingerissen und entwickelte so eine verzehrende Leidenschaft für die Geschichten der Ahnen. 1983 begann er, die kulturellen Traditionen der Bunun systematisch zu erforschen. Heute ist der 48-Jährige Generaldirektor des Ureinwohneramtes in der Kreisverwaltung Kaohsiung, und er glaubt, dass man solche Texte am besten durch Gespräche mit älteren Stammesmitgliedern erstellen kann.

Der große Kinderfresser und andere Abenteuer

Sun Ta-chuan(孫大川), Planer des Bücherprojektes über Ureinwohnerlegenden: "Die Geschichten erzählen dem Leser, wie die Ureinwohner das Universum sehen und wie sie ein harmonisches Verhältnis mit der Natur geschaffen haben." (Foto: Chang Su-ching)

Sun Ta-chuan, Planer des Projektes und derzeitiger Leiter des Instituts zur Entwicklung der Ureinwohnervölker in der National Dong Hwa University im Kreis Hualien, preistden Reichtum der Informationen, die man aus mündlicher Überlieferung bekommen kann. "Uns fehlen Dokumente aus erster Hand über Taiwans Ureinwohner", bedauert Sun, der selbst dem in Südosttaiwan heimischen Puyuma-Stamm(卑南族/漂馬族) angehört. "Die Japaner haben während der Kolonialzeit (1895-1945) nach Feldstudien zahlreiche Dokumente erstellt, doch davon wurde bislang nur ein Teil übersetzt." Nach Suns Worten wurde das Studium der Ureinwohnerkulturen von Anthropologen dominiert, die in ihren Werken aber zur Anwendung westlicher Theorien und Wiedergabe westlicher Sichtweisen neigen. Im Kontrast dazu haben die Bindungen zu den Ureinwohnergemeinden für ihn einen größeren Wert als die Werke von Anthropologen. Sun bemerkt, dass dieser Ansatz in der entsprechenden Forschung und Literatur eine wesentlichere Rolle spielt, etwa die auf seine Idee zurückgehende Bücherreihe über Ureinwohnermythologie.

Bei den Illustrationen wurde besonderer Wert auf Schlichtheit gelegt, dem Leitprinzip der Reihe. Sun arbeitet am liebsten mit Zeichnern, deren Werke einen ungekünstelten Stil zum Ausdruck bringen. Die meisten dieser Zeichner wie Nufu sind Autodidakten, die Mythen und Legenden mit einfachen, lebhaften Zeichnungen darstellen wollen, in denen das Leben der Ureinwohner realistisch wiedergegeben ist. Für manche Zeichner, die seit Jahrzehnten in einiger Entfernung von ihren Wurzeln leben, stellt das ein Problem dar. "Je mehr ich über meinen Stamm weiß, desto unsicherer werde ich mir über meine Arbeit", gesteht Nufu. Durch die Vorbereitung auf die Aufgabe öffneten sich ihm die Augen dafür, wie das traditionelle Ami-Leben ist.

Jedes Buch der Serie konzentriert sich auf die Legenden eines bestimmten Stammes. Die Väter dieses Projektes wollen indes aber mehr als nur eine Geschichtensammlung schaffen. Die Bücher enthalten Abschnitte über Stammessitten, Rituale und das Lebensumfeld. Ebenfalls vorhanden ist eine Tabelle mit romanisierten wichtigen Wörtern, Phrasen und ganzen Sätzen in Ureinwohnersprachen und der entsprechenden Mandarin-chinesischen Übersetzung. Am Ende jedes Buches befindet sich eine Karte, die dem Leser die traditionellen Siedlungsgebiete des betreffenden Stammes zeigt, dazu historische Stätten und interessante Orte wie nahe gelegene Sehenswürdigkeiten, Museen mit Ureinwohner-Artefakten, ja sogar die Heimat bekannter Ureinwohner-Sänger. Wer die Ureinwohnerkultur tiefer begreifen will, wird die Seiten mit Internetadressen informativ finden.

Sun hofft, dass mit den Büchern ein detailliertes Portrait der Ureinwohnermythologie geboten werden kann. Die Struktur der Bücher wird natürlich besonders von den Schöpfungsmythen bestimmt. Die Atayal(泰雅族) beispielsweise glauben, dass ihre Ahnen aus Steinklippen in der Mitte der Insel hervorkamen. Gleichzeitig kehrt der Gedanke des Umweltschutzes in vielen der Mythen immer wieder. "Die Geschichten erzählen dem Leser, wie die Ureinwohner das Universum sehen und wie sie ein harmonisches Verhältnis mit der Natur geschaffen haben", verrät Sun.

Der immanente Respekt vor der Natur, der in den Ureinwohnermythen zum Vorschein kommt, und die Fähigkeit eines Stammes, im Einklang mit der Umgebung zu leben, bieten ein eindrucksvolles ökologisches Modell für eine moderne Gesellschaft, die ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftsentwicklung und der Erhaltung der Naturschätze anstrebt. Ein Beispiel ist die Legende des langhaarigen Geistes vom Sonne-Mond-See(日月潭), eine Geschichte des Thao-Stammes(邵族), deren Mitglieder überwiegend im zentraltaiwanischen Kreis Nantou leben. Eines Tages begann der Geist namens Taqrahaz mit der Zerstörung der Fischereiausrüstung des Thao-Stammes und verteilte die Gerätschaften über den ganzen See. Ein junger Stammesangehöriger versuchte, das seltsame Wesen zu verscheuchen, doch der Geist warnte den Stamm, eines Tages werde der See leergefischt sein, wenn sie jeden Fisch würden fangen wollen. Daraus lernten die Thao, beim Fischen vernünftiger zu sein und die Fangmenge zu begrenzen.

Doch auch die Geschichten selbst, bei denen der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, verdienen als großer Quell der Kreativität Bewunderung. "Man findet darin viele Dinge wie Berge, Seen und wilde Tiere, an die man im heutigen Stadtleben nicht denkt", weiß Sun.

Wichtiger ist, dass diese Geschichten die Identität von Taiwans Ureinwohnerkulturen fördern sollen. "Mit Lippenbekenntnissen allein wird man die Ureinwohneridentität nicht verbessern können", mahnt Sun. "Sie sollte mit Substanz bereichert werden. Die Menschen mit den Mythen und Legenden der Ureinwohner vertraut zu machen ist nur eine von vielen Strategien." Sun hofft, dass das schriftliche Material gemeinsam mit anderen wichtigen Aspekten des Ureinwohnerlebens wie Tanz, Musik und Bildhauerei das Bewusstsein der Öffentlichkeit für Taiwans Ureinwohnerkulturen erweitern wird.

Robin Winkler, der die englische Übersetzung der Serie besorgte, hat zwar in der jüngsten Zeit eine verstärkte Betonung der Ureinwohnerkultur beobachtet, doch seiner Ansicht nach braucht das Thema noch eine weitaus größere Aufmerksamkeit. "Es gibt positive Anzeichen", lobt er und nennt die neuesten Bemühungen, Ureinwohnersprachen in den öffentlichen Schulen zu unterrichten. "Die Mehrheit der Gesellschaft will die Ureinwohner aber immer noch sozial assimilieren: Sie sollen mehr so sein wie wir; sie sollen fernsehen; sie sollen Mandarin-Chinesisch, Englisch und den taiwanischen Dialekt lernen -- nein, das ist nicht die richtige Methode." Winkler selbst hat immenses Interesse an den Ureinwohnerkulturen und denkt, dass die Bücherreihe die Menschen dazu bringt, die Wichtigkeit der Bewahrung von Ureinwohnerkulturen zu erkennen. Durch die zweisprachige Gestaltung werden die Bücher nach seiner Überzeugung auch im Ausland Leser finden.

Sun Ta-chuan hofft, dass die Bücher dieser Reihe eines Tages auch als Lehrmaterial in den Grund- und Mittelschulen verwendet werden. "Diese Mythen und Legenden eignen sich zudem für dramatische Verarbeitung", regt er an. Tatsächlich kann noch viel mehr getan werden, um die Wertschätzung für die Ureinwohnerkulturen der Insel zu erhöhen, was im Rahmen von Taiwans Bemühungen zum Aufbau einer gesunden pluralistischen Gesellschaft auch ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung wäre. "Alle Kulturen sollten die Freiheit haben, sich selbst auszudrücken", postuliert Alang Manglavan. "Menschen aus verschiedenen Kulturen sollten lernen, die Schönheit der kulturellen Werte von anderen zu schätzen. Dann würden alle Menschen in Taiwan in Harmonie leben."

Die Erhaltung der Mythen und Legenden der Ureinwohner und auch des übrigen Kulturerbes der frühesten Bewohner dieser Insel ist auf dem Weg zu diesem utopischen Ziel sicherlich ein begrüßenswerter Anfang. Und wenn eines Tages Nufu sich leichter seiner Ami-Wurzeln und der Geschichten seiner Ahnen entsinnen kann, ohne dabei die Hilfe von anderen in Anspruch nehmen zu müssen, dann wird man diesem Ziel ein gutes Stück näher gekommen sein.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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