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Das Nachtleben eines Papierfaltmeisters

28.04.2004
Lai Chen-hsiang, Papierfaltkünstler: "Papierfalten ist wie eine Zaubervorstellung, bei der die Dinge transparent werden, sobald man den Trick kennt." (Foto: Chang Su-ching)

Zur Geisterstunde, wenn die Welt ruhig und leise ist, beginnt der Papierfaltmeister Lai Chen-hsiang(賴禎祥) mit der Erschaffung von Objekten von bemerkenswerter Schönheit. Aus toten Papierbögen zaubert er lebendig wirkende Rosenblüten, Teekännchen und sogar menschliche Gestalten.

Unweit des Hauptbahnhofes von Taichung an einer der älteren Straßen der zentraltaiwanischen Stadt befindet sich das 70 Jahre alte Fachgeschäft für Malereibedarf Ching Kuang. In den Regalen lagert ein buntes Sortiment von Farben, verschiedene Malpinsel hängen an Haken, und in jedem Winkel findet man Malereiartikel aller Art. In einer Glasvitrine am Eingang lebt indes eine Miniaturwelt, nicht minder prächtig als die vielen Malfarbtöne in den Regalen.

Im Glaskasten scheint ein Drache wie gefroren in der Zeit, Blumen blühen für die Ewigkeit, und menschliche Skulpturen verharren in winkligen Posen. Wäre nicht ein kleines Schildchen mit der Aufschrift "Chen Hsiang-Papierkunstforschung" dort angebracht, würden Kunden in dem Laden vermutlich kaum bemerken, dass die "Skulpturen" aus gefaltetem Papier bestehen.

Die Papiermenagerie gewährt einen Blick auf das andere Leben des 60-jährigen Ladeninhabers. "Meinen Lebensunterhalt verdiene ich mir mit dem Verkaufen von Farbe, doch mein Leben ist Papierfalten", so bringt es der Ladenbesitzer und Papierfaltkünstler Lai Chen-hsiang auf den Punkt. Das Geschäft ist ein von seinem Vater gegründeter Familienbetrieb, doch Lais Begeisterung fürs Papierfalten entstammt keiner Familientradition. Im Alter von 12 Jahren hatte Lai zum ersten Mal die Miniaturformat-Wunder des Papierfaltens entdeckt, als er auf dem Heimweg von der Schule auf der Straße einen Vogel auflas, der aus einem einzigen Blatt Papier gefaltet worden war. Der Junge verbrachte drei Stunden mit Ent-falten und Zurückfalten, und seit jenem Tag ließ ihn das Papierfalten nicht mehr los.

Lais Enthusiasmus fürs Papierfalten entsprach aber nicht ganz den Plänen der Eltern für ihren Spross. "Weder Papierfalten noch irgendeine andere Kunstform wurden als guter Weg angesehen, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen", erinnert sich Lai. "Eltern wollen nun einmal nicht, dass Kinder damit ihre Zeit vergeuden. Ich musste meinem Vater versprechen, dass das Familiengeschäft immer an erster Stelle käme, erst dann erlaubte er mir, mich mit Origami(折紙) zu befassen."

Lai hielt sein Versprechen. Nach Abschluss der Oberschule und Ableistung des Militärdienstes arbeitete er Vollzeit im Laden, und als sein Vater sich vor über 30 Jahren zur Ruhe setzte, übernahm der Sohn das Geschäft. Neben seiner Arbeit als Ladeninhaber reüssierte Lai auch noch als Zulieferer für Malprojekte. Wie konnte Lai nun seiner Kunst frönen, wo er doch den ganzen Tag durch den Laden in Anspruch genommen ward? Die Antwort ist einfach: Lai wurde zum Nachtfalter.

Wenn Lai sein Tagewerk getan und die Abendmahlzeit eingenommen hat und auch sonst alles erledigt ist, stimmt er sich auf den Abend ein. Zunächst hält er ein etwa zweistündiges Nickerchen zwischen zehn Uhr abends und Mitternacht, und nach dem Erwachen widmet er seine Zeit seiner Leidenschaft. Zum Aufwärmen braut er sich eine gute Kanne Tee, legt Jazz auf und arbeitet bis zum Morgengrauen. Den versäumten Schlaf holt er oft im Laufe des Tages nach. Aus diesem Nachtleben sind Zehntausende von Miniaturarbeiten hervorgegangen.

Die Ursprünge der Papierfaltkunst sind laut Lai nicht belegt. Die meisten Experten und Künstler sind sich aber einig, dass diese Kunstform ungefähr im ersten nachchristlichen Jahrhundert in China entstand, als die Menschen sich mit dem Falten von Papier zu verschiedenen Formen die Zeit vertrieben. Die Kunst breitete sich auch nach Japan aus, wo sie in der Kultur jener Zeit einen angesehenen Platz einnahm. Die Japaner nahmen verschiedene Papierfaltformen und -werke in ihre religiösen Zeremonien auf, wo auch heute noch Origami-Figuren zur Anwendung kommen. Das in der ganzen Welt für Papierfalten bekannte japanische Wort "Origami" besteht aus zwei Teilen, ori und gami, die nichts anderes bedeuten als "falten" und "Papier".

Leider wurde die Kunst in China nicht so erhalten und gefördert, gehegt und gepflegt wie in Japan. In den letzten Jahren sind immerhin ein paar Papierfaltkünstler auf den Plan getreten, und es wurden in chinesischer Sprache mehrere Bücher zu dem Thema veröffentlicht. Wegen der spärlichen Informationen zu Origami auf Chinesisch musste sich Lai zum Erlernen der Kniffe auf sich selbst verlassen und geduldig aus den eigenen Fehlern lernen. Um einen Bogen Papier genau zu den gewünschten Formen und Winkeln falten zu können, verbrachte Lai sogar viel Zeit mit der Erforschung mathematischer Theorien wie der Fibonacci-Zahlenfolge.

Sich durch die verzwickte Geometrie von Origami zu fummeln war vielleicht nicht die effizienteste Methode zum Erlernen der Kunst, doch auf diese Weise konnte Lai einzigartige Techniken entwickeln, die von traditionellen Origami -Künstlern nicht praktiziert werden. Die Japaner etwa verwenden nur quadratische Papierbögen, doch Lai experimentierte mit rechteckigen Blättern verschiedener Art, mit denen er ungewöhnliche Effekte erzielen konnte. Tatsächlich ist das Papierformat eine der wenigen Variablen bei Origami, da der Origami-Künstler das Papier niemals schneidet oder zerreißt. Die Papierskulpturen sind somit einzig und allein das Produkt der Vielfalt und Fantasie seiner Falzen.

Heute benennt Lai bei seiner Papierfaltkunst insgesamt 32 Grundtechniken, mit denen man Papier in eine andere Form bringen kann, darunter quetschen, ziehen, drücken, verdrehen und so weiter. Selbst ohne die Verwendung von Schere und Lineal -- die bei Laien für die Herstellung geometrischer Objekte aus Papier gemeinhin üblichsten Bastelutensilien -- kann Lai eine Unzahl perfekt geformter Formen und Winkel produzieren. Lai vergleicht die Elemente des Origami mit den Bestandteilen eines chinesischen Schriftzeichens. Chinesische Schriftzeichen bestehen aus Zeichenelementen, die von Sinologen "Radikale" (von Lateinisch radix = Wurzel) genannt werden, eine bestimmte Bedeutung oder Aussprache andeuten und in einer ganzen Reihe meist sinnverwandter Wörter auftreten. "Das Falten eines Bogens Papier zur gewünschten Form erfordert eine Kombination verschiedener Fertigkeiten, ebenso wie das Schreiben von Schriftzeichen eine Kombination mehrerer Radikale erfordert", erläutert Lai. "Wenn man das Schreiben von Radikalen beherrscht, wird das Schreiben von Schriftzeichen leicht. Beim Papierfalten gilt das gleiche Prinzip."

Neben der Ausbildung dieser Fertigkeiten experimentierte Lai auch ausgiebig mit unterschiedlichen Materialien. Er probierte so gut wie jede Papiersorte aus, die er in die Finger bekommen konnte, dick, dünn, hart oder weich. Die Größe eines Werkes ist in der Regel entscheidend für die Dicke des dafür benötigten Papiers, und die verschiedenen "Persönlichkeiten" des Papiers geben dem Origami-Künstler eine Vielzahl von Texturen, mit denen er Oberflächen aus Metall, Holz und anderen Materialien nachahmen kann. In den letzten Jahren hat Lai für ungewöhnliche Effekte auch Bögen aus rostfreiem Drahtnetz gefaltet und kombinierte Papier mit Brillen-Drahtgestellen. Die Materialien sind aber immer der leichteste Teil der Arbeit, denn das Werk kann nur der Faltarbeit geschickter Hände eines Origamisten entspringen.

So wie Lai es sieht, besteht der schwierigste Teil seiner Kunst im Entwerfen des Stückes, was normalerweise viel länger dauert als das Falten selbst. Beim Phönixboot beispielsweise brauchte er 18 Monate für den Entwurf und nur vier Monate für das Falten. Erstaunlicherweise schafft Lai die Entwürfe allesamt in seinem Kopf, ohne Zeichnungen oder Blaupausen anzufertigen.

Die Motive von Lais Werken umfassen alle möglichen Themen, von chinesischen historischen Figuren bis zu galaktischen Kriegern, daneben traditionellere Origami-Motive wie Blumen oder Tiere. Seine Inspirationen bezieht er von überall her, auch von Zeichentrickserien im Fernsehen, aus der Natur und dem Alltag. Selbst wenn er bestimmte Themen bearbeitet, gleicht doch keine seiner Kreationen den anderen. "Das Innovative daran macht Spaß", erzählt er. "Wenn ich das wiederholte, was ich früher schon mal gefaltet habe, würde der Spaß dabei verlorengehen." Eine Grundform ist nach seiner Darlegung wie ein Baumstamm, und es gibt zahllose Möglichkeiten für "Äste", aus dem Stamm zu wachsen.

Seit seiner ersten Einzelausstellung im Jahre 1985 wurden Lais Arbeiten in Taiwan sowie mehreren asiatischen Ländern, in Europa und Amerika gezeigt. Seine Werke sind samt und sonders unverkäuflich, und man findet sie auch nicht in Büchern mit Papierfalt-Bastelanleitungen. Viele Menschen, die seine Stücke gesehen haben, drängten ihn, ein Buch über seine Kunst zu schreiben, aber Lai hält die Idee nicht für praktikabel, denn die meisten seiner Kreationen sind so kompliziert, dass man für ein einzelnes Stück schon ein ganzes Buch mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen brauchen würde. "Die Leute wollen ein Buch haben, in dem sie Anleitungen zum Falten von ein paar Dutzend Objekten finden können", glaubt er. "Aber ein Buch für nur ein Objekt? So ein Buch wäre doch nur ein Ladenhüter."

Auf der anderen Seite bringt Lai sein Können bereitwillig anderen bei. Er erteilt Kunstunterricht an Oberschulen, hält Kurse für Kunstlehrer und veranstaltet Vorführungen bei Ausstellungen und Kulturfesten. Doch anstatt Schritt für Schritt ein bestimmtes Objekt zu falten, zeigt Lai lieber ein paar grundlegende Falttechniken, damit Interessierte ihre eigenen Stücke basteln können. "Papierfalten ist wie eine Zaubervorstellung, bei der die Dinge transparent werden, sobald man den Trick kennt", philosophiert er. "Beim Papierfalten gibt es keine festen Regeln, daher kann man herstellen, was man will, sobald man die Grundprinzipien begriffen hat."

Ob bei einer Vorführung vor Schülern oder bei einer Einzelausstellung, "großartig" ist einer der üblichsten Kommentare, die zu Lais Papierfaltkunst abgegeben werden. Der Künstler würde seine Arbeiten selbst dagegen eher "ernsthaft" als großartig nennen. "Ich bin ein ernsthafter Mensch, ich forsche und suche, forsche und versuche und mache weiter, bis es funktioniert", behauptet er. "Das einzige Erfolgsrezept ist, sich ernsthaft zu bemühen." Deshalb begibt sich Lai jede Nacht um zwölf die Treppe hinauf in seine Werkstatt, braut ein gutes Kännchen Tee, legt seinen Lieblingsjazz auf und faltet ernsthaft ein neues Miniaturleben.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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