29.04.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Ab in die Berge

28.08.2004
Tyson O'Young, taiwanischer Bergrettungs-Pionier: "Wenn man es mit jedem einzelnen Leben ernst meint, sollte man die Vorbereitungen für eine Rettung ebenso ernst nehmen." (Foto: Chang Su-ching)

Ein Mann hat es sich zur Bestimmung gemacht, die Ansichten der Taiwaner über die höheren Lagen der Insel zu verändern, und wie man diejenigen retten kann, die sich auf Taiwans zahllosen Bergpfaden verirren.

Tyson O'Young erinnert sich an ein Zeitungsbild, auf dem ein Mann auf einer improvisierten Bahre eilig einen Bergpfad hinabtransportiert wurde. Trotz seiner offensichtlichen Erschöpfung klammerte der Mann sich an die Stange der Bahre, auf der er lag. Dies war nach O'Youngs Worten ein Zeichen dafür, dass der gerettete Mann ebenso große Angst vor etwaiger Unachtsamkeit seiner Retter wie vor den anderen Gefahren des Berges hatte, auf dem er beinahe sein Leben gelassen hätte.

Bei der Rettung von Menschenleben in Taiwans hoch gelegenen Orten hat wahrscheinlich niemand mehr Erfahrung als der 48-jährige O'Young. Seit er vor rund 20 Jahren im Hauptquartier des Nationalparks Yushan, das dem Innenministerium unterstellt ist, zu arbeiten begann, ist er in den Bergen unterwegs. Im Vergleich mit den meisten -- wie er es nennt -- "im Flachland lebenden Han-Chinesen" ist O'Young ein ungewöhnlich erfahrener Bergsteiger, und immer wenn es erforderlich war, bildete er mit örtlichen Ureinwohnern, welche die Bergpfade wie ihre Westentasche kennen, ein Rettungsteam.

Das erregte schließlich Aufmerksamkeit in den Hochschulen, wo er ein bis zwei Mal die Woche vor Mitgliedern der dortigen Bergsteigerklubs zu sprechen begann. Schließlich waren Rettungsaktionen in den Bergen bis dahin trotz Taiwans Topografie meistens riskante Unternehmungen mit unberechenbaren Ergebnissen gewesen. Der Gedanke, dass das trotz seiner Vorträge am Ende wahrscheinlich so bleiben würde, frustrierte O'Young. "Ich fand es schwer, weiterzumachen und den Studenten keine eingehenderen Informationen geben zu können."

Wegen seiner Frustration brach O'Young zu einer Reise auf, die sich als lang und manchmal schwierig erwies und nun erst langsam anfängt, Ergebnisse zu zeitigen.

Erste Station waren die USA, wo O'Young ab 1992 anderthalb Jahre Englischunterricht nahm. Zwar zehrte die Erfahrung einen Großteil seiner Ersparnisse auf, doch war er nun besser auf die Verwirklichung seines Traumes vorbereitet, die Welt der Bergrettung nach Taiwan zu bringen. Station zwei war ein dreimonatiger Aufenthalt in Kanadas Rocky Mountains, nachdem er mehrere Monate in Taiwan verbracht hatte, um sein Bankkonto neu zu füllen. Kanada war ein Wendepunkt. Als er das erste Mal am Unterricht teilnahm, war er sowohl bewegt als auch überrascht, wie streng und doch geduldig die Lehrer mit ihren Schülern waren, wenn sie ihnen beispielsweise die Behandlung von Blasen oder die Errichtung eines Notlagers beibrachten.

"Besonders achtsam waren sie beim Umweltschutz", berichtet O'Young und bekennt, dass ihn im Vergleich dazu die Rückständigkeit der Taiwaner bei ihrer Einstellung den Bergen gegenüber betroffen machte.

Ein Jahr, nachdem O'Young 1993 nach Taiwan zurückgekehrt war, machte er seine eigene Schule auf. Heute melden sich zu jedem seiner beiden Ferienkurse im Sommer und im Winter rund 30 Interessierte an, und mit seinem Unterricht bietet O'Young eine Gelegenheit für Bergerfahrung aus erster Hand. Die Kurse waren ein solcher Erfolg, dass O'Young dieses Jahr im Juni gemeinsam mit vier anderen Erwachsenen und vier Jugendlichen zum Mt. McKinley in Alaska fuhr, dem mit 6194 Metern höchsten Berg in Nordamerika.

Obwohl O'Young durch seine Kanada-Erfahrung und seine Schule nun zur Avantgarde von Taiwans Bergsteigern gehörte, führte ihm das Erdbeben vom 21. September 1999 in Zentraltaiwan, bei dem über 2300 Menschen den Tod fanden, vor Augen, wie viel er und Taiwan noch zu lernen hatten. "Taiwans Such- und Rettungsaktionen waren schlicht ein Chaos", urteilt O'Young nach dem schwersten Erdbeben auf der Insel in über sechzig Jahren. "Wir hatten keine guten Systeme etabliert, und unsere Ausrüstung war minderwertig."

Unterdessen wurde O'Youngs Frustration immer größer, nicht nur als er mit eigenen Augen die Anstrengungen der ausländischen Rettungsteams nach dem Erdbeben 1999 sah, sondern auch als einer seiner Schüler auf dem Mt. Snow(雪山), dem mit 3884 Metern zweithöchsten Berg Taiwans, verschwand. "Zwei Drittel der Insel sind Bergland, aber bei Such- und Rettungsaktionen in den Bergen macht Taiwan keine gute Figur", tadelt er.

Diese Beobachtung führte O'Young zum Bergrettungsverband MRA (Mountain Rescue Association) in Kalifornien. Die 1958 in den Vereinigten Staaten gegründete Organisation schickte 2001 zwei Ausbilder für einen einwöchigen Kursus nach Taiwan, an dem 40 Bergsteiger teilnahmen. In der Folgezeit fanden dann insgesamt sechs solcher Kurse statt. Die Ankunft dieser Experten war nach O'Youngs Worten ein Weckruf. Ihre Professionalität machte den einheimischen Kursteilnehmern klar, dass die Einstellung der an inländischen Rettungsbemühungen Beteiligten stark zu wünschen übrig ließ.

"Es ist leicht, mit sich selbst zufrieden zu sein, aber nach der Begegnung mit einem Weltklasse-Rettungsteam erkennt man, dass man viel besser sein könnte und dass menschliches Leben mehr Respekt verdient", findet O'Young und ergänzt: "Wenn man es mit jedem einzelnen Leben ernst meint, sollte man die Vorbereitungen für eine Rettung ebenso ernst nehmen."

Das ist sicher richtig, aber O'Young erinnert sich immer noch daran, wie viele einheimische freiwillige Rettungsteams eine weitere Schulung zunächst als unnötig abtaten und Angebote zurückwiesen, indem sie nicht ohne Arroganz erklärten, sie wüssten bereits, wie man Leben rettet -- bis der MRA ein solches Team prüfte und das Team nach Suchaktionen nach vermissten Bergsteigern mehrmals mit leeren Händen aus dem Gebirge zurückkam. Allmählich setzte laut O'Young bei den einheimischen Teams ein Sinneswandel ein, und sie sahen ein, dass die ausländischen Experten in der Tat über Kenntnisse verfügten, die zu lernen sich lohnte.

"Die einheimischen Retter sind bescheidener geworden", kommentiert O'Young, und das sollten sie seiner Meinung nach auch sein. Aus seiner Erfahrung durch die Arbeit im Yushan-Nationalpark wird ein Drittel der in den Bergen als vermisst gemeldeten Fälle nicht gefunden, ein weiteres Drittel findet seinen Ausweg selbst.

Immerhin räumt O'Young ein, dass die Dinge sich gebessert haben. Immer mehr Menschen würdigen seine Anstrengungen, auch die Regierung, die ihn dazu aufforderte, das Personal der Nationalen Feuerwehrverwaltung im Innenministerium zu unterrichten. "Nach dem Erdbeben 1999 hat die Regierung bei der Verbesserung ihrer Einstellung und ihrer Ausrüstung Fortschritte gemacht", lobt er. "Der Fortschritt ist jedoch begrenzt. Man muss dringend die freiwilligen Bemühungen im privaten Bereich ausbauen. Deswegen habe ich versucht, die amerikanischen Erfahrungen bei der Bergrettung nach Taiwan zu bringen, weil ich hoffte, damit die Anstrengungen bei der Regierung und den Freiwilligen voranzutreiben."

Es gibt Anzeichen dafür, dass die Arbeit sich zu lohnen beginnt. Als der Spirituosenhersteller Johnnie Walker vergangenes Jahr ein Projekt initiierte, 20 "Traumsucher" in Taiwan zu finden, gewann O'Young den Hauptpreis in Höhe von 2 Millionen NT$ (48 780 Euro), womit er seine finanziellen Belastungen erheblich mindern konnte.

Unterdessen ging O'Young bei seinen Bemühungen zur Verbesserung der taiwanischen Bergrettung noch einen Schritt weiter. Seit diesem Jahr lädt er Mitglieder der US-amerikanischen Vereinigung für professionelle Wildnis-Notfallmedizin WMA (Wilderness Medical Associates) zur Schulung einheimischer Retter nach Taiwan ein, und er hofft, dass etwa die Hälfte der 40 Kursteilnehmer binnen zwei Jahren lizensierte Bergrettungs-Profis werden. Diese wiederum würden dann die nächste Generation von Rettern ausbilden können.

Nicht alle sind so optimistisch. Chang Chih-jung, Führer einer freiwilligen Rettungstruppe in Zentraltaiwan, bereitet der Umstand Sorge, dass nur wenige junge Leute bereit sind, die Mühsal von Bergrettungsaktionen auf sich zu nehmen. "Um ein guter Retter zu sein, braucht man professionelle Expertise, und man muss damit rechnen, viel Zeit in den Bergen zu verbringen", stellt er fest. "Wenn die jungen Leute das hören, verlieren sie oft das Interesse, denn sie hocken lieber daheim vor dem Computer."

Es sind nicht nur die Entbehrungen, welche die jungen Leute abschrecken, meint Chang, der O'Youngs Schulungsprogramm absolvierte, sondern die Auffassung, dass Bergrettung gefährlich sein kann. O'Young hält dagegen, dass das mit der richtigen Ausbildung nicht der Fall sei, doch auch er gibt zu: "Keine Versicherung ist bereit, unser Leben zu versichern."

O'Youngs Antwort auf dieses Dilemma besteht im Aufbau eines professionellen Kernteams, das ein Freiwilligen-Netzwerk beaufsichtigt. Noch in diesem Jahr will er einen Bergrettungsverband gründen und damit Geldmittel auftreiben, so dass 10 Vollzeit-Profiretter eingestellt werden können. O'Young beeilt sich jedoch hinzuzufügen: "Wir wollen mit der Rettung von Menschen kein Geld verdienen, das widerspräche dem Geist der Freiwilligenarbeit."

Für O'Young ist in den Bergen kein Platz für Menschen, die nach Profit, Ruhm oder Ehre suchen. Wenn die potenziellen Schüler nicht von einer Liebe zu den Bergen und der Sehnsucht, sie so sicher wie möglich zu machen, angetrieben werden, lehnt er sie ab.

Zum Glück ist das nur selten notwendig, denn O'Young ist nicht der einzige, der von der Liebe zur Rettung von Menschenleben beseelt ist, weiß der mit ihm befreundete Chang. "Mitglieder des Teams haben mir erzählt, wie leicht ihre Schritte sind, wenn sie von einer erfolgreichen Rettungsaktion zurückkommen -- sie finden, das kann man mit Worten nicht beschreiben."

(Deutsch von Tilman Aretz)

Meistgelesen

Aktuell