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Einmal tief durchatmen

28.08.2004
Lee Feng-shan, bekannter Qigong-Lehrer: "Nur Menschen mit einer richtigen Einstellung können den wahren Meister erkennen."

Immer mehr Menschen ist klar geworden, dass Qigong mehr ist als nur Gymnastik im Park. Tatsächlich können diese alten Atemübungen zum Lebensretter werden.

Bei einer kürzlich veranstalteten Versammlung von Schriftstellerinnen und Journalistinnen in Taipeh hielt die Autorin Tsao Yu-fang eine Rede, aber nicht über ihre literarischen Arbeiten, sondern über ihre Erfahrungen mit Qigong(氣功) beim Kampf gegen Krebs. "Es ist sehr wichtig, die Übungen auf die korrekte Weise durchzuführen, wenn Qigong eine solide Wirkung auf den Körper haben soll", erklärte sie der Gruppe von Frauen, die sie zur Erforschung dieses alternativen Weges zu einer besseren Gesundheit ermutigt.

Tsao, die etwas über 60 Jahre alt ist, kann ihre Überzeugung gut begründen. Ihr Fall ist schon fast ein Wunder, denn nach der Diagnose von Gebärmutterkrebs im Endstadium im Jahre 1998 konnte sie die Krankheit besiegen und zu einem normalen Leben zurückkehren. Damals hatten ihr die Ärzte eröffnet, sie habe nur noch 6 bis 12 Monate zu leben. Anfang 1999 wurde sie zum ersten Mal operiert und unterzog sich anschließend sechs Zyklen einer Chemotherapie. Sie war entschlossen, sich nicht von der Krankheit besiegen zu lassen, daher begann sie auch andere Methoden zur Verbesserung der Gesundheit zu untersuchen und erfuhr von den heilsamen Eigenschaften von Qigong. Schon drei Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nahm sie ihren ersten Unterricht bei einem Qigong-Meister.

Aus der Lebensspanne von 6 bis 12 Monaten wurden drei Jahre, doch dann trat der Krebs wieder auf. Nach einer zweiten Operation entschied Tsao sich gegen weitere Chemotherapie und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Doch der Zufall wollte es, dass sie einem anderen Qigong-Meister begegnete, der in Atlanta (USA) lebte, und sie beschloss, es noch einmal damit zu versuchen, dieses Mal mit noch größerem Engagement als bei ihrem ersten Lehrer.

"Am Anfang hatte ich meine Zweifel, aber ich hatte das Gefühl, dies sei mein einziger Versuch, wenn ich mir selbst eine zweite Chance geben wollte", erzählt sie. Damals glaubte sie, dass sie bei den Möglichkeiten westlicher Medizin, sie zu heilen, die Grenze erreicht habe.

Aus einer zweiwöchigen Reise nach Atlanta wurden acht Monate, während der sie nichts anderes tat als Qigong praktizieren. Als Tsao nach Taiwan zurückkehrte, war ihr Krebs vollständig verschwunden.

Tsao ist kein Einzelfall. David Shu, seit über zwanzig Jahren als Neurochirurg tätig, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die alte chinesische Tradition des Qigong der Gesundheit auf fast schon wundersame Weise auf die Beine helfen kann.

Anfang vergangenen Jahres war der 55-jährige Arzt erstmals mit Enddarmkrebs im dritten Stadium diagnostiziert worden. Bei solchen Fällen wird normalerweise eine Operation mit anschließender Chemotherapie empfohlen. Unterdessen sah sich Shu selbst nach Alternativen um, einschließlich chinesische Medizin, Diättherapien und verschiedene Arten volkstümlicher Medizin. Eines Tages stieß er auf ein Buch über die von Lee Feng-shan(李鳳山) geführte Qigong-Schule. Das erregte sein Interesse, und während er sich einer Strahlentherapie unterzog, begann er bei Lee zu lernen. Er stellte fest, dass Qigong die Schmerzen der Strahlentherapie deutlich linderte, und als der Tumor nicht nur kleiner wurde, sondern schließlich ganz verschwand, beschloss er die Behandlungen abzubrechen und sagte die für April letzten Jahres geplante Operation ab. Insgesamt hatte Shu wegen der Krebserkrankung nur 10 Tage im Krankenhaus verbracht, nämlich während seiner Vorbereitung für die Strahlentherapie.

Shus Genesung war für ihn eine gute Nachricht, aber bei seinen Kollegen rief sein Handeln negative Reaktionen hervor. Viele hielten ihm vor, es sei unklug gewesen, auf die Operation zu verzichten, denn der Eingriff sei für die Behandlung des Krebses von entscheidender Bedeutung. Ein Magen-Darm-Spezialist verstieg sich sogar zu der Äußerung, dass Shu als Arzt für die Gesellschaft das schlimmste mögliche Beispiel gesetzt habe.

Shu selbst macht keinen Hehl daraus, dass er nur wegen seiner Krankheit Qigong gelernt habe, doch andererseits bezeichnet er sich selbst als "sehr aufnahmebereite Person" und erklärt: "Ich probiere gerne neue Dinge aus, und ich glaube an alles, was wirkt."

Vielleicht eben weil er ein erfahrener Arzt ist, sind ihm die Vor- und Nachteile der westlichen Medizin bewusst. Ihre Schwäche besteht nach seiner Ansicht darin, dass sie eher reaktiv als präventiv ist, und außerdem kann sie manchmal für den Patienten große Pein bedeuten.

Beispiel Krebsbehandlung. Die Krankheit bleibt nach der Entfernung des Tumors oft latent vorhanden, greift dann andere Organe an und macht so weitere Operationen erforderlich, was das körperliche und psychische Leiden vermehrt. Am Schluss, so Shu, erwartet den Patienten als unausweichliches Schicksal immer der Tod. "Ich bin Arzt, ich kenne das nur zu gut", versichert er. "Die meisten Ärzte drängen die Patienten zu Operationen, ohne sie über die unerträglichen Folgen aufzuklären."

Für Julia Tsuei, Ärztin im Ruhestand, rühren die mit westlichen Behandlungen zusammenhängenden Probleme von deren Ansatz her, mit dem sie sich mit dem menschlichen Körper befassen. Wenn man die westliche und die traditionelle chinesische Anschauung des menschlichen Körpers miteinander vergleicht, so sieht nach den Worten der 78-jährigen früheren Spezialistin für Geburtshilfe die westliche Medizin den menschlichen Körper als eine Masse von Partikeln, während die traditionellen Chinesen den Körper als Ansammlung von Energiekanälen betrachten. Die Kontrolle der Energie des Körpers (qi) durch Atemübungen spielt beim Qigong die Hauptrolle, während die westliche Medizin sich tendenziell auf die Körperteile konzentriert, die krank geworden sind.

Kurz gesagt: Die Atmung ist bei Qigong wesentlich, und man kann es sowohl bewegungslos als auch mit Bewegungen praktizieren. Letzteres ist am besten bekannt als Taichichuan(太極拳), im Deutschen oft mit "Schattenboxen" übersetzt, ein eleganter Kampfsport für Menschen aller Altersklassen und heute in der ganzen Welt verbreitet. Die Kontrolle der Atmung lässt sich jedoch nur unter stressfreien Bedingungen erreichen, und ein unbelasteter Geist trägt wiederum zu einem gesunden Körper bei. Diese Wahrheit hatte Shu selbst wie die meisten Menschen in der modernen Gesellschaft zu lange ignoriert. Shu machte extrem viele Überstunden und stand unter so großem Druck, dass er nie Zeit für Sport hatte, und wenn er dann doch einmal Sport trieb, fühlte er sich hinterher noch müder.

"Ich versuchte eine Runde Tennis in meinen Terminplan reinzuquetschen, selbst wenn ich sehr müde von der Arbeit war", bekennt er und fügt hinzu, er habe sich gefühlt, als ob seine Vitalität von Tag zu Tag nachließ. Mit den Qigong-Übungen lernte er dagegen, sich zu entspannen, und dadurch konnte er dann auch mit dem Krebs fertig werden.

Tsao Yu-fangs Einstellung gegenüber Sport hat sich gleichermaßen geändert. Jahrelang trainierte sie fast jeden Tag in einem Sportzentrum, bis sich das fast zu einer Sucht entwickelte. "Ich bin jeden Morgen früh zum Training gegangen, egal wie müde ich am Abend vorher gewesen war", erinnert sie sich. Rückblickend findet sie jedoch, dass der Sport ihr nur kurzfristig Energie lieferte, während sie die Energie damit langfristig dagegen aufbrauchte. " Qigong ist besser als jeder Sport", behauptet sie. "Außerdem besteht dabei im Gegensatz zu westlichen Sportarten kaum Verletzungsgefahr."

Einmal tief durchatmen

Viele taiwanische Büroarbeiter machen während der Mittagspause auf dem Dach ihres Bürogebäudes Gymnastik.

Qigongs zunehmende internationale Anerkennung als Mittel zur Bekämpfung chronischer Krankheiten ist zum großen Teil der Forschung zu verdanken, die in China und Taiwan betrieben wird. Bereits 1987 begann der Nationale Wissenschaftsrat der Republik China in Zusammenarbeit mit Qigong-Meistern wie Lee Feng-shan mit ernsthafter Forschung. Vor 12 Jahren gründeten Gelehrte unter dem Vorsitz von Julia Tsuei außerdem einen akademischen Verband zum Studium von Qigong, und heute hat der Verband 70 Mitglieder.

Für David Shu war die Erkenntnis offensichtlich, nachdem er mit dem Training begonnen hatte. Sein Qigong-Meister bestand darauf, die Trainingseinheiten in einer bestimmten Reihenfolge abzuhalten, in der er sich entspannen und die Atmung kontrollieren musste, bevor er zur nächsten Stufe übergehen durfte. Heute praktiziert er Taichichuan, hat sich aber seine Skepsis gegenüber anderen alternativen Wegen zu guter Gesundheit bewahrt.

Der wissenschaftliche Schritt-für-Schritt-Ansatz ist aber genau das, was manche Leute abschreckt, besonders solche, die einen Crashkurs und Sofortlösungen wollen. Nach Lee Feng-shans Worten ist das nicht die richtige Einstellung, doch er räumt ein, dass es auch exzentrische Lehrer gibt, so genannte "inspirationelle" Meister, von denen manche Qigong unterrichten, ohne es selbst ernsthaft zu praktizieren. "Nur Menschen mit einer richtigen Einstellung können den wahren Meister erkennen", philosophiert er.

Auf der anderen Seite erklären die Qigong-Meister, dass die Schüler, sobald sie sich für einen Lehrer entschieden haben, den Anweisungen des Lehrers genau folgen müssen, wenn sie die erwünschten Ergebnisse erzielen wollen. Zielstrebigkeit und Vertrauen dürfen nicht unterschätzt werden.

"Es war leichter für mich, durch Qigong gesünder zu werden, weil ich es annahm, als ich es geschehen sah", verrät Shu. Er ist überzeugt, dass Menschen, die beim Praktizieren nicht mit ganzem Herzen bei der Sache sind, sogar ihrer Gesundheit schaden könnten, wenn sie als Krebspatienten mit Qigong anfangen. "Wenn es ihnen bei der Anwendung der Qigong-Therapie an Vertrauen fehlt, landen sie am Ende manchmal wieder im Krankenhaus, wo die Ärzte ihnen dann Vorwürfe machen, ihr Heil in alternativen Behandlungen gesucht zu haben."

Für Shu ist aufgrund seiner Erfahrungen bewiesen, dass Qigong zumindest als eine Alternative zur orthodoxen Behandlungsmethode der westlichen Medizin in Frage kommt. "Heute rate ich meinen Patienten, eine Operation zu vermeiden, außer wenn sie ganz offensichtlich notwendig ist, und ich empfehle ihnen, mit Qigong anzufangen", berichtet er. "Ich biete oft eine andere Ansicht, die von den Einschätzungen anderer Ärzte abweicht, und ich opfere Zeit, um mit meinen Patienten zu sprechen. Dabei erzähle ich ihnen, wie wichtig ein entspanntes Leben beim Bekämpfen von Krankheiten ist."

Man könnte also sagen, Shu ist bekehrt, und Lehrer wie Lee Feng-shan sind mit ihrem Glauben an das große Entwicklungspotenzial von Qigong nicht allein. Mit 40 Jahren Erfahrung auf dem Buckel hat Lee mittlerweile neun Zentren auf der ganzen Insel eingerichtet, wo Tausende von Qigong-Schülern, darunter auch Kinder, ihre Bewegungen ausführen. Es gibt zudem Kurse ausschließlich für Krebspatienten, derzeit über 100, während der Meister jedes Jahr mehrmals ins Ausland reist, um für Qigong zu werben und mit Qigong-Forschern und Menschen, die Qigong praktizieren, Gedanken auszutauschen.

Obwohl Qigong als Mittel zur Erlangung einer guten Gesundheit immer weiter akzeptiert wird, bleibt es dennoch eine alternative, unterstützende Therapie, die von einem großen Teil der Gesellschaft ignoriert wird. Das liegt vielleicht auch einfach daran, dass die meisten Menschen es nie direkt erlebt haben.

"Bei der Wirksamkeit der Qigong-Schulen gibt es Unterschiede", sinniert Tsao. "Wenn man entscheidet, was man glauben will, kommt es auf nichts Anderes als Erfahrung an." Zweifellos werden in immer mehr Fällen Taiwaner, auch westlich ausgebildete Ärzte, durch Erfahrung überzeugt.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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