In Taiwan werden derzeit die größten Änderungen am Strafgesetzbuch seit über einem halben Jahrhundert in Angriff genommen.
Im Jahre 1644 nannte der englische Dichter John Milton (1608-1674) es eine "großartige Kunst" -- die Unterscheidung, welche Gesetze zu "Zwang und Strafe" formuliert werden sollten und wo "man sich nur auf Überzeugungsarbeit verlassen soll". Nach fast vier Jahrhunderten wurde die miltonsche Herausforderung von Taiwans Justizministerium angenommen, das in den letzten Jahren das größte Änderungspaket für das Strafrecht seit seiner ersten Verabschiedung im Jahre 1926 entworfen hat. Dabei hatte das Justizministerium die Aufgabe, die Fortschritte und Erfordernisse der Menschenrechte mit den Fortschritten und Erfordernissen der Verbrechenskontrolle in einer blühenden Demokratie in Einklang zu bringen. Das frisch überarbeitete Strafrecht, das im Laufe dieses Jahres vom Parlament verabschiedet werden soll, wird für Taiwan bei seinem Streben nach Modernisierung seines Strafjustizsystems und Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte einen wichtigen Schritt nach vorn bedeuten.
Weil das Strafrecht sowohl die grundlegenden Menschenrechte als auch die soziale Ordnung schützen soll, bringt seine Formulierung nicht nur spitzfindige Fragen für Rechtsexperten mit sich, sondern auch grundsätzliche Fragen von großer Bedeutung für die Öffentlichkeit. Wieviel Ermessensspielraum soll man beispielsweise einem Richter bei der Festsetzung des Strafmaßes gewähren -- viel, wenig oder irgendwas dazwischen? Was wollen wir als Gesellschaft versuchen, durch eine Verurteilung zu erreichen: Erziehung, Bestrafung oder vielleicht ein bisschen von beidem? Was ist die "verdiente Strafe" für Mord? Welche Art von Verhalten sollte kriminalisiert werden und welche nicht -- sollten Menschen, die dem Glücksspiel frönen oder ihren Ehepartner betrügen, dafür von der Gesellschaft bestraft werden? Die Liste ließe sich fortführen, und keiner dieser Punkte ist eine enge Rechtsfrage, sondern wesentlich für die Klärung der Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Mit anderen Worten, wie eine Gesellschaft mit den grundlegenden Fragen von Verbrechen und Strafe umgeht und wie sie einen Ausgleich zwischen den beiden Stützpfeilern Menschenrechte und öffentliche Sicherheit findet, reflektiert und verkörpert die Art und Weise, wie diese Gesellschaft sich selbst betrachtet.
Eine dieser grundlegenden Fragen ist die Todesstrafe. Die Todesstrafe ist immer ein emotional beladenes Thema, wo sich das Strafrechtssystem eines Landes und sein Menschenrechtssystem kreuzen. Taiwan ist wie die USA oder andere demokratische Staaten in dieser Frage tief gespalten, doch eine Mehrheit der Bevölkerung ist wegen Furcht vor einem Niedergang der öffentlichen Sicherheit und steigender Verbrechensraten trotzdem gegen eine vollkommene Abschaffung.
Internationale Menschenrechtsstandards verlangen dagegen die Abschaffung der Todesstrafe. Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (International Convenant on Civil and Political Rights, ICCPR), den auch Taiwan unterzeichnet hat, heißt es in Artikel 6 (1): "Jeder Mensch hat von Natur aus ein Recht auf Leben. Dieses Recht soll gesetzlich geschützt werden." Das zweite Fakultativprotokoll des ICCPR konstatiert: "In der Überzeugung, dass die Abschaffung der Todesstrafe zur Verbesserung der Menschenwürde und progressiven Entwicklung der Menschenrechte beiträgt, sollte jeder beteiligte Staat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Todesstrafe in seinem Hoheitsbereich abzuschaffen."
Den meisten Realisten ist klar, dass die praktischen Realitäten im direkten Widerspruch zu internationalen Standards stehen, daher erkennen sie, darunter das Justizministerium und viele der zahlreichen Menschenrechtsgruppen in Taiwan, an, dass ein schrittweiser Ansatz zur Abschaffung der Todesstrafe der wirksamste Kurs ist.
Dieser Realität wird in der offiziellen Politik des Justizministeriums über die Abschaffung der Todesstrafe Rechnung getragen, in der es heißt: "Da die Todesstrafe grausam ist und im Widerspruch zu der Idee steht, dass Strafe Besserung herbeiführen soll, ist die Abschaffung der Todesstrafe allmählich zu einem globalen Trend geworden." Es wird aber auch angemerkt, dass gemäß in jüngster Zeit durchgeführten Umfragen "rund 80 Prozent der Befragten übereinstimmend gegen die Abschaffung der Todesstrafe sind" und die Ablehnung erst dann nachlässt, wenn "ergänzende Maßnahmen" wie längere Haftstrafen eingeführt werden. Das Justizministerium hat sich für ein Vorgehen entschieden, bei dem diese "ergänzenden Maßnahmen" eingeführt werden und damit das angestrebt wird, was das Ministerium eine Neuorientierung des "allgemeinen Konsenses" durch "Schritt-für-Schritt-Maßnahmen" nennt.
Diese Schritt-für-Schritt-Maßnahmen umfassen einige der Änderungen im Strafrecht. Zu ihnen gehört auch der Artikel 63, der die Anwendung der Todesstrafe für diejenigen Straftäter verbietet, die ihre Verbrechen verübten, bevor sie 18 Jahre alt waren. Die Änderungen vermindern auch die Bandbreite der Verbrechen, für welche die Todesstrafe zwingend vorgesehen ist.
Gleichzeitig streben die "ergänzenden Maßnahmen" längere lebenslange Freiheitsstrafen an. Das mag absurd klingen, doch muss man bedenken, dass "Lebenslänglich" in Taiwan 20 Jahre bedeutet, wobei schon nach 10 Jahren eine Freilassung auf Bewährung möglich ist. Da Taiwan die Menschen also nicht wirklich bis zu ihrem Tode wegschließt, gibt es im Prinzip kein echtes Lebenslänglich. Das ist einer der Stolpersteine für die Abschaffung der Todesstrafe -- in den Augen der Öffentlichkeit müssen manche gefährliche Straftäter so oder so permanent aus der Gesellschaft entfernt werden, und viele taiwanische Richter und Staatsanwälte sehen das ebenso. Die Richter finden sich manchmal in der schwierigen Position, zwischen einer "lebenslänglichen" Freiheitsstrafe von 20 Jahren oder der Todesstrafe zu wählen. In manchen Fällen ist das erste zu mild, das letztere zu hart. Für Richter eine knifflige Situation.
Hier wird eine entscheidende Änderung vorgenommen, indem die frühere Höchststrafe von 20 Jahren auf 30 und 40 Jahre erhöht wird. Lebenslänglich mit 30 Jahren Dauer kommt für Straftäter ohne schwere Vorstrafen zur Anwendung, Lebenslänglich mit 40 Jahren für schwer vorbestrafte Täter. Man kann natürlich fragen, wieso nicht eine lebenslängliche Freiheitsstrafe verhängt wird, die diesen Namen auch verdient. Die Antwort lautet, dass man einen Kompromiss einging, weil viele Juristen ein echtes Lebenslänglich für zu grausam halten, außerdem würde sich für ein echtes Lebenslänglich im Parlament wahrscheinlich keine Mehrheit finden. Wie dem auch sei, in Taiwan wurden die ersten Schritte in Richtung Abschaffung der Todesstrafe unternommen -- bei Jugendlichen wird sie nicht mehr angewendet, es werden weniger Straftatbestände von der Todesstrafe bedroht, und als Alternative zur Todesstrafe gibt es längere Haftstrafen. All diese Schritte bringen Taiwans Strafrecht mehr in Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards.

Präsident Chen Shui-bian am Mahnmal Machangting in Taipeh, einer früheren Hinrichtungsstätte und Symbol der Unterdrückung der fünfziger Jahre.
Die Änderungen haben außerdem fairere und einheitliche Urteile zum Ziel. Vom Standpunkt der Menschenrechte aus gesehen erwarten die Menschen vor dem Gesetz gleiche Behandlung. Wenn zwei Straftäter die prinzipiell gleichen Verbrechen begehen, dann muss dies bei grundsätzlicher Fairness für beide die gleiche Bestrafung bedeuten. Das erfüllt auch einen wichtigen abschreckenden Effekt, weil potenziellen Straftätern klar wird, welches Urteil sie für ein bestimmtes Verbrechen erhalten werden.
Anfang dieses Jahres wurden Ergebnisse einer langjährigen Studie über die Urteile für Diebstähle veröffentlicht, bei der 1164 Eigentumsdelikte, die zwischen Januar 2000 und März 2002 von 18 verschiedenen Gerichten verhandelt worden waren, analysiert wurden. Durchgeführt hatten die Studie Wang Chao-peng, Professor an der National Taiwan University, Lin Ding-hsiang, Professor an der National Taipei University, und Yang Wen-shan, Direktor des Soziologieinstituts der Academia Sinica. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Urteile für Diebstahl uneinheitlich oder unfair waren.
Die Gesetzesänderungen antworten darauf mit der Schaffung härterer und gerechterer Strafen, darunter eine modifizierte Version der US-amerikanischen Urteilsmethode "Three Strikes, You're Out" (zu Deutsch etwa: Drei Streiche und du bist draußen). Die "Three Strikes"-Urteilsmethode, die zuerst in Kalifornien eingeführt worden war, sieht für die dritte schwere Straftat eine lebenslängliche Freiheitsstrafe vor. Taiwans "Three Strikes"-Gesetz würde allerdings ein wenig milder ausfallen und Wiederholungstäter nach den Worten des Justizministeriums mit erhöhten Strafen bedrohen -- nach der zweiten Straftat wird das Strafmaß um die Hälfte erhöht und nach der dritten Straftat verdoppelt.
Diese Frage wird im Zusammenhang mit Sexualverbrechen besonders emotional. Zwar ist die Rate von Sexualverbrechen in Taiwan nicht höher als in anderen Industrienationen, doch Taiwans Medien traktieren die Öffentlichkeit häufig mit voyeuristischen Diskussionen von Serien-Sexualverbrechen. Dieser Sensationsjournalismus kondensiert -- rational oder nicht -- in der allgemeinen Angst, Serien-Sexualverbrechen seien ein Problem, dessen man sich annehmen müsse.
Wenn die gesetzlichen Änderungen verabschiedet werden, werden sie eine wesentliche Veränderung des Gesetzes über Sexualstraftatbestände bedeuten. Ob es sich dabei um einen Fortschritt oder einen Rückschritt handelt, hängt davon ab, ob man mehr Gewicht auf Menschenrechte oder auf Schutz der Öffentlichkeit legt. Die Angelegenheit an sich ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie in jeder modernen Demokratie diese beiden Grundwerte in Konflikt geraten können.
Die Gesetzesänderungen, besonders Artikel 91 (1), werden Taiwans Umgang mit Sexualstraftätern verändern, die mehrfach wegen Sexualverbrechen vorbestraft sind. In Artikel 91 (1) heißt es, wenn ein mehrfacher Wiederholungstäter seine Strafe verbüßt hat, führt ein Bewertungskomitee vor der Entlassung des Häftlings eine Untersuchung durch, um festzustellen, ob der Gefangene später erneut Sexualstraftaten verüben wird. Lautet die Antwort auf diese Frage "Ja", muss der Gefangene sich weiterer medizinischer Behandlung unterziehen. Diese Zwangsbehandlung dauert so lange, bis nach dem Wortlaut des Gesetzes die Gefahr eines Rückfalls "offensichtlich gemindert" ist.
Auf der einen Seite erscheint das vom Standpunkt der öffentlichen Sicherheit aus gut. Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gefangener direkt nach dem Verlassen der Haftanstalt wieder Sexualverbrechen begeht, groß ist, dann sollte er so lange eingesperrt bleiben, bis er "gebessert" ist. Vom Menschenrechts-Standpunkt aus wirft eine solche Reform indes viele Fragen auf. Ist es vernünftig, Gefangene nicht für Verbrechen, die sie begangen haben, sondern für Verbrechen, die sie vielleicht begehen werden, in Gewahrsam zu halten? Verfügt das psychiatrische Gesundheitssystem über genügend ausgebildete Psychiater, um die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalles von Gefangenen genau einschätzen zu können? Die Menschen in Taiwan werden sich überlegen müssen, ob sie bereit sind, einen Kompromiss der Verhängung einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe unter dem Deckmantel der "Besserung" einzugehen.
Taiwan fällt diese Entscheidungen, wie es jede fortschrittliche Nation tun muss. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter sagte einmal: "Amerika hat die Menschenrechte nicht erfunden. In einem sehr realen Sinne ist es umgekehrt. Die Menschenrechte haben Amerika erfunden." Was für die USA gilt, gilt auch für Taiwan: In einem sehr realen Sinne erfand das Streben nach Menschenrechten das moderne Taiwan, und die Strafrechtsänderungen spiegeln Taiwans laufende Neuerfindung seiner selbst als progressive Nation wider, die sich sowohl den Menschenrechten als auch der öffentlichen Sicherheit verpflichtet fühlt.
(Deutsch von Tilman Aretz)
Brian L. Kennedy ist ein amerikanischer
Anwalt und lebt in Taiwan.
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