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Spielen gemäß den Spielregeln

28.10.2004
Yen Chin-chang, Taiwans Vertreter bei der WTO: "Sowohl der öffentliche als auch der private Sektor müssen die durch die WTO aufgekommenen Gelegenheiten anerkennen, damit unser System im Inland auf den globalen Standard gebracht werden kann."

Als Mitglied der WTO muss man wissen, was man will, wer die wirklichen Freunde sind, und darüber hinaus muss man sich Gehör verschaffen.

In den drei Jahrzehnten, bevor Taiwan am 1. Januar 2002 in die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) aufgenommen wurde, hatte die Insel auf der Weltbühne keine Stimme. Nach dem Ausscheiden aus den Vereinten Nationen im Oktober 1971 war Taiwan seitdem auf Druck Chinas aus anderen internationalen Organisationen ausgeschlossen, und für lange Zeit wussten taiwanische Geschäftsleute, die Märkte im Ausland erkundeten, dass Politik eine unsichtbare Mauer war, die man umgehen musste.

Heute wird diese Mauer durch Taiwans Mitgliedschaft in der WTO niedergerissen, und die jährlich von der Insel gezahlten Gebühren an die WTO -- berechnet gemäß dem 2-prozentigen Anteil am gesamten Welthandel -- sind höher als die aller afrikanischen Staaten zusammen. Die Frage ist, wie kann Taiwan seine WTO-Mitgliedschaft am besten nutzen? Die Antwort ist nicht so einfach, wie man meinen möchte.

Die WTO war 1995 als Nachfolgeorganisation des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) mit dem Ziel gegründet worden, Handelsbarrieren zu eliminieren und weltweit ein berechenbareres Umfeld für Exporteure, Importeure und Hersteller zu schaffen. Die meisten von Taiwans Nachbarn waren schon zu GATT-Zeiten Mitglied. Die WTO ist mit 147 Mitgliedern heute praktisch der Handelsarm der Vereinten Nationen -- eine internationale Organisation, in der zumindest theoretisch geschäftliche Interessen vor Politik rangieren.

Neue Mitglieder werden nur unter der Bedingung aufgenommen, dass sie durch Senkung von Zöllen und Abschaffung anderer Formen handelsverzerrender Schutzmaßnahmen Märkte öffnen. Sobald sie jedoch erst einmal Mitglied sind, haben sie das Recht, bei der Formulierung von Handelsregeln, bei Handelsgesprächen und der Beilegung von Handelszwisten für ihre Interessen zu streiten. Letzten Endes setzt sich jeder an den Verhandlungstisch und hofft, mehr mit nach Hause zu nehmen, als man selbst hergegeben hat. Mit anderen Worten geht es bei dem Spiel darum, die Auswirkungen der Zulassung ausländischer Konkurrenz auf dem Inlandsmarkt so gering wie möglich zu halten und gleichzeitig den Zugang der eigenen Exporteure zu ausländischen Märkten zu maximieren. Zu dieser Mischung kommt noch Innenpolitik dazu: Bei WTO-Verhandlungen geht es oft um Lebensunterhalt, und Lebensunterhalt bedeutet Wählerstimmen, also steht für Politiker bei WTO-Verhandlungen auch der eigene Lebensunterhalt auf dem Spiel.

Als Taiwan im Jahre 2002 nach 12-jähriger Wartezeit in das Getümmel hineinkam, fand es sich unversehens mitten in die Doha-Runde verstrickt, gestartet im November 2001 in Doha (Katar) und offiziell bekannt unter der Bezeichnung "Doha Development Agenda" (DDA, zu Deutsch Doha-Entwicklungsagenda), bei der Taiwans Aufnahme einen Tag nach der von China bekannt gegeben worden war. Die Doha-Runde umfasst 19 ehrgeizige Fragen aus den Bereichen Landwirtschaft bis elektronischer Handel, einschließlich der so genannten Singapur-Fragen -- Investitionen, Wettbewerb, Transparenz bei staatlichen Beschaffungsmaßnahmen und Erleichterung von Handel.

"Ich habe als Erstes Prioritäten unter den zahlreichen DDA-Fragen gesetzt, damit wir uns auf die für unsere Wirtschaftsentwicklung relevantesten Fragen konzentrieren konnten", berichtet Taiwans ständiger WTO-Vertreter Yen Ching-chang(顏慶章), der mehrere Bücher über GATT geschrieben hatte und vor seiner Ernennung zum WTO-Vertreter Finanzminister war. Yen konzentrierte sich auf die Landwirtschaft, Zugang zu nicht-landwirtschaftlichen Märkten, Dienstleistungen und die Singapur-Fragen, von denen Handelserleichterungen -- überwiegend Straffung von Zollverfahren zur Beschleunigung der Warenzirkulation -- an erster Stelle stehen werden, sollte das Paket aufgeschnürt werden müssen.

Der nächste Schritt von Yens Team war, die Hand auszustrecken. "In der WTO ist die Bildung von Koalitionen wichtig", weiß Didier Chambovey, der stellvertretende ständige Vertreter der Schweiz in der WTO. "Für Länder wie die Schweiz oder Taiwan -- mittelgroß, starke Handelsnationen -- ist es wichtig, die Kräfte zu bündeln."

Koalitionsbildung besteht für Chambovey darin, mögliche Freunde zu erkennen und dann mit ihnen an einem Strang zu ziehen. Auf diese Weise sind zahlreiche informelle Gruppierungen mit gemeinsamen Interessen wie G10 oder die Cairns-Gruppe, um nur diese beiden zu nennen, entstanden.

Spielen gemäß den Spielregeln

Das Namensschild der taiwanischen WTO-Gesandtschaft in Genf -- Taiwans früher unterdrückte Stimme ist nun auf der Weltbühne zu hören.

Panamas ständiger WTO-Vertreter Carlos Emilio Rosas nennt die WTO einen Ort, "wo man sich verkaufen muss". Yen stimmt ihm zu und sagt, er drängt die taiwanischen Delegierten dazu, mehr zu sein als nur Boten. Er weist auch darauf hin, dass die Mission über 50 Vorschläge eingereicht und sich mehreren Allianzen angeschlossen hat.

"Wir sind nicht einfach nur Taiwans Augen und Ohren", beteuert er. "Es ist unsere Pflicht, der Hauptstadt konstruktiven Rat zu bieten und mit Taipeh zusammenzuarbeiten, um Standpunkte herauszubilden und in den Verhandlungen unsere Ziele zum Ausdruck zu bringen."

Ein Beispiel für die von Allianzen bestimmten Verhandlungen in der WTO ist der Streit um die Landwirtschaft. Taiwan ist Mitglied der von der Schweiz geführten G10, die unter anderem die einheimischen Landwirtschaftsbereiche schützen will, um dadurch die Existenz der eigenen Bauern zu sichern. In der anderen Ecke des Rings steht die Cairns-Gruppe, die aus über 17 landwirtschaftlichen Exportländern besteht, darunter Australien, Indonesien, Kanada und Thailand. Diese großen landwirtschaftlichen Exportländer sehen die Dinge anders und drängen auf eine Abschaffung von Zöllen, welche den Verkauf ihrer Waren auf Märkten wie Japan erschweren.

Es war daher kaum jemand überrascht, dass Landwirtschaft bei der Doha-Runde ein Knackpunkt war und als Kraftprobe zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden beschrieben wurde. Dieser Zwist wird sich wohl nur sehr schwer beilegen lassen, nicht zuletzt weil die Verhandlungen darüber unter dem "Gesamtunternehmen"-Prinzip (single undertaking) durchgeführt werden. Das bedeutet, dass keine Einigung gilt, solange man sich nicht in allen Punkten geeinigt hat. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Doha-Fragen bis zur gesetzten Frist vom 1. Januar 2005 gelöst werden können, und die Frist war vielleicht der einzige Punkt, über den bei der Ministerkonferenz in Cancún (Mexiko) im September vergangenen Jahres Einigkeit herrschte. Die Cancún-Ministerkonferenz gilt als großer Rückschlag -- die 146 Mitglieder hatten keinen Konsens erzielen können, größtenteils wegen des Nord-Süd-Streits über die Singapur-Fragen und die landwirtschaftlichen Handelsgespräche.

Das Cancún-Fiasko warf einen langen Schatten über die Doha-Runde, da es eine neue Entwicklung darstellt, bei der sich die Welt der Armen gegen den "Klub der Reichen in der WTO" zusammenschließt. Daher wenden sich die Beteiligten Handelsgesprächen mit kleinerem Umfang zu -- bilaterale Freihandelsabkommen oder regionale Handelsabkommen. Innerhalb dieses Trends machte Taiwan am 21. August 2003 seinen ersten Vorstoß mit der Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens mit Panama, das am 1. Januar dieses Jahres in Kraft trat.

"Freihandelsabkommen ergänzen die WTO", definiert Rosas. "Die letzten paar Monate haben gezeigt, dass das Freihandelsabkommen zwischen Taiwan und Panama sehr wirkungsvoll und für die Wirtschaft beider Länder positiv ist. ... Andere Mitglieder könnten ein größeres Interesse bekommen, Handelsbeziehungen mit Taiwan zu entwickeln."

Yen ist vorsichtiger und bemerkt, dass Freihandelsabkommen auch eine politische Bedeutung haben und dass politische Gewinne gegenüber negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, die sich aus einem solchen Deal ergeben könnten, abgewägt werden müssen.

"Freihandelsabkommen werden auch 'WTO Plus' genannt, womit man sagen will, dass sie eine größere Liberalisierung versprechen, als das System erreichen kann", erläutert er. "Daher ist es wichtig, dass Taipeh genau untersucht, was das 'Plus' mit sich bringt, und sich auf seine Auswirkungen auf unsere Wirtschaft vorbereitet. Seine politischen Verästelungen müssen die Nachteile für die Wirtschaft rechtfertigen."

Gleichzeitig sollte man in dem Streben nach bilateralen Abkommen nach Yens Ansicht nicht vergessen, dass die Ziele der Doha-Runde nichts von ihrer Wichtigkeit verloren haben. Fortgesetzte globale Liberalisierung würde eines Tages Freihandelsabkommen überflüssig machen. "Solange die Mitglieder sich nach vorn bewegen, ist die WTO selbst ein multilaterales Freihandelsabkommen, und wir sind bereits dabei."

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Taiwans Weg in die WTO dauerte 12 Jahre. Wie lang wird der Weg zur UNO sein?

Tatsächlich glauben die meisten Mitglieder immer noch, dass der Weg nach vorn für den Welthandel ein allgemein verbessertes Handelsumfeld ist. Aus diesem Grund machte sich in der ersten Hälfte dieses Jahres im Vorfeld der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl und des Führungswechsels in der EU ein Gefühl der Dringlichkeit breit.

"Wir müssen mit einer ausgewogenen und differenzierten Tagesordnung, die allen Mitgliedern nützt, wieder Vertrauen und Schwung aufbauen", fordert Sergio Marchi, Kanadas ständiger Vertreter in der WTO, und zitiert einen Bericht der Weltbank, dass ein erfolgreicher Abschluss der Doha-Runde das globale Einkommen bis 2015 um über 500 Milliarden US$ jährlich steigern würde.

Für Keith Rockwell, Leiter der Informations- und Presseverbindungsabteilung der WTO, hat das Cancún-Debakel fast alle WTO-Mitglieder dazu gezwungen, sich alten Problemen mit neuen Lösungsversuchen zu nähern, so dass die Mitglieder beim Zusammenstellen des Juli-Pakets Schritt für Schritt vorgehen mussten. Dieses Paket soll einen Rahmen von Themen schaffen, der beim Treffen des Allgemeinen Rates im Juli dieses Jahres angesprochen worden war.

Laut Marchi ist es wichtig, den Rahmen optimal zu gestalten, denn "die Regierungen und der private Sektor müssen eine Generation lang mit den Resultaten leben".

Die Themen des Julipaketes sind im Großen und Ganzen kongruent mit denen, die Yen vor zwei Jahren ausgesucht hatte. Sollte das Julipaket scheitern, wäre das ein Rückschlag für die Doha-Runde. Trotzdem ist das Engagement der WTO-Mitglieder so stark, dass es gewagt wäre, das Ende der Organisation zu prophezeien. Eben aufgrund dieses Zusammenhaltes erweist sich Taiwans Beitritt auch im Nachhinein als außerordentlich wirkungsvolles politisches und wirtschaftliches Werkzeug.

An diesem Punkt braucht man Unterstützung von Taipeh und Kommunikation mit jenen Geschäftsinteressen, die durch Veränderungen infolge von WTO-Abkommen am meisten betroffen sein werden. "Sowohl der öffentliche als auch der private Sektor müssen die durch die WTO aufgekommenen Gelegenheiten anerkennen, damit unser System im Inland auf den globalen Standard gebracht werden kann", rät Yen, der auf die Bewahrung von Taiwans Wettbewerbsfähigkeit drängt. "Ich brauche vor allem rechtzeitige, ausreichende Informationen von zu Hause. Die Regierung muss den privaten Sektor auffordern, seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Sagt ihnen, dass wir hier sind und alles in unserer Macht stehende tun, um ihnen zu helfen."

(Deutsch von Tilman Aretz)

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