In Südtaiwan können Besucher des Internationalen Chishi-Kunstfestivals Tainan die Tradition der Reifezeremonie miterleben.
In der Hochsommerhitze Anfang August herrschte in den Gassen in der Umgebung des 270 Jahre alten Kailong-Tempels(開隆宮) in Tainan ein dichtes Gedränge. Scharen von Jugendlichen und ihre Eltern kauften Räucherstäbchen, Geistergeld und Papierpagoden. Die 16-Jährigen bereiteten sich auf das Ritual vor, das den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein markiert, während ihre Eltern ihnen dabei mit Rat und Anleitung halfen. "Die Reifetradition wird in der Stadt noch von vielen Leuten befolgt, auch wenn man in der Vergangenheit die Details ernster nahm", findet der aus Tainan stammende Jiang Dong-yuan. "Als ich 16 wurde, gaben meine Eltern sogar ein Bankett für meine Familie, um Verwandte und Freunde auf das Ereignis hinzuweisen."
In diesem kleinen Tempel, welcher sieben Göttinnen geweiht ist, die für den Schutz von Kindern unter 16 Jahren verantwortlich sind und den kollektiven Namen Chiniangma -- im taiwanischen Dialekt Chhitniuma(七娘媽) -- tragen, wurde der 48 -Jährige damals in die Erwachsenenwelt eingeführt. Um an der Tradition teilzuhaben, brachte er nun seine Tochter an den gleichen Ort. "Für sie ist es besonders wichtig, ihren göttlichen Beschützerinnen zu danken, weil sie heute an der besten Oberschule in Tainan angenommen wurde."
So wie Jiang haben sich auch andere Erwachsene im Kailong-Tempel eingefunden, um beim Ritual des Übergangs ihrer Kinder in die nächste Phase ihres Lebens dabei zu sein. Wie die meisten Eltern haben sie ähnliche Hoffnungen für die Zukunft ihres Nachwuchses. Diese sind in bezeichnender Weise in den Worten ausgedrückt, die auf den Tempel gemalt wurden: "Mögen Söhne zu Drachen werden und Töchter zu Phönixen." Sie hoffen, dass die Reifezeremonie für ihre Kinder ein Ausgangspunkt sein möge, ausgezeichnete Persönlichkeiten zu werden.
Die Reifetradition, die ursprünglich aus der chinesischen Provinz Fujian stammt, wird heute noch in Tainan, Lukang (Landkreis Changhua) und in der südtaiwanischen Hafenstadt Kaohsiung befolgt. In Tainan ist die Tradition jedoch am besten erhalten, vor allem seit die Stadtverwaltung und lokale Kulturorganisationen vor vier Jahren mit dem Internationalen Chishi-Kunstfestival Tainan dafür zu werben begannen. Dieses Jahr dauerte das Festival sechs Tage und endete an Chishi(七夕), wobei Tainans Bürgermeister die Reifezeremonie im Kailong-Tempel leitete.
Chishi bezeichnet den siebten Tag des siebten Mondkalendermonats, in diesem Jahr der 11. August, und ist weithin als chinesischer Valentinstag bekannt. Die Chishi-Tradition beruht auf der mythischen Liebesgeschichte zwischen einem Kuhhirten und einem Webermädchen, die in die Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) zurückreicht. Nach Auskunft des Chishi-Museums in Tainan arbeitete der männliche Gott (der Stern Altair) so fleißig als Kuhhirte, dass der Himmelskaiser, Herr der Götterwelt, beschloss, ihm seine als Weberin arbeitende Tochter (den Stern Vega) zur Frau zu geben. Es stellte sich aber heraus, dass die beiden ihre Arbeit vernachlässigten, weil sie zu viel Zeit miteinander verbrachten, daher verlangte der Himmelskaiser, dass sie sich nur noch einmal im Jahr sahen, nämlich an Chishi. Er kratzte einen Fluss in den Himmel und trennte sie dadurch mit der Milchstraße, und er befahl Elstern, in einer Nacht im Jahr an Chishi zur Vereinigung der Liebenden eine Brücke zu bilden. Diese Nacht ist außerdem der Geburtstag des Webermädchens und ihrer sechs Schwestern. Ein Teil der Chishi-Tradition besteht daher darin, den sieben Göttinnen für den Schutz von Kindern zu danken.
Eine neue Inkarnation
Tainan ist nicht nur die älteste Stadt Taiwans, sondern war auch die größte Stadt der Insel, bis die Japaner die Hauptstadt nach Taipeh verlegten. Tainan hat eine Geschichte von rund 400 Jahren. Einen sehr guten Eindruck von der vergangenen Blüte kann man in Wutiaogang(五條港) erhaschen, einem ehemals geschäftigen Handelshafen, dessen Kanäle vor langer Zeit aufgegeben wurden. In den goldenen Zeiten der Stadt arbeiteten neben Erwachsenen junge Knaben auf den Werften, aber sie verdienten nur die Hälfte, bis sie das 16. Lebensjahr erreichten. Das Reiferitual in Tainan war damit auch ein wirtschaftlicher Übergang.
Traditionell bereitet die Großmutter mütterlicherseits den Teenager auf das Ritual vor und führt auch die Zeremonie durch. Der späte Nachmittag von Chishi gilt als der Zeitpunkt, an dem die Teenager 16 werden, und die Eltern erweisen den Chiniangma ihre Reverenz, indem sie Opfer in Form von Speisen und Papierpagoden -- welche den Wohnort der Gottheiten symbolisieren -- darbringen. Die werdenden Erwachsenen kriechen drei Mal unter dem Altar her, und jedes Mal, wenn sie unter dem Altar hervorkommen, wenden sich die Jungen nach links und die Mädchen nach rechts. Früher fanden diese Rituale zuerst in Privatwohnungen statt, doch später begannen die Gläubigen mit der Verehrung der sieben Göttinnen im Kailong-Tempel und vollzogen das Ritual dort.
In jüngster Zeit hat das Ritual sowohl bei den Einheimischen als auch bei Ortsfremden an Beliebtheit gewonnen. Nach Angaben des Kulturamtes der Stadtverwaltung zog der Kailong-Tempel dieses Jahr in den Tagen vor Chishi 5000 junge Leute an, zehn Mal so viele wie früher.
Viele andere Tempel in der Stadt, in denen der Erfolg des Kailong-Tempels beobachtet worden war, folgen nun dem Beispiel. Die Teilnehmer an der Reifezeremonie im Tempel, oder vielmehr ihre Eltern, werden um Geldspenden gebeten, und während der Tempel für 2500 NT$ (62,50 Euro) neben einem altertümlichen Kostüm auch einen Rundritt hoch zu Ross anbietet, stammen die Haupteinnahmen des Tempels aus dem Verkauf von Räucherwerk und Geistergeld, wozu nebenbei noch die Spenden kommen. Die Zahl der Teilnehmer in den anderen Tempeln ist im Vergleich mit den Menschenmassen im Kailong-Tempel noch gering, aber der Direktor des Kulturamtes in Tainans Stadtverwaltung Hsu Keng-hsiu hofft, dass diese Tainaner Tradition 16-Jährige von der ganzen Insel herlocken kann. Über eine Gesamtzahl von 400 000 Besuchern würde er sich freuen, und er begeistert sich bei dem Gedanken an die ungeheuren Geschäftsgelegenheiten, die dadurch der Stadt beschert würden.
Die Stadt Tainan, die mit mehr erstklassigen historischen Stätten gesegnet ist als jede andere Stadt im Land, hat Besuchern eine Menge zu bieten, und die Reifezeremonie ist lediglich eine weitere Attraktion in ihrer reichen Kulturlandschaft. "Die beste Methode, Taiwan wirklich kennen zu lernen, ist ein mehrtägiger Aufenthalt in Tainan", glaubt Hsu. "Hier kann man Taiwans Geschichte sehen und fühlen."
Um das Profil der Chishi-Feiern zu erhöhen, wird die Marketingstrategie des Tainan-Festes ständig überarbeitet. Wie viele andere Kulturfeste auf der Insel versucht man die Besucher anzulocken, indem man sowohl einheimische als auch ausländische Schausteller ins Programm aufnimmt. Dieses Jahr reichten die Vorstellungen von ausländischem Folkloretanz zu einheimischem Kindertheater, und das ganztägige Programm mit freiem Eintritt fand auf dem Gelände des Konfuziustempels, einer historischen Stätte der Klasse 1 mitten in der Stadt, und an anderen Orten im ganzen Stadtgebiet statt.

Ein japanischer Trommler führt in Tainan Japans Version der Chishi-Feierlichkeiten vor.
Bewahrung von Traditionen
Die Öffentlichkeit scheint die festliche Atmosphäre zu mögen, doch Hsu ist besorgt, dass die Menschen von dem traditionellen Schwerpunkt abgelenkt werden könnten. Aus diesem Grund wurde in diesem Jahr zur Bereicherung der traditionellen Erfahrung ein kleines Museum neben dem Konfuziustempel geschaffen. Ausgestellt werden Opferspeisen für die Chiniangma und von am Ritual teilnehmenden Teenagern getragene traditionelle Gewänder, was den Besuchern einen genaueren Blick auf das Ritual ermöglicht, welches den Übergang ins Erwachsenendasein markiert. "In Taiwan lernen die meisten Kinder aus Schulbüchern", berichtet Sunny Huang, ein Grundschullehrer zu Besuch in Tainan. "Es gibt aber oft eine Kluft zwischen dem, was wir aus den Schulbüchern lernen, und der realen Welt. Ein Besuch in Museen wie diesem hier hilft bei der Überbrückung dieser Kluft."
Im nahe gelegenen National Center for Research and Preservation of Cultural Properties findet eine Ausstellung über die Chishi-Tradition statt, wie sie in Japan praktiziert wird und wo sie wenig mit dem Reiferitual zu tun hat. Die Chishi-Tradition war während der Tang-Dynastie (618-906) von China nach Japan gekommen und entwickelte sich in der Stadt Sendai zu einem der drei größten Kulturfeste des Landes. Es feiert das Rendezvous des Kuhhirten mit der Weberin und umfasst auch ein Ritual für Frauen, das ihre Hoffnung auf gute Fertigkeiten bei der Nadelarbeit zum Ausdruck bringt.
Im Jahre 2001 nahmen die Stadtverwaltung Tainan und Sendai kulturelle Austauschbeziehungen auf. Als sich herausstellte, dass die Chishi-Tradition von der japanischen Kaiserfamilie befolgt wird und auch in Kyoto gut erhalten ist, verband die Stadtverwaltung dieses Jahr Tainan, Sendai und Kyoto in einer Ausstellung über Japans Chishi-Festlichkeiten. Besucher können die Unterschiede im Chishi-Kulturerbe dieser drei Städte erkennen und dazu die Einzigartigkeit der Reifetradition in Tainan bewundern.
Letzten Endes erhofft man sich, dass Tainans Chishi-Fest internationale Anerkennung gewinnt. Die Förderung des Reiferituals geht einher mit Bemühungen der UNESCO der letzten zehn Jahre zum Schutz des immateriellen Kulturerbes in ganz Asien. "Gute Arbeit beim Erhalt lokaler Kulturen ist der Ansatzpunkt für die Bildung einer reichen nationalen Kultur, einem Wert, der von der ganzen Menschheit geteilt werden kann", erklärte Präsident Chen Shui-bian(陳水扁) bei der Teilnahme am ersten Tag des Festes in diesem Jahr.
Nach Hsus Worten hat das Fest dank der Universalität der Reiferituale eine gute Chance, in der ganzen Welt bekannt zu werden. Während das Internationale Chishi-Kunstfestival sich stetig zu einem Ereignis von Gewicht mausert, gibt es seiner Ansicht nach mögliche Hindernisse für eine langfristige Entwicklung. "Jede Lokalverwaltung möchte unbedingt eigene Kulturfeste veranstalten, aber wenn Taiwan international bekannte Feste haben will, müssen Ressourcen konzentriert werden", empfiehlt er. "Im Moment ist das nicht der Fall."
Wenn sich in Taiwan ein Festival als Erfolg erweist, wird es bald anderswo nachgeahmt. Ein gutes Beispiel ist das Internationale Puppentheaterfest in Yunlin, das in Kaohsiung ein Gegenstück fand. In Hsus Augen ist das eine törichte Verschwendung von Ressourcen, die Taiwans Plan durchkreuzen wird, bedeutsame internationale Kulturveranstaltungen zu schaffen.
Glücklicherweise hat das Fest in Tainan schon der Heimat seinen Stempel aufgedrückt. Vergangenes Jahr wurde das Internationale Chishi-Kunstfestival vom staatlichen Tourismusamt zu einem der 12 wichtigsten Kulturfeste auf der Insel erklärt. Gleichzeitig wählte das National Center for Traditional Arts im osttaiwanischen Ilan vier Kulturfeste auf der ganzen Insel als Forschungsobjekte aus, um das Geheimnis ihres zunehmenden Erfolges zu ergründen -- das Geisterfest in Keelung, das Holzschnitzfestival in Miaoli, das Asiatisch-pazifische Traditionelle Kunstfest in Taipeh und Ilan und eben das Chishi-Kunstfest in Tainan.
Heute ist das Chishi-Kunstfestival in Tainan ein wichtiges kulturelles Ereignis. "Wir Einheimischen in Tainan befolgen die Reifetradition schon seit langem", prahlt Jiang Dong-yuan und tätschelt seinem 8-jährigen Sohn stolz den Kopf. "Es lohnt sich unbedingt, sie zu bewahren. In acht Jahren werde ich ihn hier zum Kailong-Tempel mitnehmen."
(Deutsch von Tilman Aretz)