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Gut betucht

28.02.2006
Chen Yung-jen arbeitet an einem neuen Anzug.

Preigekrönte Schneider aus Taiwan leisten ihren Beitrag, die Zukunft eines traditionellen Gewerbes zu gestalten.

Auf einem von Bäumen eingefassten Abschnitt der Zhongshan North Road in Taipeh zog an einem Nachmittag im August vergangenen Jahres eine Kolonne von 12 Jeeps mit ihrem Ehrengast Wu Ping-nan an einer jubelnden Menge vorbei zu einem Bankett für 300 Personen auf dem breiten Trottoir. Viele der an der Straße ansässigen Schneider legten Nadel und Faden aus der Hand, um Wus zweiten Platz bei Herrenbekleidung im internationalen "Goldene Nadel und goldener Faden"-Wettbewerb beim 31. Weltkongress der Maßschneider (World Congress of Master Tailors, WCMT) in Berlin 2005 zu feiern.

Ein Schneider von einem Bekleidungsgeschäft unter der Stadtautobahn-Hochstraße Civil Boulevard in Taipeh schnitt bei dem Wettbewerb sogar noch besser ab -- Chen Yung-jen errang in der Kategorie Damenbekleidung den ersten Platz. Selbst als relative Neulinge im WCMT sind Taiwans Schneider offenbar in die Spitzengruppe vorgerückt.

Insgesamt hatten sich 46 Teilnehmer aus 23 Ländern in Berlin eingefunden. Man hatte sie aufgefordert, einen Anzug aus Stoffen herzustellen, die man ihnen zuvor mit der Post zugeschickt hatte, und zwar sollten sie vor der Jury von Hand nähen. Die fertigen Gewänder wurden dann von Testpersonen getragen, welche die Passgenauigkeit der Kleider in Bewegung vorführten. Außerdem hatten die Teilnehmer an Ort und Stelle bestimmte Kleidungsstücke zu entwerfen, um ihr Können beim Zeichnen zu zeigen.

Der Wettbewerb war die jüngste Gelegenheit für taiwanische Schneider, ihr Können bei internationalen Wettbewerben zu zeigen. Im Jahr 2000 fand in Taiwan die zweijährige Konferenz des asiatischen Maßschneiderverbandes statt, welche das Profil des Landes im regionalen Organisationsgeflecht erheblich stärkte und es auch in Kontakt mit dem WCMT brachte, dem es sich im Jahre 2003 anschloss.

2005 gab es nicht nur Modenschauen, sondern auch zum ersten Mal einen WCMT-Wettbewerb für Schneider zwischen 22 und 40 Jahren. In jener Kategorie qualifizierten sich Wu und Chen jeweils für die Herren- und Damenbekleidungs-Disziplinen.

Trotz der Ehre, die den taiwanischen Schneidern zuteil wurde, steht das Gewerbe im Inland vor ernsten Herausforderungen. "Talentmangel bei der jüngeren Generation ist ein universales Problem, das nicht nur Taiwan betrifft", bemerkt Ko Chin-fa, der als Präsident des Maßschneiderverbandes Taiwan und stellvertretender Leiter der 25-köpfigen taiwanischen Delegation in Berlin genau weiß, warum der WCMT den Wettbewerb zur Förderung neuen Blutes im Gewerbe ausrichtete.

In der Vergangenheit war es kein Problem, junge Männer zu finden, die eine Lehre als Schneider machen wollten. Wie Lee Wan-chin aus Taichung und Chen Ho-ping aus Keelung zogen viele in der Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts nach Taipeh, um das Handwerk zu lernen. Neue Lehrlinge werden pro Werkstück bezahlt, wogegen qualifizierte Schneider ein Gehalt bekommen. Der Rat für Arbeitnehmerangelegenheiten (Council of Labor Affairs, CLA) hat ein dreistufiges Prüfungsverfahren für das Gewerbe, und obwohl es keine Definition dafür gibt, was einen Meister ausmacht, wird der Titel wohl eher für lange Berufserfahrung als für Kunstfertigkeit verliehen.

Taiwans Maßschneider waren Zeugnis für ein wahrhaft internationales Gewerbe, das in zwei Kategorien unterteilt wurde -- gebürtige Taiwaner, die sich im Stoff- und Schneiderviertel Dadaocheng knubbelten und ihr Handwerk von den Japanern gelernt hatten, und Festlandchinesen an der Zhongshan North Road, die von Orten wie Shanghai stammten und den Umgang mit Schere und Nadel von Europäern beigebracht bekommen hatten. "In der Blütezeit in den siebziger Jahren war in Dadaocheng eine Schneiderwerkstatt neben der anderen", erinnert sich Lee. Die Blütezeit endete Mitte der siebziger Jahre, als Anzüge aus Massenproduktion auftauchten und wegen dieser billigeren Anzüge schwere Zeiten auf die Hersteller von Maßanzügen zukamen.

Im Westen wurde die perfekte Passform von maßgeschneiderter Kleidung ein Zeichen für sozialen Status, und Schneider fanden ihren Broterwerb bei der Produktion von Gewändern für die Mittel- und Oberklasse. In Taiwan hat der Anzug dagegen eine andere Geschichte. Wie importierte Waren oder Ideen sonstwo in der Welt waren Anzüge zunächst ein exklusiver Luxus für die Wohlhabenden. Die vom Klima her unpassende ausländische Bekleidung, größtenteils in der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) eingeführt, wurde nur zu sehr formalen Anlässen getragen. Als Ende der sechziger Jahre Taiwans rapide Verstädterung begann, verdrängte der westliche Anzug die traditionelle Kleidung und setzte sich bei den städtischen Angestellten durch.

Maßanzüge kosten heutzutage zwischen 20 000 und 300 000 NT$ (512 bis 7692 Euro), je nach der Qualität der Materialien, dem Stil und der zur Herstellung aufgewendeten Zeit. Rentabel wird die Arbeit für Schneider bei Anzügen ab 35 000 NT$ (897 Euro), während man Anzüge von der Stange im Einzelhandel ab 5000 NT$ (128 Euro) bekommt. Bei einer so großen Differenz zwischen Maß- und Konfektionskleidung werden die Dienste von Schneidern immer noch eher von Betuchten in Anspruch genommen.

Handgemachte Kluft ist bei Kunden wie Chen Shiun-hung, der in seiner Firma eine leitende Funktion bekleidet, beliebt. "Die perfekte Passform eines Maßanzuges gibt mir Selbstvertrauen", verkündet er. Chen war früher Stammkunde bei Giorgio Armani und besuchte vor zwei Jahren zum ersten Mal Chen Ho-pings Geschäft. "Ein Armani-Anzug von der Stange kostet etwa 70 000 NT$ (1794 Euro)", verrät Chen. "Für das gleiche Geld kann ich einen Anzug bekommen, der mir genau passt und aus einem Material meiner Wahl genäht wurde."

Maßschneider mussten wegen der Dominanz von Konfektionskleidung und der Einfuhr ausländischer Marken schwere Geschäftseinbußen hinnehmen. Nach Kos Ansicht sind die Auswirkungen der ausländischen Marken wegen ihrer hohen Preise nicht so schwer wiegend. Die gegenwärtige Flaute habe auch viel mit der allgemeinen Wirtschaftslage zu tun, da immer mehr Führungskräfte von Unternehmen, welche die Hauptklientel der Schneider ausmachen, nach China gezogen sind.

Laut Ko gab es früher allein in seiner Heimatstadt Changhua Hunderte von Schneidereien, doch heute haben in ganz Taiwan gerade mal 3000 überlebt. Viele Geschäftsinhaber nähern sich dem Pensionsalter und fürchten, dass ihr Geschäft mit ihrem Eintritt in den Ruhestand eingehen könnte. "Ich möchte, dass mein Sohn Schneider wird, aber er hat überhaupt kein Interesse", klagt Ko. "Das ist schade, denn ich habe wirklich eine stabile Stammkundschaft aufgebaut."

Gut betucht

Sicher ist sicher: Wu Ping-nan überprüft die mit Schneiderkreide markierten Maße.

Die Belebung des Gewerbes ist nun die Aufgabe junger Schneider wie Chen Yung-jen und Wu Ping-nan. Chen wählte eine weniger konventionelle Route, indem er seine Laufbahn etwas später als üblich begann. Im College hatte er Elektrotechnik im Hauptfach belegt und hätte nicht daran gedacht, einen arbeitsintensiven Beruf zu ergreifen, wenn er nicht Lees Tochter begegnet wäre. Sorge über die Sicherheit der Arbeit als Kabeltechniker, bei der er zur Installierung von Leitungen auf Hochhäusern würde herumklettern müssen, brachte ihn zum vergleichsweise gefahrenfreien Umfeld der Schneiderei seines zukünftigen Schwiegervaters.

Mit 26 Jahren begann Chen seine Lehre mit dem Kampf gegen die Tücken von Nadel und Faden. Sein Schwiegervater meinte, für den Anfänger sei eine Nadel so schwer wie eine Hacke. Endloses Nähen von Knopflöchern für eine vollkommene Technik gehörte zum täglichen Arbeitspensum. Chen erinnert sich, dass er während dieser langen Arbeitsstunden oft vom nächsten Schritt träumte, nämlich dem Nähen von Ärmeln.

Dank seiner positiven Einstellung konnte er nach und nach sein Können beim Zeichnen und Zuschneiden verfeinern. Die Notizen, die er sich beim Beobachten von Schneidermeistern in der Werkstatt gemacht hatte, sind für ihn viel wertvoller als Bücher über das Handwerk. Demut und Bescheidenheit spielen beim Lernprozess eine große Rolle. "Es bringt nichts, mit den Meistern nur zu reden", weiß er. "Man muss aus der eigenhändigen Erfahrung lernen."

Wu Ping-nan war wegen seiner persönlichen Sehnsucht, gut auszusehen, in das Geschäft eingestiegen. "Die Maßanzüge, die ich hatte, waren teuer, aber nicht besonders gut", urteilt er. "Deswegen habe ich daran gedacht, mir selbst Kleidung zu machen." Sein Cousin und Mentor Chen Ho-ping regte ihn gleichfalls zu einer Schneiderlehre an. Mit 17 Jahren verließ Wu seine Heimatstadt Keelung und zog nach Taipeh, wo er zunächst bei seinem Cousin -- damals schon Schneider von Beruf -- wohnte und arbeitete, bevor er seine Lehre in vier weiteren Werkstätten in Taipeh abschloss. "Ich wollte nicht zu lange am gleichen Ort bleiben", sagt er. "Ich wollte mehr lernen, indem ich von Ort zu Ort zog." Ein Jahr, nachdem Chen Ho-ping den Laden in der Zhongshan North Road von seinem aus Shanghai stammenden Meister übernommen hatte, schloss Wu sich ihm 1993 wieder an.

Am Anfang seiner Laufbahn gab es allerdings Momente, wo er ans Aufhören dachte. Damals war das Dasein als Lehrling kein Zuckerschlecken, denn die Meister waren streng und autoritär. "Wenn man das Gewebe versengte, bekam man eins mit dem Lineal übergezogen", erinnert er sich. Heutzutage passieren solche Fehler selten, weil die Technologie sich verbessert hat. "Heute schaltet sich ein Bügeleisen automatisch ab, wenn es zu heiß wird."

Heute hat man es als Lehrling wirklich leichter, aber für Wu hat das Gewerbe immer noch Herausforderungen, zumindest wenn man einen guten Ruf behalten will. "Ob man Lehrling oder Meister ist, man muss 12 Stunden am Tag arbeiten, da wir hochwertige Anzüge von Hand herstellen", erklärt er. Unterdessen betont er, dass sowohl er als auch sein Cousin immer noch versuchen, neues Wissen aufzunehmen, da die Schneiderei eigentlich zum Modegewerbe gehört. "Im Informationszeitalter sollte Branchenentwicklung nicht allein auf dem Meister-Lehrling-Modell beruhen", rät er. "Wir sollten mehr auf das achten, was außerhalb Taiwans geschieht." Er ist mehrmals ins Ausland gereist, um ausländische Schneider zu treffen, brachte neue Entwürfe mit heim und hat sein Geschäftsverwaltungssystem computerisiert.

Während Wu Ping-nan und Chen Yung-jen als Schneider reifer werden, haben sie auch viel ihren Mentoren zu verdanken, die maßgeblich dabei beteiligt waren, sie in das Gewerbe einzuführen und ihnen den Weg in die Zukunft zu ebnen. "Wir kommunizieren problemlos miteinander, weil wir altersmäßig nur vier Jahre auseinander sind, und mein Cousin bringt mir immer bereitwillig etwas bei", berichtet Wu. "Außerdem ist mein Erfolg auch sein Erfolg." Wu ist in der Werkstatt seines Cousins hauptsächlich für das Zuschneiden von Stoffen zuständig, und heute ist er Chen Ho-pings rechte Hand und übernimmt die Leitung, wenn der Chef außer Haus ist.

Entsprechend sieht die Zukunft von Chen Yung-jen ebenfalls rosig aus, teilweise aufgrund der vollen Unterstützung durch seinen Mentor und zum Teil auch durch die Tatsache, dass er in ein Geschäft eingeheiratet hat, das er und sein jüngerer Schwager Lee Chih-cheng erben werden.

Internationalisierung ist gleichfalls ein Segen für das Gewerbe. Der WCMT hat den Beschluss bekannt gegeben, dass der nächste Wettbewerb 2007 in Taipeh stattfinden wird. "Junge Schneider wollen Anerkennung, und der beste Weg dahin sind Wettbewerbe", findet Lee Chih-cheng. Ohne Zweifel inspirieren die preisgekrönten Leistungen von Chen Yung-jen und Wu Ping-nan im Ausland jetzt schon die jüngeren Aspiranten im Inland, und so wird 2007 die ideale Gelegenheit für taiwanische Schneider sein, ihren flotten Schnitt vorzuführen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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