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Verhandeln um die eiserne Reisschüssel

28.02.2006
Die Eisenbahnergewerkschaft verleiht ihren Forderungen mit einer Demonstration Nachdruck.

Für ihre Mitglieder die besten Verhandlungsergebnisse herauszuholen ist die wichtigste Aufgabe für die Gewerkschaften von Taiwans Staatsunternehmen.

Im September 2003 hielten rund 8000 Mitglieder der taiwanischen Eisenbahnergewerkschaft (Taiwan Railway Labor Union, TRLU) die erste Mitgliederversammlung in Taiwans 116-jähriger Eisenbahngeschichte ab. Sie votierten dafür, in den bevorstehenden Ferien zu Chinesisch-Neujahr ihr Streikrecht auszuüben. Nach Verhandlungen wurde eine Einigung mit Taiwans Eisenbahnverwaltung (Taiwan Railway Administration, TRA) erzielt, und die Aktion wurde abgeblasen.

Im Mai 2005 legten rund 200 Mitglieder der Chunghwa Telecom-Gewerkschaft (Chunghwa Telecom Workers Union, CTWU) in Taipeh, Taichung und Kaohsiung die Arbeit nieder. Sie protestierten damit gegen das öffentliche Gebot von American Depositary Receipts (ADR) bei der Chunghwa Telecom.

Ein paar Monate später im September trat die Gewerkschaft der Taiwan Business Bank ebenfalls in den Ausstand. Über ein Drittel der 5000 Gewerkschaftsmitglieder erschien nicht zur Arbeit, um damit gegen die geplante Fusion der Bank mit privaten Finanzgruppen zu demonstrieren.

Die drei Streiks hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie wurden erstens von Gewerkschaften von Staatsunternehmen organisiert, und zweitens als Reaktion auf die Möglichkeit einer Privatisierung. Das Streben der Regierung nach Privatisierung von Staatsunternehmen oder zumindest die Schaffung unternehmensartiger Profiterzeuger im öffentlichen Sektor brachte zwei fundamentale öffentliche Interessen auf Kollisionskurs. Der Staat will, dass öffentlich finanzierte Staatsunternehmen Gewinn erwirtschaften, damit keine Steuergelder verschwendet werden, doch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wollen eine gerechte Behandlung von der Regierung und ein vernünftiges Maß an Jobsicherheit. Man kann darüber streiten, ob man die Staatsunternehmen privatisieren sollte oder nicht, aber von einem arbeitsrechtlichen Standpunkt aus verteidigten die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder durch gemeinsames Handeln.

Gesetz des Landes

Das Gewerkschaftsgesetz der Republik China, das ab dem Jahr 1929 umgesetzt wurde, ist das übergeordnete Gesetzeswerk für Arbeitnehmerrechte. Gemäß dem Gesetz muss eine Firma mit über 30 Mitarbeitern eine Gewerkschaft organisieren. (Es gibt außerdem noch nach Regionen organisierte "Handwerksgewerkschaften" für über 30 Arbeiter mit den gleichen Spezialfertigkeiten.) Jack Lee, Professor für Staatsverwaltung an der National Open University, merkt an, dass in industriell entwickelten Ländern Gewerkschaften von Arbeitern zu kollektiven Verhandlungen mit den Arbeitgebern gebildet werden. In Taiwan hatten die Gewerkschaften dagegen einen ganz anderen Start. "Taiwans wirtschaftliches Rückgrat war Landwirtschaft, daher gab es kein großes Bewusstsein für Arbeitnehmerrechte oder Gewerkschaften", doziert er. "Historisch gesehen dienten Taiwans Gewerkschaften eher politischen Zwecken als der Aufrechterhaltung der Rechte ihrer Mitglieder."

Solche Gewerkschaften mit politischer Grundlage wurden in der Frühphase des 20. Jahrhunderts organisiert, als sowohl die Nationale Volkspartei (Kuomintang, KMT) als auch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) Gewerkschaften als Werkzeug benutzten, um ihre Kontrolle über die chinesische Gesellschaft zu verstärken. Die KMT blieb auch nach der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg und dem Rückzug nach Taiwan 1949 bei dieser Strategie und konnte ein Gewerkschaftssystem von der zentralen zur lokalen Ebene aufbauen. "Die Gewerkschaften waren wichtig sowohl für die politische Stabilität als auch für die Wirtschaftsentwicklung", versichert Lee. "Staatlich finanzierte Gewerkschaften lieferten nicht nur Stimmen bei Wahlen, sondern dienten auch als administrative Arme für die Umsetzung von Regierungspolitik." Diese politisch orientierten Gewerkschaften leisteten jedoch wenig, um die im Gewerkschaftsgesetz formulierte Hauptaufgabe zu erfüllen, nämlich "die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer zu schützen, das Wissen und die Fertigkeiten der Arbeitnehmer zu mehren, produktive Unternehmen zu entwickeln und die Lebensumstände der Arbeiter zu verbessern".

Es wäre jedoch nicht fair, alle Schuld den Gewerkschaften zuzuschieben. Lee erläutert, dass eine Regierung entweder die Arbeitsbedingungen für Arbeiter und Angestellte verbindlich regulieren kann, oder man kann einen Mechanismus etablieren, durch den beide Seiten verhandeln. Ersteres war hinsichtlich Taiwans wirtschaftlichem und politischem Umfeld jener Zeit vielleicht die bessere Methode. Eine Nebenerscheinung war jedoch, dass die Gewerkschaften nichts zu verhandeln und folglich wenig Entwicklungsspielraum hatten.

Dieser Zustand hielt bis Mitte der achtziger Jahre an, als eine neue Generation rechtsbewusster Arbeitnehmer den Status Quo herauszufordern begann. 1984 sicherten sie die Unterstützung für die Verabschiedung des Arbeitnehmerstandards-Gesetzes, welches durch die Schaffung von Standards, die Arbeiter von ihren Brötchengebern verlangen konnten, das Wachstum der Gewerkschaften anregte. Die Arbeiter begannen, sich in Gewerkschaften zu organisieren, um mit lauterer Stimme zu sprechen.

TRLU-Boss Chen Han-ching, seit 33 Jahren Eisenbahner und seit über 20 Jahren Gewerkschaftsaktivist, weist darauf hin, dass die Gewerkschaften im privatwirtschaftlichen Bereich voller Energie, aber zu schwach waren, um mit den Arbeitgebern zu verhandeln. Die Gewerkschaften der Staatsunternehmen waren dagegen besser organisiert und stärker, aber weniger aktiv. Der Grund dafür war einfach -- ihre Bezahlung und ihre Renten waren besser als die ihrer Kollegen im privaten Sektor, und über Jobverlust mussten sie sich ebenfalls keine Sorgen machen, da sie offiziell Beamte waren. Doch nachdem im Jahre 1991 das Statut für die Privatisierung von Staatsunternehmen verabschiedet wurde und die Staatsunternehmen angewiesen wurden, sich auf die Privatisierung vorzubereiten, begannen sich die Gewerkschaften über ihre Zukunft Sorgen zu machen. "Der Schutz der Rechte unserer Mitglieder, die von der gesunden Entwicklung dieses Unternehmens abhängig sind, hat bei uns oberste Priorität", verkündet Chen. "Ehrlich gesagt kann ich in der Privatisierung des Eisenbahnsystems dieses Landes keine Zukunft erkennen."

Kollektive Macht

Jedesmal wenn Privatisierungsmaßnahmen im Parlament erörtert wurden, wurden die lärmenden Demonstrationen der Gewerkschaften der Staatsunternehmen ein übliches Ritual, aber sie waren auch in anderen politischen oder sozialen Fragen aktiv, etwa Bekämpfung der Korruption, Verbraucherschutz und soziale Sicherheit. "Zusätzlich zum Schutz der Interessen unserer Mitglieder glauben wir, dass eine Gewerkschaft auch bei anderen Fragen Interesse zeigen und ihre Ansichten darüber äußern sollte", sagt CTWU-Generalsekretär Chuan Ping-tang. "Wir mischen uns ein, weil wir Teil der Gesellschaft sind und weil uns das nicht egal ist."

Zehntausende von Menschen auf der Straße können die Idee rüberbringen, aber Lobbyarbeit im Parlament kann genauso wirkungsvoll sein. Tatsächlich waren die Gewerkschaften von Staatsunternehmen bei der Verteidigung der Rechte ihrer Mitglieder durch Lobbyarbeit recht erfolgreich. Im Jahr 2000 zum Beispiel ratifizierte das Parlament einen Vorschlag, der Gewerkschaftsvertretern ein Fünftel der Sitze in den Aufsichtsräten von Staatsunternehmen zusicherte. Diesem Sieg waren fünf Jahre Lobbyarbeit durch die CTWU vorangegangen. "Ein Fünftel der Sitze bedeutet bei Aufsichtsratssitzungen natürlich keinen großen Einfluss", weiß Chuan. "Trotzdem können dadurch die Meinungen der Arbeiter gehört werden, und der Entscheidungsfindungsprozess wird transparent."

Sitze im Aufsichtsrat bescherten der CTWU unverhofftes Glück, als im Dezember 2002 die Chunghwa Telecom 13,5 Prozent ihrer Aktien verkaufte. Bei dem Deal gingen Aktien indirekt an einen Konkurrenten der Chunghwa Telecom im privaten Sektor. "Die Transaktion räumt dem Käufer Sitze im Aufsichtsrat und Zugang zu allen Betriebsdetails und -entscheidungen ein", enthüllt Chuan. "Das muss die absurdeste Entscheidung gewesen sein, die ein Unternehmen überhaupt je hättte treffen können." Die Gewerkschaftsvertreter sind nun quasi zu Wächtern im Aufsichtsrat geworden und sorgen dafür, dass die Konkurrenz keine Vertreter zu den Aufsichtsratssitzungen schickt.

Eine weitere Feder im Lobby-Kopfschmuck der Gewerkschafter war die Aufrechterhaltung einer obligatorischen Gewerkschafts-Mitgliedschaft durch eine Überarbeitung des Gewerkschaftsgesetzes im Jahr 2000. "Der Zweck des Organisierens einer Gewerkschaft besteht darin, die Arbeiter mit kollektiver Verhandlungsmacht auszustatten, und je mehr Mitglieder eine Gewerkschaft hat, desto mehr Verhandlungsmacht besitzt sie", verrät Chen Han-ching. "Wenn man den Arbeitern erlaubt, selbst über eine Mitgliedschaft zu entscheiden, riskiert man eine Schwächung dieser Macht, und außerdem können Schmarotzer von den Ergebnissen kollektiver Verhandlungen profitieren, ohne selbst Gewerkschaftsmitglieder sein zu müssen." Die Verfassung der Republik China garantiert dagegen den Menschen Versammlungs- und Verbandsfreiheit, deswegen sollten Arbeiter das Recht haben, sich entscheiden zu dürfen. Obligatorische Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft widerspricht der Wahlfreiheit und ist daher möglicherweise verfassungswidrig.

Unabhängig von der Verfassung hat die Eisenbahnergewerkschaft bei Verhandlungen die Muskeln spielen lassen. Gemäß dem Privatisierungsfahrplan der Regierung sollte die TRA bis Juli 2004 eine unternehmensartige, von Staat betriebene Firma sein und bis Juli 2007 voll privatisiert werden. Die Gewerkschaft und die TRA erzielten 2003 eine Einigung, welche die Privatisierung bremst. Die TRA wird nur unter zwei Bedingungen zu einer Firma umgebaut -- ad eins, die Regierung tilgt die Schulden der TRA in Höhe von 80 Milliarden NT$ (2,05 Milliarden Euro), und ad zwei, es soll eine Art Mechanismus eingerichtet werden, um Verluste von unrentablen Bahnhöfen und Strecken zu decken.

Öffentlich gegen privat

Chen erläutert, dass die TRA als Regierungsbehörde eher für öffentlichen Verkehr sorgen sollte, als Geld zu verdienen. "Es ist schon in Ordnung, wenn der Staat die TRA zu einer staatlich geführten Firma machen will, aber eine Firma muss Gewinn machen oder wenigstens die Kosten decken, was bedeutet, dass man entweder die unrentablen Strecken und Bahnhöfe stilllegt, oder die Regierung zahlt für ihre Aufrechterhaltung", fordert Chen und weist darauf hin, dass die Taiwan Motor Transport Co. seit ihrer Privatisierung den Streckenplan von über 300 Routen auf weniger als 100 Routen zusammengestrichen hat. Laut Chen ist die Gewerkschaft bereit, über den Umbau der TRA zu einer Firma zu sprechen, lehnt eine Privatisierung aber kategorisch ab, weil sie in einem privaten Eisenbahnsystem einfach keine Zukunft sehen kann.

Die Gewerkschaft sieht ein, dass die TRA interne Anpassungen vornehmen muss, um sich den Herausforderungen durch das Hochgeschwindigkeitseisenbahn-System (High-speed Railway System, HRS) zu stellen, das innerhalb eines Jahres in Betrieb genommen werden soll. Derzeit kommen 75 Prozent der Einkünfte der TRA von den Fernverkehr-Passagieren, die später sehr wahrscheinlich auf HRS umsteigen werden. Zum Überleben schwebt der TRLU ein vielschichtiger Betrieb vor, der Eisenbahnservice mit Restaurants, Tourismus, Einzelhandel und anderen "Nebenjobs" kombiniert. Die Gewerkschaft drängt ihren Arbeitgeber, also die TRA, einen Plan für ein solches Gebilde vorzubereiten.

Wie die Eisenbahnergewerkschaft sieht auch die CTWU keinen Grund für eine Privatisierung. Nachdem die Chunghwa Telecom zwei Verweise vom Kontroll-Yuan wegen unrechtmäßigem Aktienverkauf sowie eine parlamentarische Resolution über eine Suspendierung weiterer Aktienverkäufe ignorierte, hat sie den Besitzanteil der Regierung von 65 auf rund 48 Prozent reduziert und erfüllt damit Taiwans Definition von Privatisierung. "Wieso verscheuert die Regierung eine Firma, die ihr jedes Jahr 50 Milliarden NT$ (1,28 Milliarden Euro) einbringt?" wundert sich Chuan Ping-tang. "Ich kann verstehen, dass die Regierung unbedingt etwas gegen ihre ernste Verschuldung tun möchte, aber das ist so, als ob man das Kind mit dem Bade ausschüttet." Zwar ist die Chunghwa Telecom technisch gesehen heute ein Privatunternehmen, doch die Regierung ist immer noch der größte Anteilseigner und kann die Firmenpolitik ohne parlamentarische Aufsicht steuern.

Die CTWU kann die Privatisierung nicht rückgängig machen, doch sie plant die Unterzeichnung eines kollektiven Abkommens zum Schutz der Interessen ihrer 24 000 Mitglieder. Die Beschäftigten der Chunghwa Telecom sind ebenso wie die Mitarbeiter anderer Staatsunternehmen Beamte, die staatliche Prüfungen bestanden haben. Wer zum Zeitpunkt der Privatisierung Anspruch auf Rentenzahlungen hat, kann weiter arbeiten und behält den garantierten Rentenanspruch. Das betrifft jedoch nicht die vielen Kollegen, die noch ein oder zwei Jahre vom Rentenanspruch entfernt sind. Chuan betont, dass es hierbei nicht darum geht, ob die Telecom Gewinn oder Verlust macht, sondern um den Lebensunterhalt einzelner Mitarbeiter. "Als sie Beamte wurden, hat man ihnen sichere Jobs und eine Altersversorgung gesetzlich garantiert", betont er. "Nun hat die Regierung diesen Vertrag gebrochen, indem sie die Firma privatisierte und die versprochenen Leistungen strich. Das ist einfach nicht fair." Chunghwa Telecom arbeitet mit Rechtsberatern zusammen, um für die Beschäftigten eine Entschädigung zu erreichen.

Die CTWU verhandelt noch mit der Chunghwa Telecom über die Bezahlung, Urlaub und andere Leistungen für die Gewerkschaftsmitglieder, über die man sich bislang noch nicht einigen konnte. Chen Han-ching hält Verhandlungen zwischen Gewerkschaften von Staatsunternehmen und der Regierung tatsächlich für komplizierter als Verhandlungen im privaten Sektor. "Gewerkschaften in der Privatwirtschaft müssen sich nur mit einem einzelnen Arbeitgeber auseinander setzen, um zu erreichen, was sie wollen", bemerkt er. "Wir müssen uns mit zahlreichen wuchernden Behörden wie der TRA, dem Ministerium für Verkehr und Kommunikation und oft auch mit dem Exekutiv-Yuan herumschlagen."

Doch während die Mitglieder der Gewerkschaften von Staatsunternehmen bei Verhandlungen oft frustrierend wenig Erfolg haben, haben sie bei Protestkundgebungen weit weniger zu befürchten als privatwirtschaftliche Gewerkschafter, denn sie sind Beamte, deren Jobs vom Gesetz geschützt sind. Das Risiko, wegen Teilnahme an Streiks oder Demonstrationen gefeuert zu werden, ist für sie erheblich geringer als für Mitglieder privater Gewerkschaften.

Trotzdem sind solche Arbeitskampfmaßnahmen in der Regel der letzte Ausweg, da sie oft heftige Kritik hervorrufen. "Die Leute sind sauer, wenn einen Tag lang keine Züge fahren", sagt Chen. "Ihnen ist aber nicht klar, dass es eines Tages vielleicht gar keine Züge mehr gibt, wenn wir privatisiert werden." Die Medien stellen den Kampf der Staatsunternehmen-Gewerkschaften gegen Privatisierung als ein egoistisches Streben dar, sich die eigenen vergleichsweise üppigen Sozialleistungen zu erhalten. Chen räumt ein, dass die Gewerkschaften die Situation nicht immer optimal zu erklären vermochten. "Natürlich wollen wir unsere Arbeitsplätze behalten", verteidigt er sich. "Doch unser höchstes Ziel als öffentlicher Verkehrsbetrieb besteht darin, den Fahrgästen zu garantieren, dass Züge zu den Bahnhöfen ihrer Heimatorte fahren." Wie man diese Züge am besten dort hinbekommt und die Rechte derjenigen schützt, welche die Züge in Betrieb halten, wird weiterhin ein schwieriger Drahtseilakt bleiben.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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