Taiwans Theaterszene hat in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluss einer steigenden Zahl von Dramatikern und Theatergruppen an Reife gewonnen.
Die Anzahl taiwanischer Baseballfans und Theaterfreunde ist eine Kontraststudie -- während Baseballstadien ausverkauft sind, werden Theater nur spärlich besucht. Die beiden Unterhaltungsformen scheinen also wenig gemeinsam zu haben, obwohl beide von den Japanern während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) auf die Insel gebracht wurden.
Eine ausländische Angelegenheit
Die neue Form der dialoggestützten Vorstellung unterschied sich zwar von der traditionellen taiwanischen Oper, erregte aber das Interesse mancher Einheimischer. Lu Su-shang (1915-1970), einer der frühen darstellenden Künstler der Insel, schrieb, dass zwischen 1910 und den späten dreißiger Jahren über ein Dutzend Theatergruppen organisiert wurden, und es wurden regelmäßig Stücke auf Japanisch und im taiwanischen Dialekt aufgeführt. Als 1937 der Chinesisch-Japanische Krieg ausbrach, wurde die taiwanische Bühnenwelt angewiesen, den Ruhm des Vormarsches des japanischen Kaiserreiches darzustellen.
Unterdessen wurden überall in China Bühnenstücke in öffentlichen Theatern oder auf Schulgeländen immer politischer. Sogar das Militär hatte eigene Theatertruppen, um Soldaten und Zivilisten zum Kampf gegen die Japaner zu ermutigen. Die chinesischen Kommunisten und die Nationalisten führten einander gegensätzliche Dramen auf, und manche privaten chinesischen Theatergruppen brachten ihre Shows nach Taiwan.
Dieser Austausch über die Taiwanstraße fand ein Ende, als die chinesischen Nationalisten mit Sack und Pack ins Land kamen und taiwanisches Theater zu einem Werkzeug der Parteipropaganda wurde. Der einzige Unterschied war der, dass die Schurken und Bösewichter nicht mehr Japaner waren, sondern chinesische Kommunisten. "Antikommunismus war der Leitstern des Landes für alles, einschließlich Kunst und Literatur", erläutert Ma Sen, Professor am Graduierteninstitut für literarische Studien der Fo Guang University in Jiaosi (Landkreis Ilan). "Bühnenstücke taten das, was von ihnen verlangt wurde, aber das einseitige Thema beschränkte die Entwicklung des Theaters."
Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre begann die Szene sich zu wandeln, als die Konzepte kleiner und experimenteller Theater gemeinsam mit neuen Ideen und Ausbildungsmethoden von Akademikern aus dem Ausland mitgebracht wurden. Schriftsteller wichen nun ebenfalls vom Einheitsthema ab, und der Anteil antikommunistischer Stücke im Repertoire des Landes begann zu schrumpfen. "Bühnenschriftstellerei wird oft durch die eigene Lebenserfahrung inhaltlich genährt", weiß Ma. "Für diejenigen, die in Taiwan geboren und aufgewachsen waren, war es schwierig, über etwas zu schreiben, das sie nie erlebt hatten."
Mit der Unterstützung von Theaterfreunden und Akademikern wurden in den siebziger und achtziger Jahren unabhängige Theatergruppen wie die Lan Ling-Dramawerkstatt und die Vorstellungs-Werkstatt gegründet. Während die Unabhängigkeit den Schauspielern und Autoren die Freiheit verlieh, das zu tun, was sie wollten, mussten die Ensembles immer noch die finanziellen Mittel finden, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten, was damals keineswegs ein Klacks war.
Berufstätig bleiben
Die meisten Theatergruppen wenden eine Art von Fahrerflucht-Prinzip an. Die Mitglieder kommen zusammen, um eine Produktion aufzuführen, und nach dem letzten Vorhang kehren sie zu ihrem "wirklichen" Leben zurück. Ohne Büros und hauptamtliches Personal brauchen diese Ensembles sich keine Sorgen über Miete, Rechnungen oder Verwaltungskosten zu machen. "Sie leben von der Leidenschaft ihrer Mitglieder fürs Theater", charakterisiert Hwang Mei-shu, Dramatiker und Professor an der Theaterabteilung der Chinese Culture University in Taipeh. "Sie verschwinden, sobald ihre Leidenschaft abkühlt oder die Mitglieder wegen eines Jobs oder sonstwas aufhören müssen."
Manche streben aber auch nach einem längerfristigen Engagement. "Geld aufzutreiben, um eine Truppe zu unterhalten, ist gewiss stressig, aber Stress beschert Fortschritt", philosophiert Chang Ling-hsien, Schauspielerin und Theaterverwalterin. "Um über die Runden zu kommen, muss man jeden Cent drei Mal umdrehen -- man muss immer bessere Stücke produzieren, die ein größeres Publikum anlocken."
Derzeit kommt Geld aus drei Quellen: von der Regierung, Privatunternehmen und Eintrittskartenverkäufen. Regierungsbehörden wie der Rat für Kulturangelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA), die staatliche Kultur- und Kunststiftung sowie die Kulturämter der Lokalverwaltungen fördern Theatergruppen. Diese Behörden bewerten den Produktionswert und das Potenzial von Truppen, die Anträge stellen. "Das Problem ist, dass nicht genug für alle Antragsteller da ist", seufzt Hwang Mei-shu. "Bei der angespannten Haushaltslage des Staates reicht das Geld, das jede Gruppe bekommt, in der Regel nicht aus, um die täglichen Verwaltungsausgaben zu decken, geschweige denn die Produktionskosten."
Laut den Ausführungen von Lee Huei-na, Verwaltungsdirektorin der Theatergruppe Kreativgesellschaft, die 1997 von einer Gruppe von Dramatikern, Theaterarbeitern und Lehrern der darstellenden Künste gegründet wurde, umfassen die Produktionskosten Miete für Proberäume und Theater, Beleuchtung, Kostüme und Reklame. Für die meisten taiwanischen Theatergruppen ohne eigene Einrichtungen bedeuten mindestens 20 oder 30 Proben eine schwere finanzielle Belastung. "Kreativität ist immer der Schlüssel zu einem guten Theaterstück", meint sie. "Doch bei Problemen, die mit Kreativität nicht gelöst werden können, ist in der Regel Geld die Antwort."

Finanzielle Unterstützung vom Staat für Theatergruppen wie Godot Theater kann oft nur ergänzend sein.
Viele Theater haben außerdem begonnen, sich bei Firmen um Sponsorengelder zu bemühen. "Es ist heutzutage nicht ungewöhnlich, wenn Unternehmen Kulturveranstaltungen sponsern", verrät Chang. "Anscheinend fühlen sich aber nicht allzu viele zur einheimischen Theaterszene hingezogen." Hwang Mei-shu weist darauf hin, dass Firmen eher bereit sind, als Sponsoren von Produktionen etablierter Ensembles als von kleinen, unbekannten Truppen genannt zu werden.
Geld ist sicherlich von großer Bedeutung, aber man braucht auch Schauspieler, Designer, Regisseure, Dramatiker und Techniker, um ein Bühnenstück zu produzieren. Während Taiwans größere Theatergruppen ihre eigenen professionellen Teams herangebildet haben, heuern kleinere Ensembles entsprechendes Personal bei Bedarf an. Momentan stammen die meisten ihrer Talente von den mehreren einheimischen Universitäten mit Drama- oder Theaterabteilungen und Graduiertenprogrammen. Ein stetiger Strom von Rückkehrern mit einem Magister- oder Doktordiplom im Fach Darstellende Kunst bereichert gleichfalls die Theaterlandschaft. Etablierte Ensembles bieten außerdem Schulungskurse für Leute, die zwar Theaterkunst nicht im Hauptfach studieren, jedoch Interesse daran haben.
Der Bereich Dramatik lässt indes eine Menge zu wünschen übrig. Zwar ist es laut Hwang nicht so, dass es keine guten Dramatiker oder Stücke gäbe, aber das Genre hinkt hinter vielen anderen literarischen Aktivitäten in Taiwan hinterher. Wer an einer einheimischen Universität Dramatik als Hauptfach studiert, verbringt in der Regel bloß ein Jahr damit, Stücke zu schreiben, und erwirbt so lediglich die grundlegenden Fertigkeiten und Regeln. "Die Regeln und Fertigkeiten sind nicht mehr als ein Mittel, die Gedanken des Autors zu einem Stück zu machen", definiert Hwang. "Man wird aber nur dann ein Dramatiker, wenn man den entsprechenden Stoff im Kopf hat, den man verarbeiten kann, und das kann man nicht im Unterricht lernen."
Selbst wenn jemand das Talent und den richtigen Stoff hat, ist eine Laufbahn als professioneller Dramatiker oder eine sonstige Theaterkarriere nicht unbedingt eine gute Entscheidung. Die Arbeitszeiten sind lang und unregelmäßig, und die Bezahlung ist lachhaft. "Keiner will morgens um sieben aus dem Haus gehen und nach Mitternacht heimkommen, daher hören die Leute auf, wenn sie heiraten oder einen Job mit normaler Arbeitszeit ergattern", klagt Lee Huei-na. "Für die Ausbildung der Leute braucht man viel Zeit, und wir wollen sie halten, deswegen wären regelmäßigere Arbeitszeiten eindeutig eine Hilfe." Eine positive Veränderung der letzten Jahre war, dass manche etablierte Gruppen in einem normaleren Tagesablauf arbeiten, doch es gibt auch Zeiten, in denen die Dinge aus den Fugen geraten.
Auf dem Hosenboden
Nicht nur Theaterleute haben im Laufe der Jahre ihr Können verbessert, auch das Publikum ist reifer geworden. "In der Vergangenheit beschränkte sich das Vokabular des Publikums bei Kommentaren im Großen und Ganzen auf 'gut', 'schlecht', 'gefällt mir' und 'mag ich nicht'", zitiert Chang. "Heute bekommt man aber gesagt, warum sie ein Stück für gut oder schlecht halten, wo die Probleme liegen oder was es ausdrücken will. Das ist sehr wertvoll für uns."
Talentierte Schausteller, die vom mageren Lohn leben können, und besser gebildete Theaterzuschauer, die sich über gute Stücke freuen, sind indes nicht unbedingt eine Garantie für einen Kassenschlager. Ein Grund dafür ist der, dass viele Veranstaltungsorte zu klein sind, um große Einkünfte zu erzeugen. Wenn nur etwa ein paar hundert Sitzplätze vorhanden sind, fahren oft auch ausverkaufte Stücke Verlust ein.
Ein weiterer Grund ist, dass die besseren Veranstaltungsorte mindestens ein Jahr im Voraus gebucht werden müssen, und während diesen 12 Monaten kann eine Menge passieren. Wenn sich etwa die Wirtschaftslage verschlechtert, geben die Menschen weniger für Unterhaltung aus. Doch selbst in guten Zeiten müssen die Eintrittskartenverkäufe nicht unbedingt entsprechend sein. Laut Lee Huei-na ist es heutzutage üblich, Tickets online zu reservieren, aber viele Theaterbesucher kaufen die Karten immer noch lieber abends an der Kasse. "Bei schlechtem Wetter gehen sie nicht hin, und die Hälfte der Plätze sind leer", murrt sie. "Sowas können wir unmöglich voraussehen, wenn wir den Veranstaltungsort buchen, deswegen tun wir unser Bestes bei dem, was wir unter Kontrolle haben, und hoffen das Beste."
Die geringe Zahl von Veranstaltungsorten scheint der Grund dafür zu sein, dass die meisten Produktionen nur ein paar Tage laufen, anstatt Monate oder sogar Jahre wie in London oder New York. Die eigentliche Ursache für die kurzen Laufzeiten ist jedoch, dass es in Taiwan insgesamt noch immer keine richtige Kultur dafür gibt, regelmäßig ins Theater zu gehen, obwohl das Publikum allmählich wächst. "Aus der ganzen Welt reisen Menschen zum Broadway, aber in Taiwan würden nur wenige Einheimische in eine andere Stadt fahren, um ein Theaterstück zu sehen", glaubt Lee. "Wenn ich das Nationaltheater für sechs Monate hätte, würde mir wahrscheinlich nach zwei Wochen das Publikum ausgehen."
Der Aufbau einer Theatergänger-Kultur kann nicht über Nacht erreicht werden, doch die Grundlagen wurden bereits gelegt. Beispielsweise unternehmen manche Ensembles Schultourneen und veranstalten Seminare, um das Interesse junger Menschen an der Kunst anzuregen. Mehrere Truppen haben Ferienlager für Kindertheater organisiert, wo Kinder grundlegendes Wissen über Theater erhalten können. Hilfreich ist außerdem, dass das 1997 verabschiedete Kunsterziehungsgesetz Theater als Fach nennt, das im Kunstunterricht in Grund- und Mittelschulen behandelt werden soll. Hwang Mei-shu betont, dass es sich dabei nicht um professionelle Ausbildung handelt, die zukünftige Regisseure oder Dramatiker produzieren soll, sondern um ein Ventil für die Kreativität und Phantasie von Kindern. "Wenn sie groß werden, werden manche von ihnen vielleicht Dramatiker oder Schauspieler, manche von ihnen auch einfach nur Theaterfreunde", spekuliert er. "In jedem Fall ist das gut für das Theater."
Kritiken können ebenfalls hilfreich sein, doch in Taiwan sind sie selten. Ein Grund dafür sind die kurzen Laufzeiten der Produktionen. "Man sieht das Stück am ersten Abend, schreibt am kommenden Tag die Kritik und reicht sie bei der Zeitung ein, wo sie aus redaktionellen Gründen oder Platzmangel eine Zeitlang liegen bleibt", beschreibt Hwang. "Wenn die Leute die Kritik zu lesen bekommen, ist der letzte Vorhang vielleicht schon gefallen." Lee Huei-na ist indes der Ansicht, dass Kritiken zum Wachstum der Theatergruppen beitragen können, selbst wenn sie nicht rechtzeitig erscheinen. "Es gibt viele Ensembles, was bedeutet, dass das Publikum eine große Auswahl hat", begründet sie. "Mit einer miserablen Produktion kommt man vielleicht noch ungestraft davon, aber es könnte schwierig sein, bei der nächsten Produktion Tickets zu verkaufen."
In der Vergangenheit verschwanden viele Theatergruppen nach einer oder zwei Produktionen in der Versenkung, allerdings konnten manche sich halten und entwickelten sich gut. Hingabe zum Theater ist ein offensichtliches Muss, aber Glaube an die Macht der Stücke, Zuschauer zu verzaubern, ist von gleichrangiger Bedeutung. "Filme und Fernsehen sind allgegenwärtig, doch sie können nicht die hautnahe Erfahrung der Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum ersetzen", wirbt Hwang.
Es sieht also so aus, als ob Theater und Baseball etwas mehr gemeinsam haben als nur ihre Anfänge auf der Insel. Sie locken die Menschen von der Flimmerkiste und aus den Kinos weg, weil sie dem Publikum echtes Geschehen bieten, das sich vor ihren Augen entfaltet. Jubel über einen Home-run und Tränen über eine Tragödie bedeuten das Gleiche -- Live-Interaktion zwischen Spielern und Zuschauern, will sagen zwischenmenschlicher Austausch.
(Deutsch von Tilman Aretz)