Ein Familienunternehmen, das seit 94 Jahren Schreibpinsel herstellt, hat mit dem Verblassen der Tradition zu kämpfen.
Wenn der Kalligraf seine Kunst ausführt, kann der Pinsel angehoben, niedergedrückt oder verdreht werden, die Borsten manchmal eng aneinander und manchmal gespreizt, so dass die Tusche in der gewünschten Breite oder Dichte verlaufen kann. Künstlerische Fertigkeit ist von höchster Bedeutung, doch das Ergebnis ist zu keinem geringen Teil auch vom Schreibwerkzeug selbst abhängig.
Gemäß einer bekannten Legende wurde der chinesische Schreibpinsel vor rund 2200 Jahren von Meng Tian(蒙恬) erfunden, einem General, der in Nordwestchina stationiert war, um die feindlichen Barbaren in Schach zu halten. Archäologische Funde lassen indes den Schluss zu, dass Tierhaare sogar noch früher als Schreibutensilien benutzt wurden. Zwar ist ungeklärt, ab wann der Schreibpinsel gebraucht wurde oder wer ihn erfand, doch er wurde für alle Schriftstücke verwendet, ob amtliche Dokumente oder private Briefe, bevor westliches Schreibgerät wie Bleistifte oder Füllfederhalter aufkam.
Chinesische Einwanderer brachten den Schreibpinsel nach Taiwan mit, und Lieferanten zogen nach, da sie einen Markt erkannten. 1912 wurde in Fuzhou in der chinesischen Provinz Fujian die Firma Sam Yick Brush Pens gegründet. Im Jahre 1946 richtete das Unternehmen in Taiwan eine Zweigstelle ein und nannte sie Lam Sam Yick. Nach den Worten von Lin Ren-guei, Lam Sam Yicks Inhaber der dritten Generation und halb im Ruhestand, verkaufte die Firma in Taiwan nach ihrer Eröffnung zunächst Pinsel, die in ihrer Fabrik in Fuzhou hergestellt wurden. Lins Vater und sein Großvater, beides versierte Pinselmacher, begannen dann mit der Produktion von Pinseln vor Ort und verwendeten dazu Rohmaterialien aus China.
Weitergabe der Kenntnisse
Das Geschäft war gut, deswegen mussten andere Hersteller mit der Produktion beauftragt werden. Lam Sam Yick hat heute sechs örtliche Handwerker unter Vertrag. Laut Lin Jin-fu, der seit über zwanzig Jahren für Lam Sam Yick und andere Markenfirmen Schreibpinsel anfertigt, wurde die Kunst der Herstellung von Schreibpinseln von den Pinselmacherfamilien geheim gehalten. "In China waren es alles so große Familien, dass eine Menge Leute sowohl mit der Herstellung als auch mit dem Verkauf beschäftigt waren", berichtet er. Doch die Familien, die nach Taiwan expandierten, hatten oft nicht genügend Familienmitglieder, um alle Aspekte des Geschäfts zu erfassen, und mussten daher ihre Herstellungsgeheimnisse mit "Außenseitern" teilen, so dass Einheimische wichtige Kenntnisse aufnehmen konnten.
Lin Jin-fu hatte drei Jahre lang Schreibpinsel verkauft und verbrachte in den meisten Monaten von 30 Tagen 28 auf dem Mopedsattel, bevor er sich entschloss, das Handwerk selbst zu erlernen. Allerdings war das nicht einfach. Auch wenn ein Pinsel schlicht aussehen mag, so braucht ein Lehrling doch mindestens dreieinhalb Jahre, um die Grundlagen zu lernen. Nach Lins Angaben gibt es nur 50 bis 60 Pinselmacher in Taiwan, und die meisten von ihnen sind seit Jahrzehnten im Geschäft, wogegen junges Blut selten ist. "Der schwierigste Teil bei der Herstellung eines Schreibpinsels ist der, dass es zwar Standardschritte gibt, aber es gibt keinen Standard für jeden einzelnen Schritt", bemerkt Lin. Infolgedessen "haben Schreibpinsel verschiedener Pinselmacher unterschiedliche Eigenschaften, und verschiedene Benutzer haben selbst bei dem gleichen Pinsel ein anderes Gefühl".

Heutzutage spielt Kalligrafieunterricht in Taiwans Lehrplänen, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle, deswegen hat die Nachfrage nach Schreibpinseln stark abgenommen.
Die Bedeutung der Materialien
Die Unterschiede zwischen Pinseln fangen bei der Spitze an, die in der Regel aus Tierborsten gefertigt wird. Für die Spitze kann Haar jedes beliebigen Tieres verwendet werden, doch die Elastizität und Härte von Pinseln aus Haaren verschiedener Tiere ist vollkommen unterschiedlich. Rattenschnurrhaare, weichere Federn von Vögeln und Hirschfell sind allesamt verwendbar, auch wenn sich nicht alle Materialien für allgemeine Kalligrafie eignen oder kommerziell praktikabel sind. Hasen-, Ziegen- und Wieselhaare sind am gebräuchlichsten, da sie leicht zu beschaffen sind. Von diesen dreien ist Ziegenfell am weichsten und Hasenhaar am härtesten.
Einer der ungewöhnlicheren Pinsel ist der "Embryohaar-Pinsel", der mit den Haaren aus dem ersten Haarschnitt eines Babys gefertigt wird. Normalerweise werden der Name und das Geburtsdatum des Kindes auf den Pinselschaft eingraviert. Für die meisten Menschen ist ein solcher Pinsel eher ein Andenken als für den wirklichen Gebrauch bestimmt.
Für das ungeschulte Auge scheint es keine großen Unterschiede zwischen verschiedenen Arten oder Qualitäten von Tierhaaren zu geben, doch in Wirklichkeit sind die Unterschiede beträchtlich. Eine Pinselspitze aus Haaren mit besserer Qualität hält nicht nur länger, sondern nimmt auch leichter Tusche auf und ist besser kontrollierbar. China war immer schon der Hauptlieferant von Haaren, und Pinselmacher reisen daher oft dorthin, um geeigneten Nachschub ausfindig zu machen. Die besten Haarsorten sind sehr teuer. Als Reisen auf die andere Seite der Taiwanstraße noch verboten waren, kostete ein Tael (liang: chinesische Unze, 37,5 Gramm) Wieselhaar 8000 NT$ (186 Euro). Heutzutage schwanken die Preise sehr, übersteigen aber selten 20 000 NT$ (465 Euro) für ein Kilo. Allgemein ist das Haar umso teurer, je länger es ist, und der Teil des Tieres, von dem das Haar stammt, spielt beim Preis gleichfalls eine Rolle.
Es gibt 48 Schritte, um Haar in einen Schreibpinsel zu verwandeln. Zunächst muss das Haar gereinigt, sortiert und manchmal geglättet werden, um die natürliche Wellung bestimmter Tierhaare zu begradigen. Nach mehreren Ausrichtungen wird das Haar auf die gewünschte Länge geschnitten und zu einem Bündel verschnürt, das wie eine kleine Pinselspitze aussieht. Dies ist der "Kern" des Pinsels, der mit längeren Haaren eingehüllt wird, um die volle Spitze zu bilden. Die Größe und das Material des Kerns entscheidet, wie elastisch die Spitze ist. "Es gibt keinen Standard für seine Dicke oder Länge", verrät Lin Jin-fu. "Jeder Handwerker benutzt seine eigene Formel aufgrund seiner Erfahrung."
Wenn die Außenschicht fertig ist, wird die Spitze an einem Schaft befestigt, den es in allen möglichen Materialien gibt, von Elfenbein über Büffelhorn und Jade bis Plastik. Für Schäfte aus unterschiedlichen Materialien braucht man normalerweise verschiedene Lieferanten. Bambus ist das üblichste Material für Schäfte und eine wirtschaftliche Wahl für handelsübliche Pinsel, wobei am häufigsten Pfeilbambus verwendet wird. Wenn der Bambus in Abschnitte zerteilt ist, wird er in Ätznatron gekocht, um die Oberfläche zu beizen. Gleichzeitig wird er für die gewünschte Farbe entweder gebleicht oder gefärbt. Da Bambus von Natur aus nicht vollkommen gerade wächst, wird er nach Abschluss der Beiz- und Trockenphase weiter begradigt. "Zwei Dinge sind entscheidend: die Materialien und das Können des Herstellers", urteilt Lin.
Je nach Material -- besonders beim Schaft -- gibt es Pinsel zu Preisen zwischen 30 NT$ (0,69 Euro) und unbezahlbar. In der Regel würde ein Pinsel mit Bambusschaft zum Preis von rund 1000 NT$ (23 Euro) den Ansprüchen der meisten Benutzer gerecht werden. Avery Lin, Lam Sam Yicks Inhaber der vierten Generation, definiert die "vier Tugenden" eines Pinsels, womit er die Prinzipien bei der Pinselauswahl meint. Er erläutert, dass bei der chinesischen Kalligrafie jedes geschriebene Schriftzeichen mit einer vollkommen spitz zulaufenden Pinselspitze anfängt und endet, deswegen spielt die Fähigkeit des Pinsels eine große Rolle, wieder seine ursprüngliche Form anzunehmen. Bei einem guten Pinsel sollte daher die Spitze leicht zu einem Punkt zusammenlaufen, die Haare sollten eine gleichmäßige Länge haben, der Mittelteil der Spitze sollte voll und rund, das Ende der Spitze flexibel und dabei stark sein. Und natürlich muss man auch das Können des Benutzers und den Kalligrafiestil berücksichtigen.

Zwar fangen jetzt wieder mehr Menschen mit Kalligrafie als Hobby an, doch die Verkaufszahlen von Schreibpinseln steigen nur langsam.
Veränderungen auf dem Markt
Die Methode der Herstellung eines Schreibpinsels ist zwar seit Jahrhunderten unverändert, doch der Markt hat sich zweifellos dramatisch gewandelt. Lin Ren-guei erinnert sich, dass in seiner Kindheit der Schreibpinsel ein täglicher Gebrauchsgegenstand war, und von hochrangigen Regierungsbeamten in ihren schwarzen Limousinen bis zu armen Gelehrten auf ihren Drahteseln kam jeder in den Laden, um einen guten Schreibpinsel zu erstehen. Lin Jin-fu konnte, als er Pinselmacher wurde, in Dauerarbeit 3000 Schreibpinsel im Monat herstellen und trotzdem unterhalb der Nachfrage liegen. In den letzten Jahren konnte er sich viel mehr Zeit frei nehmen, ob es ihm passte oder nicht.
In Lin Jin-fus Anfangszeit waren Schulkinder die Hauptkundschaft, und billige Pinsel wurden zu Tausenden verkauft. Für Schüler von der Grundschule bis zur Oberschule waren Kalligrafieübungen Pflichtfach, und sie mussten mit dem Schreibpinsel einen Wochenbericht anfertigen, außerdem gab es zahlreiche Kalligrafiewettbewerbe auf lokaler und nationaler Ebene. Lieferanten wie Lam Sam Yick vertrieben ihre Ware über gewöhnliche Schreibwarenhandlungen, da sie es sich nicht leisten konnten, eigene Filialen auf der ganzen Insel zu betreiben. Heute schreiben die meisten Schulkinder nur ein paar Mal im Halbjahr auf die traditionelle Weise, lediglich ein paar Seiten für ihre Sommerferien, und Wettbewerbe sind sehr selten geworden. Die Verkaufszahlen sind zurückgegangen, und um im Geschäft zu bleiben, haben manche Lieferanten begonnen, Sprungseile und Tischtennisschläger zu fabrizieren. Nach Avery Lins Ansicht sind die Regierungspolitik und die Einstellung der einzelnen Schulen gegenüber Kalligrafie Schlüsselfaktoren beim Niedergang der Tradition und der Pinselverkäufe. Schulen setzen Kalligrafie nicht auf den Lehrplan, wenn die Regierung sie nicht dazu ermuntert. Doch in manchen Schulen gibt es durch die Förderung ihrer Schulleiter noch Kalligrafie als zusätzliche Unterrichtsveranstaltung.
Zwar waren die Schüler zahlenmäßig eine große Gruppe, doch sie kauften überwiegend billige Produkte. Schreibpinsel gibt es in sehr unterschiedlichen Preisklassen, doch alle sind handgemacht, deswegen sind bei unerheblichen Unterschieden bei Materialkosten die Arbeitskosten für den Marktanteil entscheidend geworden. Tatsächlich haben die gestiegenen Lohnkosten einheimischer Handwerker schon vor langer Zeit ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt für Schüler und Studierende zunichte gemacht -- dort dominieren nun chinesische Produkte. Einheimische Marken wie Lam Sam Yick mussten die Fertigung der preiswerteren Produktreihen nach China verlegen.
Anpassung an den Wandel
Im Zuge des Niedergangs des Marktes für billige chinesische Pinsel nahm Avery Lin eine wachsende Nachfrage für hochwertige Pinsel von einheimischen Herstellern wahr. Ein Grund für das Wachstum ist seiner Ansicht nach, dass die Leute weniger Kinder haben und diesen Kindern das Beste geben wollen, was sie sich leisten können. Ein anderer Grund ist der, dass immer mehr Menschen Kalligrafie als Freizeitbeschäftigung betrachten und oft sogar Unterricht nehmen. Das Wachstum in diesem Bereich ist jedoch langsam und gering.
Beständige 10 bis 20 Prozent von Lam Sam Yicks Pinseln werden nach Hongkong, Japan und Korea exportiert, doch der einheimische Markt für traditionelle Schreibpinsel ist seit Ende der neunziger Jahre um 30 Prozent geschrumpft. Um im Geschäft zu bleiben, hat Lam Sam Yick seine Produktpalette erweitert: Es wurden Pinsel für Aquarelle und Ölmalerei entwickelt, sogar Pinsel zum Reinigen von Monitoren. "Traditionelle Schreibpinsel sind immer noch das Hauptprodukt von Lam Sam Yick, doch die Realität ist so, dass die Marktlage düster ist und sich wahrscheinlich auch nicht bessern wird, daher brauchen wir eine Art Nebeneinkommen", begründet Avery Lin. "Pinsel herstellen ist alles, was wir können, und im Grunde genommen bedeutet es, wir machen alles, wo ein Haarbüschel an einem Schaft befestigt wird."
In einer Welt, wo technologischer Fortschritt oft alte Methoden überflüssig macht, hat es den Anschein, dass Lam Sam Yick mit einem Umsteigen auf Monitorpinsel besser dran wäre. Doch wenn ein Pinsel in der Hand eines versierten Kalligrafen wie ein begnadeter Tänzer reagiert, bleibt der traditionelle Schreibpinsel weiterhin unersetzlich -- vielleicht nicht als Schreibwerkzeug für den Alltag, sondern als notwendiges Instrument in der schönen Kunst der chinesischen Kalligrafie.
(Deutsch von Tilman Aretz)