Obwohl es noch früh am Morgen ist, ist das Haus bereits voller Gäste. Wenig später kommt ein junger Mann mit seinen Eltern und weiteren älteren Familienmitgliedern an. Kurz darauf betritt der Ehrengast, genauer gesagt der weibliche Ehrengast, das Wohnzimmer. Die Frau trägt ein prächtiges, rosa geblümtes Ballkleid, ihr Haar und Make-up sind perfekt gestaltet, und ihr Gesicht strahlt in einer Mischung aus Glück und Aufregung. Jede ihrer Bewegungen wird von einem Mann mit einer Videokamera aufmerksam aufgezeichnet.
Während die elegant gekleidete junge Frau höflich den Gästen Tee serviert, stecken die Ankömmlinge in jede der leergetrunkenen Tassen einen leuchtend roten Briefumschlag. Danach setzt sich die junge Frau auf einen hohen Stuhl nahe dem Familienaltar, wo ihre Mutter und eine weitere Frau ihr helfen, Paare wertvoller Ringe, Halsketten und goldener Armbänder anzulegen. Für einen Augenblick bedecken sie ihre juwelengeschmückten Hände mit einem roten Schal. Als nächstes schmückt die junge Frau die Haare ihrer Mutter mit Blumen. Der junge Mann, der jetzt auf der Bildfläche erscheint, ehrt seine Mutter auf dieselbe Weise. Das Paar wendet sich einander zu, sie tauschen Ringe aus und verbeugen sich vor dem Familienaltar und ihren Eltern. Die Videokamera verstummt. Daniel Lin und Amy Lin sind nun offiziell verlobt, und in der chinesischen Gesellschaft gelten sie als so gut wie verheiratet.
Die umfangreiche Verlobungsfeier dieses Paares ist typisch für solche Anlässe in Taiwan. Trotz des komplizierten Rituals ist die Zeremonie eine modernere, vereinfachte Version der ehemals noch aufwendigeren Bräuche, die chinesische Familien über Jahrhunderte hinweg praktiziert haben.
Heute existiert eine manchmal seltsam anmutende Mischung aus alten und neuen Bräuchen. Natürlich weichen einige zeitgenössische Paare dabei mehr vom traditionellen Zeremoniell ab als andere. Zeitungen berichten heute von Hochzeiten, die mit dem Brautpaar am Herzen liegenden Aktivitäten wie Bergsteigen, Go-Cartfahren und Floßfahrten gekoppelt sind. Während diese nach wie vor eher die Ausnahme denn die Regel sind, werden die traditionellen Formen von Verlobungen häufig dem urbanisierten und zunehmend moderneren Lebensstil in der Republik China angepaßt. Besonders im schnell-lebigen Taipei resultiert dies nicht selten in vereinfachten Zeremonien mit leichtem westlichen Beigeschmack.
Doppeltes Glück - so wünschen und verkünden es die über dem Zeltdach angebrachten Zeichen bei dieser Campinghochzeit. Manchmal gibt es eigenwillige Mischungen von alten und neuen Bräuchen.
Aber, die meisten Familien halten noch immer an den alten Ritualen fest. Mit einem Anflug von Stolz in seiner Stimme sagt der 31 Jahre alte Daniel Lin: "Ich mag die Traditionen - ich bin ein traditioneller Mensch." Viele Familien stimmen in ihren Ansichten mit ihm überein. Sie vermeiden Schlichtheit und unterwerfen sich den ausgefeilten Komplexitäten der Tradition. Häufig verbirgt sich hinter dieser Haltung der verständliche Stolz chinesischer Familien.
Fräulein Kang Chen-chen und Herr Chiu Hsien-chin, auch erst seit kurzem verlobt, geben zu erkennen, daß in der chinesischen Gesellschaft der Begriff "Gesicht" oder genauer "Gesicht bewahren" vielleicht aktueller ist als je zuvor. "Es ist wichtig, gut auszusehen, damit die Leute nicht über einen reden, und die Nachbarn nicht auf einen herabschauen", erklärt Fräulein Kang ihr Verlangen nach einer traditionellen Verlobung und fügt hinzu: "Wenn man die Zeremonie nicht in der herkömmlichen Weise begeht, hat man nichts herzuzeigen."
Gut auszusehen, ist natürlich für jedes Brautpaar wichtig, und chinesische Verlobungen und Eheschließungen sind gewiß ein Fest für die Augen - sowie für alle anderen Sinne. Die alten Sitten werden aber aus viel wichtigeren Gründen noch immer hochgeschätzt. Zu einem großen Teil reflektieren sie die Einstellung gegenüber der Ehe und dem Leben im allgemeinen.
Chinesen haben das Eheritual seit jeher in Ehren gehalten, größtenteils wegen der Notwendigkeit, Nachkommen zu haben, die den Fortbestand der Familie sichern. Dieses ist ein Verlangen, das für manche Leute ein häufiger, und vor allem für einige Ledige ein allzuhäufiger Gesprächsstoff sein kann. Besonders Personen mit höherer Bildung verschieben ihre Heirat, bis sie Anfang 30 sind. Ab einem Alter von 25 Jahren sind die jungen Leute zunehmend öfter entsprechenden Bemerkungen, direkten Nachfragen und sogar Vermittlungsangeboten ausgesetzt. Ein Junggeselle in seinen späten 30ern beklagt sich: "Wenn ich mich in Amerika aufhalte, taucht das Gesprächsthema, ob ich verheiratet bin, gar nicht erst auf, aber wenn ich nach Hause zurückkomme, ist die erste Frage meist: 'Bist du schon verheiratet?'''.
Trotz des wachsenden Einflusses der lockeren, mehr am Individuum orientierten westlichen Lebenshaltung, bleibt die chinesische Anschauungsweise weitgehend unangefochten. Der Aufwand, die hohen Ausgaben und das damit verbundene soziale Prestige, die in der Republik China allgemein üblich sind, zeigen deutlich, daß die Heirat immer noch weit mehr ist als eine persönliche Angelegenheit, die die Vereinigung von Mann und Frau symbolisiert.
"Eine Hochzeit ist das Anliegen zweier Familien, zweier Familiengeschlechter, und nicht das zweier Individuen", erklärt Alexander Yin, Professor für Anthropologie an der Staatlichen Universität Taiwan, der sich auf die chinesische Gesellschaft spezialisiert hat.
"Auch heute noch", sagt Yin, "betrachten einige wohlhabende Familien 'Hochzeit' als ein Mittel, wichtige geschäftliche Allianzen einzugehen." Daß die meisten Paare eher aus Liebe als wegen einer Geschäftsverbindung heiraten, dürfte die Norm sein. Doch können moderne Chinesen über die Rolle der Familie in der Institution "Ehe" keineswegs hinwegsehen. Die Hochzeitszeremonien heben diese Tatsache noch immer hervor. Eine junge Frau erinnert sich, daß ihr älterer Bruder vor ihrer Hochzeit erwähnte: "Du heiratest nicht nur einen Mann, sondern eine ganze Familie."
Daniel und Amy kommen beide aus großen, wohlhabenden Familien mit einem weit zurückreichenden Stammbaum. Orson Lin, Daniels älterer Bruder, erzählt, daß seine Familie ihre Abstammung auf einen Beamten in der Ch'ing-Dynastie zurückführt. Für das Ende einer solchen, hoch in Ehren gehaltenen Generationenfolge oder den Bruch der lang bestehenden Familientraditionen verantwortlich zu sein, ist sicher nichts, was willkürlich getan werden kann.
Doch ignorierten Daniel und Amy ein ehemals gewichtiges Tabu: Sie heirateten, obwohl sie den gleichen Familiennamen, Lin, tragen. Orson Lin meint, daß er, als er vor 13 Jahren heiratete, gar nicht an eine solche Heirat zu denken gewagt hätte.
Wie die meisten jungen Paare heute, trafen Daniel und Amy ihre eigene Partnerwahl, und die Eltern hatten keine Einwände. Dennoch stellten sie einen traditionellen Antrag und präsentierten die Hochzeit als Transaktion zwischen zwei Familien. Obwohl beide Familien von den Plänen des Paares wußten, ließ Daniel den Heiratsantrag von einem professionellen Brautwerber an Amys Eltern und Verwandte stellen. In Begleitung seiner Eltern reiste er von im Norden Taiwans gelegenen Taipei in den Süden nach Tainan, zum Wohnort von Amys Eltern. Der aus Tainan stammende Brautwerber begleitete sie als Mittelsmann für die Hochzeitsvorbereitungen zum Haus der Braut.
Einige Paare erbitten den Beistand eines Brautwerbers wegen dessen Sachkenntnis in bezug auf Verlobungs- und Hochzeitstraditionen, die von einer Stadt zur anderen oder manchmal von einem Ort zum nächsten deutlich abweichen können. Häufiger jedoch spielt ein älterer Verwandter oder ein allseits respektierter Freund der Familie die Rolle des Vermittlers. Im Falle von Fräulein Kang und Herrn Chiu übernahm sein Onkel die Aufgabe des Brautwerbers. Wer auch immer sich als Vermittler zur Verfügung stellt, es sollte jemand sein, dessen gutes Glück im Leben das Paar segnet.
Professor Yin erläutert, daß Brautwerber auch aus praktischeren Erwägungen von Bedeutung seien. Da Hochzeiten und Verlobungen normalerweise eine ganze Reihe von wirtschaftlichen Transfers zwischen den Familien mit einbezögen, und in den Verhandlungen über die Art der Bräuche, denen gefolgt werden soll, bestimmt werde, könne eine dritte Partei hilfreich sein, eventuelle Konflikte während der "Verhandlungen" zu bereinigen. Lin zufolge gleicht der Vermittler in seiner Funktion einem Schmiermittel, auch bemerkt er: "Es ist eine sehr gewiefte Technik."
Verhandlungsstoff sind vor allem die Art und Weise des finanziellen Austausches, wobei die Ausgaben, aber auch das Konzept des "Gesichtes" mit berücksichtigt werden müssen. Beide Seiten haben sich über die Höhe des P'in Chin (聘金), des Geldbetrags, den die Familie des jungen Mannes der Familie des Mädchens zur Verlobung anbieten will, zu einigen, beziehungsweise darüber, ob es überhaupt ein P'in Chin geben soll. Ferner müssen Vereinbarungen getroffen werden, welche Gegenstände die Mitgift der Braut enthalten wird, wieviele Geschenke zur Zeit der Verlobung ausgetauscht werden - meistens ein Vielfaches der Zahl Sechs, die in der chinesischen Numerologie "Glück" bedeutet - und die Zahl der "Verlobungskuchen", die der Familie der Braut geschenkt werden, um die Verlobung zu verkünden.
Während diese Verhandlungen vor ein oder zwei Generationen aus finanziellen wie auch aus "Gesichtsgründen" noch ein großes Anliegen waren, haben sie heute in der Regel die Form eines freundschaftlichen Gesprächs. Viele Familien sind stolz darauf, nicht mehr soviel Wert auf den materiellen Aspekt einer Hochzeit zu legen. "Gesicht zu wahren", hat eine neue Bedeutung gewonnen.
Dennoch gibt es gelegentlich Berichte von Hochzeiten, die abgesagt wurden, weil die Verhandlungen zwischen den beiden Familien zusammenbrachen. "Manchmal vergessen die Familien, warum sie verhandeln", klagt Yin. Doch fügt er hinzu, daß die größten Probleme vor der Verlobung, während der Verhandlungen über die Feinheiten des Zeremoniells, aufträten.
In der Vergangenheit kamen Mann und Frau normalerweise aus benachbarten Gebieten, so daß die Familien mit den jeweiligen Traditionen vertraut waren. Aber heute, besonders in einer großen Stadt wie Taipei, stammen die Familien aus über ganz Taiwan verstreuten Orten wie auch aus vielen Gebieten des chinesischen Festlandes. Ferner wurden in jüngster Zeit zunehmend religiöse Unterschiede zum Problem.
Daniel und Amy lösten die Schwierigkeiten auf herkömmliche Weise. Seine Familie lebt in Taipei und ihre im südlichen Tainan, einer Stadt, die für ihre besonders umfangreichen Hochzeitsbräuche bekannt ist. Die Verlobung fand, wie es üblich ist, in ihrer Familie statt und wurde deshalb gemäß den Familienbräuchen der Braut gefeiert. Die Hochzeit fand in Taipei statt, und dabei richtete man sich nach den Traditionen von Daniels Familie.
Außer zu einer Übereinstimmung zu gelangen, welchen Bräuchen gefolgt werden soll, haben die Familien auch einen Termin für die Hochzeit und die Verlobung festzulegen. Dies ist eine viel zu gewichtige Entscheidung, als daß sie Amateuren überlassen werden könnte: Die Götter entscheiden. Wie die meisten Paare, folgten Daniel und Amy den überlieferten Praktiken zur Wahl eines glücksbringenden Tages. Sie schrieben ihre Geburtsdaten und die ihrer Eltern gemäß dem Mondkalender nieder. (Diese Daten sind im Chinesischen als die "Acht Schriftzeichen" (八字) bekannt: Zwei Zeichen repräsentieren das Jahr, zwei den Monat, zwei den Tag und zwei die Stunde der Geburt.) Danach gingen sie zum Tempel. Dort wählte ein auf die Wahl eines günstigen Hochzeitstermins spezialisierter Wahrsager den für alle Beteiligten günstigsten Termin aus.
Obwohl viele Chinesen noch immer große Anstrengungen zur Wahl eines "guten Tages" unternehmen, gibt es dennoch einige, die scherzhaft feststellen, daß sich der chinesische Almanach zugunsten moderner Bequemlichkeit gewandelt habe. Verdächtigerweise, so sagen sie, fallen heute viele Hochzeiten auf einen Sonn- oder Feiertag.
Außer, daß die "Acht Schriftzeichen" zur Festsetzung eines günstigen Hochzeitstermins herangezogen werden, wird auch geglaubt, daß sie anzeigen können, ob das Paar gut zusammenpaßt. Heute werden zwar nur noch wenige Hochzeiten wegen nicht harmonierender Geburtsdaten abgelehnt, doch holen sich immer noch viele Familien eine Bestätigung durch die "Acht Schriftzeichen". Die Familie des Mannes legt die Schriftzeichen der Frau auf den Familienaltar, und die Familie des Mädchens verfährt mit denen des Mannes auf die gleiche Weise. Sie verbleiben dort für drei Tage.
"Wenn nichts Schlechtes passiert", erläutert Yin, "dann ist es gut. Sollte sich etwas Glückliches ereignen, ein Lotteriegewinn oder so, dann ist das natürlich um so besser. Das bedeutet dann, daß ihr Schicksal zur Familie paßt."
Nachdem die Vereinbarungen getroffen, ein Termin festgelegt und das Schicksal erforscht wurden, schreitet man zur Verlobung. Die Rituale, die mit einer modernen Verlobungszeremonie einhergehen, sind fast so umfangreich wie die bei der eigentlichen Hochzeit. Außerdem sind sie traditionsgebundener und unterliegen geringerem westlichen Einfluß. Viele junge Leute müssen sich dabei auf andere verlassen, um all die vorkommenden Details zu erklären, und auch dann sind sie oft noch unsicher, was die einzelnen Handlungsabläufe bedeuten. "Unsere Eltern haben einfach alles vorbereitet und uns dann nur gesagt, was zu tun sei", sagt Daniel.
May Hsü, die vor einigen Jahren heiratete, meint, daß ihr wie vielen anderen jungen Paaren von dem Aufwand, mit der ihre Eltern die Verlobung geplant hatten, eher die Lust genommen worden sei. Ihre Mutter jedoch sei ungehalten darüber gewesen, daß die Verlobung der Tochter soviel einfacher verlaufen sollte als ihre eigene. Ihr Vater habe ihr damals erklärt, warum der ganze Aufwand so wichtig gewesen sei, und heute stimmt sie ihm zu. Seine Erklärung gründete sich auf die traditionelle chinesische Lebenseinstellung, derzufolge die Braut nicht mehr zur Familie gehört, sobald sie erst einmal verheiratet ist.
"Wir tun dies alles für dich", erinnert sich May der Worte ihres Vaters. "Sie kennen doch das Sprichwort: 'Eine Tochter zu verheiraten, ist als schütte man Wasser aus dem Haus'. Das ist dann die letzte Feier in der eigenen Familie."
Außer, daß sie kompliziert ist, kann eine chinesische Verlobung auch ein extrem teures Unterfangen sein. Einige Familien geben weit über 5 000 DM für die Geschenke und das Bankett für die Freunde und Bekannten aus - ein hoher Betrag für örtliche Verhältnisse.
Verlobungsgeschenke für die Braut werden in Paaren und im glücksbringenden Vielfachen der Zahl Sechs überreicht.
In Daniels und Amys Fall zählten zu den Geschenken vor allem Kleidung und nützliche Gebrauchsgegenstände. Ein unter den Geschenken für die Braut erwarteter Bestandteil sind kostbare Schmuckstücke, oft aus purem Gold, die aus leicht verständlichen symbolischen Gründen paarweise verschenkt werden.
Andere Paare, wie Fräulein Kang und Herr Chiu, tauschten traditionelle Geschenke aus. Ihre Familie erhielt zum Beispiel Räucherstäbchen und Knallkörper für den Hochzeitstag, einen Sack Reis, um das Paar mit einer immer vollen Speisekammer zu segnen, und ein großes Stück rohes Schweinefleisch (zu manchen Zeiten war es Brauch, ein ganzes Schwein zu verschenken), das von der Familie der Braut nach der Zeremonie gekocht wird. Die Familie von Fräulein Kang präsentierte dem Verlobten Kleider, komplett von Kopf bis Fuß, einschließlich Brieftasche, Gürtel, Schuhen und sogar Geld in allen Taschen.
Geschenke, die Fruchtbarkeit symbolisieren, sind der Beweis, daß chinesische Eltern noch immer von ihren neu verheirateten Kindern erwarten, daß diese so schnell wie möglich damit beginnen, Nachwuchs zu produzieren. Die Familie von Amy überreichte Daniel ein großes Bündel Bananen; weil diese in großen Büscheln wachsen, symbolisieren sie Kinderreichtum.
Die Geschenke können auch ein P'in Chin enthalten, das traditionell der Familie der Braut geschenkt wurde, um einige Gegenstände für die Mitgift zu kaufen. Herr Chiu stellte das P'in Chin für Fräulein Kang, drei Bündel frischer 500 NT$-Noten, in einer roten Schachtel zur Schau. Heute verlangen allerdings viele Eltern kein P'in Chin mehr. "Unsere Tochter ist nicht käuflich", heißt die typische Erklärung. Auf der anderen Seite, sagen sie, werde die Braut dafür nur eine bescheidene Mitgift in die Ehe mitbringen.
Für die Familie des jungen Mannes ist es jedoch noch immer eine Angelegenheit des Stolzes, darauf zu bestehen, das Geld zu geben. In diesem Fall nimmt die Familie der Braut das Geld an und gibt es dann großzügig zurück. Gelegentlich veranlaßt dieser beiderseitig "Gesicht wahrende" Austausch manche Familien dazu, ein außerordentlich großes P'in Chin zu geben, in manchen Fällen eine Million NT-Dollar, wohl wissend, daß es zurückgegeben wird - um dann womöglich dorthin zurückgegeben zu werden, wo es zuvor geborgt wurde.
Beim Verlobungstee erhält die Braut von den Verwandten des Bräutigams, denen sie sich bei dieser Gelegenheit vorstellt, rote Briefumschläge mit Geld, das traditionell die Grundlage für das Privatvermögen der Frau bildet.
Der Verlobungstee dient dem Bräutigam traditionellerweise dazu, seine zukünftige Frau vorzustellen.
Daß die Braut Tee anbietet, ist die traditionelle Form für einen jungen Mann, seine zukünftige Braut den älteren Familienmitgliedern vorzustellen. Die Gäste trinken eine Tasse Tee, um auf diese Weise das Paar mit vielen Söhnen zu segnen und geben ihre Tassen, in die jeder einen roten Umschlag mit einem Geldgeschenk gesteckt hat, zurück.
Dies ist ein Zeichen, daß man sie in der Familie akzeptiert. Ab diesem Punkt redet die Neuverlobte die zukünftigen Schwiegereltern und Verwandten in der gleichen Weise an, wie der Bräutigam selbst.
Auch war diese Zeremonie für die Schwiegertochter traditionell eine Möglichkeit, finanzielle Unabhängigkeit in ihrer neuen Familie zu gewinnen. Vor nicht allzu langer Zeit, als die Frau in den finanziellen Angelegenheiten im Haushalt des Mannes nur wenig mitzureden hatte, war ihr "Teegeld" der Grundstock zu eigenem, privatem Vermögen. Und über dieses Geld Fragen zu stellen, wagte der Ehemann nicht.
Die Verlobungsrituale müssen aus traditionellen Gründen vor Mittag beendet werden. Wenn sich die Gäste nach dem Verlobungsessen verabschieden, vermeiden sie die Abschiedsformel "Auf Wiedersehen", weil dieser Ausdruck an dieser Stelle bedeuten würde, daß die Begegnung nicht erfolgreich war, und die ganze Zeremonie erneut durchgeführt werden müßte.
Obwohl Daniel und Amy erst in einem Monat heiraten werden, gehen ihre Familien und Freunde davon aus, daß es keinen Weg zurück gibt. Es ist selten und für eine chinesische Familie nahezu unvertretbar, eine Verlobung zu brechen. Professor Yin sagt, daß nach all den großen Ausgaben und Vorbereitungen ein Bruch nicht nur eine große Verlegenheit bereiten würde, es wäre, "als ob man ein Naturgesetz bricht."
Die Zeit zwischen Verlobung und Hochzeit ist zu kurz und zu lang. Hochzeitsphotos müssen aufgenommen, Kleider für das Hochzeitsbankett ausgesucht, Einladungen verschickt, Plätze in einem Restaurant gebucht werden, und man muß auch Pläne für die Flitterwochen schmieden. Doch plötzlich ist der wichtige Tag da.
Bei Daniel zuhause ist an diesem glückverheißenden Sonntagmorgen jeder sehr beschäftigt. Einige arrangieren die Blumen (es werden beim heutigen Abendbankett mehr als 50 kunstvolle Blumengestecke zu sehen sein), während andere das Mittagessen für die zahlreich erschienenen Verwandten vorbereiten. Bald ist die Hochzeitsgesellschaft des Bräutigams fertig angekleidet und wartet, um zum verabredeten Zeitpunkt zum Haus der Braut zu fahren. Es ist eine übliche symbolische Geste, daß der Bräutigam die Braut zu Hause abholt und sie zu seinem Heim mitnimmt. Dieser Vorgang und die zahlreichen, umfangreichen Bräuche, die damit verbunden sind, repräsentieren weit mehr als alles andere die Hochzeitszeremonie.
Mit Ausnahme der wenigen Chinesen, die eine kirchliche Trauung vollziehen, werden bei einer chinesischen Hochzeit keine persönlichen Versprechen gegeben. Das Paar wird auch zu keinem Zeitpunkt formell geeint. In den Anschauungen der meisten Leute ist der Zeitpunkt, an dem die Braut in Begleitung des Bräutigams ihr Elternhaus verläßt, der Moment, der wohl am deutlichsten demonstriert, daß eine Veränderung im Leben der Braut stattgefunden hat. Und dies ist seit alters her ein besonders emotionaler Augenblick. In früheren Zeiten wurde von der Braut erwartet, daß sie bei ihrem Auszug aus dem Elternhaus weinte - wenn nötig, half die Mutter nach, um das Fließen der Tränen zu ermöglichen.
Ehe Daniel zum Haus der Braut aufbricht, opfert er seinen Vorfahren am Familienaltar Räucherstäbchen. Als er beginnt, fängt gleichzeitig die Videokamera an zu surren.
Wie viele andere Paare halten Daniel und Amy alle Momente des hochzeitlichen Geschehens auf dem Band fest. Auch ein Photograph begleitet sie vom Anfang bis zum Ende.
Daniel und einige seiner Verwandten begeben sich, dicht gefolgt vom Kameramann, nach unten und gehen aus der Haustür. Seine Eltern bleiben zurück, um ihre neue Schwiegertochter bei der Ankunft zu begrüßen. Als Daniel abfährt, künden etliche Knallkörpersalven den Augenblick an. Eine Karawane von sechs Wagen (die Sechs erneut als Glückszahl) tritt die Reise zum Wohnort der Braut an. Auf dem Weg springt der Kameramann bei Ampeln aus dem Wagen oder er schiebt sich durch das Sonnendach, um eine bessere Kameraeinstellung zu finden.
Obwohl Amys Familie in Tainan lebt, haben sie auch ein Apartment in Taipei, wo Daniel seine Braut abholen wird. Andere, nicht in derselben Stadt lebende Paare mieten unter ähnlichen Umständen eine Hotelsuite, die ihr Heim repräsentiert. Mancher Bräutigam hält sich jedoch strikt an die Tradition und unternimmt eine weite Fahrt zum Wohnort der Braut.
Bei der Ankunft wird Daniels Wagen erneut von Knallkörperkrachen und einem kleinen, ein Tablett mit zwei Orangen haltenden Jungen begrüßt. Dies symbolisiert die ehelichen Freuden, und Daniel muß dem Kind einen roten Umschlag mit Geld geben, ehe er weitergehen kann. Im Apartment ist alles in heller Aufregung, doch Amy sitzt ruhig in einem Seitenzimmer und wartet in ihrem weißen Hochzeitskleid mit weißen Handschuhen. Daniel betritt den Raum, und sie folgt ihm alsbald voll Vertrauen aus dem Zimmer. Eine Frau bemerkt, daß Amy Glück habe, weil von ihr nicht verlangt werde, sich allzu bescheiden und verschämt zu gebären, wie das von Bräuten zu ihrer Zeit üblich war. Zusammen mit Amys Eltern verbeugt sich das Paar vor dem Altar und opfert Räucherstäbchen. Danach werden ihnen Schälchen mit einer süßen Reisbällchensuppe gereicht. Kurz darauf gibt ihnen einer der Kameramänner Anweisungen, etwas langsamer zu essen. Auch das ist eine neue Wendung in der Tradition.
Bald ist es Zeit abzufahren. Amys Eltern werden nicht mit ihnen gehen, da sie nun den Überlieferungen gemäß nicht mehr für ihre Tochter verantwortlich sind. Früher nahmen die Eltern nicht einmal am Hochzeitsmahl teil, und wenn die Braut das Haus verließ, schlugen sie symbolisch hinter ihr die Tür zu. Ein Bruder hatte dann eventuell noch Wasser auf die Sänfte geschüttet, in der sie weggetragen wurde. Wie Wasser, das ausgeschüttet wurde, war es den Töchtern in früheren Zeiten nicht möglich zurückzukehren, es sei denn als Gast.
Als Amy durch die Tür ihres neuen Zuhauses schreitet, ist dies ein kritischer Augenblick. Alles andere an diesem Morgen wurde genau festgelegt, denn auch dieser glücksverheißende Tag wurde zusammen mit dem Verlobungstermin gemäß den "Acht Schriftzeichen" bestimmt. Die Tradition verlangt, daß Amy nicht auf die Türschwelle tritt, wenn sie sie überquert, da das einem Affront gegen die neue Schwiegermutter gleichkäme.
Ist das Paar erst einmal angekommen, betet es gemeinsam mit Daniels Eltern am Familienaltar. Auf diese Weise wird Amy den Vorfahren der Familie vorgestellt. Danach gehen sie in das Zimmer, das ihr Platz in dem Haus sein wird, denn ihr Leben als Ehepaar wird damit beginnen, daß sie mit Daniels Eltern zusammenleben.
Im Zimmer läßt sich das Paar auf zwei Stühle nieder, die dem Bett gegenüberstehen. Auf diesen ausgebreitet liegt eine Hose, auf deren zwei Hosenbeinen sie sitzen. Dieser Brauch symbolisiert, daß die beiden von nun an Teil eines Paares sind. Als nächstes wird ihnen süßer Tee gereicht und Amy gibt den sie Bedienenden rote Umschläge mit Bargeld. Schließlich ist es Zeit für die Braut, in ihrem neuen Zimmer alleine gelassen zu werden, um sich für das abendliche Festessen auszuruhen.
Das Hochzeitsessen, das normalerweise in einem großen Restaurant oder in einem Hotel stattfindet, ist das bedeutendste soziale Ereignis für nahezu jedes neuverheiratete Paar. Die wichtige Rolle, die das Bankett spielt, spiegelt die starke familiäre und soziale Orientierung chinesischer Hochzeiten wider. Das Festessen war für die Eltern des Bräutigams traditionellerweise eine Methode zu verkünden, daß sie eine neue Schwiegertochter in die Familie aufgenommen hätten, und daß die Generationenfolge bald fortgesetzt werden würde.
Da Daniel und Amy aus reichen, wohlhabenden Familien stammen, wird ihr Festessen ungewöhnlich umfangreich und extravagant sein: Es werden etwa 1 200 Personen teilnehmen. Bei der Hochzeit eines typischeren Paares würden etwa 300 Personen bei dem Ereignis anwesend sein.
Als die Gäste in der üppigen Festhalle in Taipeis Grand Hotel ankommen, unterschreiben sie im Gästebuch und überreichen ihre Geldgeschenke, wiederum in roten Umschlägen. Das Geld, das anstelle von Hochzeitsgeschenken gegeben wird, dient größtenteils dazu, das Bankett zu finanzieren. Als die meisten Tische besetzt sind, treffen Braut und Bräutigam ein. Daniel betritt den Raum zuerst, mit dem Trauzeugen an seiner Seite. Die Menge applaudiert laut. Amy, in einem weißen Kleid mit Schleppe, folgt an der Seite ihres Vaters. Die Menge klatscht noch lauter. Eine Brautjungfer und zwei kleine Kinder bilden den Schluß der Prozession. Ihr Eintritt wird durch das Geräusch von auf Tonband aufgenommenen Knallkörpern angekündigt, und ein Orchester spielt ein Hochzeitslied. Die Prozession schreitet feierlich auf dem roten Teppich zwischen den überfüllten und lärmenden Tischen entlang.
Der Gang durch die Menge, der zusätzliche Brautzeuge, die Brautjungfer und die Begleitmusik sind einige der westlichen Elemente, die bei lokalen Hochzeiten mehr und mehr gebräuchlich werden. Obwohl viele Paare noch immer zu zweit den Saal betreten und eher ungezwungen zu ihrem Tisch an der Frontseite des Saales gehen, tragen die meisten Bräute bei ihrem ersten Auftritt ein Hochzeitskleid westlicher Manier - darunter versteckt tragen sie jedoch möglicherweise Schuhe in der traditionellen Hochzeitsfarbe Rot.
Am Ende des Gangs kommen Amy und Daniel bei einer einfachen Bühne an. Der Kameramann filmt sie noch immer, und seine hellen Lampen sind strategisch über den ganzen Raum verteilt. Während das Paar vor einer Bühne steht, auf der die Eltern und einige älteren Familienmitglieder stehen, bereitet er alles für eine Nahaufnahme vor.
Noch ehe das Mahl beginnt, wird eine weitere Zeremonie für die Gäste ausgeführt, die hauptsächlich in einem Austausch von Ringen und Reden zu Ehren der Brautleute besteht. Eine junge Frau beschreibt den Inhalt der Reden als "schöne Worte, ein Haufen schöner Worte".
Die meisten Paare laden nur einen Redner ein, jemanden, der in der Gesellschaft großes Ansehen genießt, um für sie zu sprechen. Aber im Fall von Amy und Daniel müssen sechs Reden durchgestanden werden.
Das Paar geht durch den Gang zurück und steht glücklich vor den Freunden und Verwandten, die sie mit Luftschlangen und Hochrufen überhäufen. Nach einer kurzen Pause betreten sie erneut die Festhalle. Diesmal trägt Amy ein Abendkleid mit rosa Blumen und auch ihre Frisur hat sie geändert. Die Kameramänner haben sich plaziert, und die Menge begrüßt das Paar mit wiederholtem Applaus.
Amy wird, wie die meisten chinesischen Bräute, ihre Garderobe während des Banketts einige Male wechseln. Dies ist eine Sitte aus der Zeit, als Frauen ihre Kleider für die Hochzeit noch selber nähten. Die zahlreichen Hochzeitskleider waren für die Bräute eine gute Gelegenheit, der Schwiegermutter ihre Schneider- und Stickkünste vorzuführen. Heute jedoch sind die Anforderungen der Schwiegermütter nicht mehr so hoch, und die meisten Bräute leihen sich Brautkleider.
Als das Bankett mit den traditionellen 12 Gängen erst einmal begonnen hat, bleibt Daniel und Amy kaum eine Gelegenheit zur Rast. In Begleitung ihrer Eltern besuchen sie jeden der 100 Tische und stoßen mit ihren Gästen an. Die Kameraleute zeichnen jede Bewegung auf. Das Paar trinkt Tee statt Alkohol, eine weise Entscheidung angesichts der zahlreichen Tische. Da die beiden wußten, daß ihnen nicht viel Zeit zum Essen bleiben würde, haben sie, bevor sie den Festsaal betraten, schon ein kleines Mahl zu sich genommen.
Schließlich nähert sich das großartige Essen seinem Ende, und die Gäste beginnen, sich zu verabschieden. Daniel und Amy warten gemeinsam mit ihren Eltern am Ausgang, um sich von jedem persönlich zu verabschieden. Amy hat es ein letztes Mal fertiggebracht, ihre Garderobe, Frisur und Schmuck zu wechseln. Während die meisten Bräute für diesen Moment im traditionellen, roten Ch'i P'ao (旗袍), einem langen, enganliegenden und bis zum Hals geschlossenen Kleid erscheinen, hat sich Amy für ein pastellgrünes, langes Kleid entschieden. Sie hält ein Tablett mit Zigaretten und Süßigkeiten, die als letztes Geschenk für die Gäste gedacht sind, während sich Daniel um das Händeschütteln kümmert.
Dies ist eine besondere Gelegenheit, um jeden Gast einzeln zu sehen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Es ist nach einem langen, mit Aktivitäten vollgepackten Tag jedoch sehr ermüdend, und Daniel kann nicht umhin, sich an einen früher an diesem Tag gemachten Scherz seines Bruders zu erinnern, der bemerkt hatte, eine Hochzeit könne einen viel leiden lassen. "Nachdem du so viele Hände geschüttelt hast, sind deine Hände tatsächlich wund."
Es ist schon spät, und schließlich sind auch die letzten Gäste gegangen. Taipei hat ein weiteres, glücklich verheiratetes Ehepaar. Und die einzigen, die zu diesem Zeitpunkt noch erschöpfter aussehen als Daniel und Amy, sind die Kameraleute.
(Deutsch von Markus Fürst)
Die "rote Bombe"
Seit Jahrhunderten schon verkündet das persönliche Überreichen oder die postalische Versendung eines großen, roten Briefumschlags ein bevorstehendes festliches Ereignis. Und häufig wird diese Farbe noch durch stilisierte Doppelzeichen in Blattgold verstärkt; sie bedeuten "Freude" - und das ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß es sich um die Einladung zu einer Hochzeit handelt.
Nur wird der rote Briefumschlag in Taiwan auch scherzhaft "rote Bombe" genannt. Mit gutem Grund: "Wenn sie einen trifft, muß man zahlen", so die Erklärung von Alexander Yin, einem Professor für Kulturanthropologie an der Staatlichen Universität Taiwan. Denn die Einladung setze lang schon gültige soziale Konventionen in Bewegung.
Von jedem der zu einem chinesischen Hochzeitsbankett Geladenen wird erwartet, daß er seine Glückwünsche für das junge Paar mit einer angemessenen Menge Bargeld unterlegt. Traditionellerweise wird dieses Geld in roten Briefumschlägen überreicht, die etwas größer sind als ein 1 000 NT$-Schein.
Wenn die Gäste am Festtag im Bankettsaal des Restaurants eintreffen, wartet dort ein langer, mit lächelnden Verwandten und engen Freunden des Brautpaares besetzter Empfangstisch auf sie. Nachdem sie ihre Namen in das Hochzeitsbuch eingetragen haben, überreichen die Gäste der dafür verantwortlichen Person ihre roten Umschläge, die diese sofort öffnet und Namen sowie die beigebrachte Geldsumme in einem besonderen Hochzeits-Rechnungsbuch notiert. Geheime oder anonyme Geldgeschenke gibt es nicht, denn die Familie behält das Buch als wichtige Referenz, um zu bestimmen, wie viel sie bei Hochzeiten in anderen Familien zurückzugeben hat.
Eine Durchschnittsperson gibt ungefähr 1 000 NT$, umgerechnet etwa 40 US$. Vorgesetzte, wie zum Beispiel der Firmenchef, schenken hingegen vielleicht 2 000 NT$, während nahestehende ältere Verwandte unter Umständen noch tiefer in die Tasche greifen. Diese Bargeld-Geschenke genießen ein hohes Ansehen als praktikable Lösung sowohl, um die Freude über das festliche Ereignis auszudrücken, als auch um einen aktuellen Bedarf zu decken. Jede Person zahlt mehr oder weniger selbst für den Abend des Schlemmens und Trinkens und hilft somit, die andernfalls horrenden Kosten für die Familie des frisch verheirateten Paares zu verringern. In einigen Fällen machen die frisch Vermählten allerdings auch Profit dabei.
Professor Yin behauptet, daß sich die Tradition des Hochzeitsgeldes während des Zweiten Weltkrieges auf dem chinesischen Festland entwickelt habe. Zu dieser Zeit seien viele junge Leute der Regierung bei deren Rückzug aus Nanking ins Landesinnere gefolgt, um der Front der japanischen Streitkräfte zu entgehen. Da die Menschen in dieser besonders harten Zeit für extravagante Hochzeiten zu arm und viele außerdem von ihren Familien getrennt gewesen seien, habe ein Paar lediglich seine Heirat bekanntgegeben, und Freunde hätten den beiden für den Kauf des Lebensnotwendigen etwas Geld geschenkt.
Auch nach dem Krieg wurde diese Sitte beibehalten, und später, als viele dieser studentischen Flüchtlinge 1949 erneut der Regierung folgten - diesmal nach Taiwan -, wurde der Brauch auch hier populär. Und durch das Faible der Chinesen für Feinheiten sowie das Zurückzahlen jedweder Schulden wurde daraus mit der Zeit die heutige ritualisierte Form.
Für manche Leute ist das Hochzeitsgeld eine Möglichkeit, Freundschaften, sowohl auf der geschäftlichen wie auch auf der persönlichen Ebene, zu bestätigen oder zu stärken, manchmal hingegen dient es auch dazu, eine Beziehung zu beenden. "Wenn jemand von Bedeutung weniger schenkt als erwartet, oder eine normale Person eine ungewöhnlich große Summe schickt, versuchen die Familien", so Yin, "herauszufinden, warum." Es sei, sagt er, "eine Art Kunst, dieses Signal, diesen subtilen Wink mit den Augen" zu deuten.
Unter einer kleinen, aber wachsenden Anzahl junger Leute jedoch wird dieser mit den Hochzeiten verbundene Geldtausch zu einem wunden Punkt. Sie kritisieren die Extravaganz und die nicht gar so intime Art von Hochzeit, auf der ihre Eltern bestehen. "Hochzeiten sind einfach zu geldorientiert", klagt ein Junggeselle und erklärt: "Die Eltern bestehen einfach nur deshalb darauf, daß ihre Kinder ein großes Hochzeitsbankett veranstalten, weil sie die Verluste durch die 'roten Bomben', von denen sie früher betroffen waren, wieder 'reinholen wollen. Was sie ausgegeben haben, wollen sie wiederkriegen!"
Trotz dieser Einstellung werden jedoch noch viele Jahre vergehen, bevor sich diese ehrwürdige Familientradition, die an Bedeutung so reich ist wie an roten Umschlägen, wesentlich verändert.
(Deutsch von Arne Weidemann)