Dieses besondere Fest zu Ehren der älteren Mitglieder der Gesellschaft wird in Taiwan zwar erst seit 1966 begangen, doch lassen sich verschiedene vergleichbare Festivitäten bis in präkonfuzianische Zeiten zurückverfolgen.
Der Respekt vor alten Menschen ist eine der tragenden Säulen der chinesischen Tradition und gab sozialen wie politischen Institutionen sowohl theoretischen als auch praktischen Halt. Während die Verehrung der Senioren in der Gesellschaft noch immer eine gleichwohl familiäre wie offizielle Angelegenheit ist, haben sich die Methoden dazu im Laufe der Jahrhunderte verändert - und die Modernisierung Taiwans erzwingt weitere Wandlungen im Bereich dieser Thematik.
Der Respekt vor betagten Menschen ist das Herzstück der chinesischen Kultur. Er findet Ausdruck in jedem Aspekt der chinesischen Lebensart wie der Literatur, politischen Theorien, sozialen Institutionen und persönlichen Gewohnheiten. Konfuzius (551-479 v.Chr.), dessen Philosophie große Teile der chinesischen Kultur in eine feste Form goß, hob ihn besonders hervor.
"Alten Menschen Freude bereiten" ist einer der wichtigsten Lehrsätze des Konfuzianismus, und diese Einstellung ist eng mit der chinesischen Lebensart verwoben. Kindliche Pietät ( Hsiao,孝) nimmt den Rang der herausragendsten aller konfuzianischen Tugenden ein. Zur Bekräftigung dieses Konzepts werden respektvolle Handlungen von Kindern gegenüber ihren Eltern überall in den verschiedenen Klassikern wie den Lunyü (論語, Aussprüche und Gespräche des Konfuzius), dem Buch der Riten (禮記) und, natürlich, dem Buch der kindlichen Pietät (孝經) gepriesen.
In den Lunyü, die die wesentliche Originalquelle für Erkenntnisse über seine Gedanken darstellen, sagt Konfuzius: "Mit 15 beschloß ich, mein Leben dem Studium zu widmen. Mit 30 hatte ich mir eine feste Meinung und feste Urteile gebildet. Mit 40 hatte ich keine Zweifel mehr. Mit 50 verstand ich den Willen des Himmels. Mit 60 konnte ich alles, was ich hörte, ohne Mühe verstehen. Mit 70 konnte ich alles tun, was mein Herz begehrte, ohne das Gesetz zu übertreten." Diese Äußerungen machen seine Überzeugung deutlich, daß ein Mann um so mehr Wissen, Erfahrung und Tugend besitze, je älter er ist.
Der Respekt vor dem Alter war nicht nur ein emotionaler Ausdruck kindlicher Pietät, sondern auch von existenzieller Bedeutung für das Weiterbestehen der Gesellschaft. Da die chinesische Gesellschaft eine Agrargesellschaft war, bezog man sein Wissen eher aus praktischer Erfahrung als aus dem Klassenzimmer. Die Alten spielten mit ihrer reichen Erfahrung in Fragen des Lebens, der Landwirtschaft und der chinesischen Sitten eine Schlüsselrolle dabei, den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft zu garantieren. Insofern verdienten sie sehr wohl ihren hohen Stellenwert in eben dieser Gesellschaft. Einige Ausdrücke der chinesischen Sprache betonen den Respekt gegenüber älteren Menschen. So wird zum Beispiel das Wort lao (老), "alt", oft in einem Zusammenhang benutzt, der die Leute daran erinnert, sich respektvoll zu verhalten, wie in Lao shih (老師) für "Lehrer" und in Lao yu (老友) für "alter Freund." Jemanden "alt" zu nennen war keineswegs negativ gemeint, vielmehr drückte es ein Gefühl von Standesbewußtsein, Verehrung, Respekt und Anerkennung der Verdienste des anderen aus.
Ebenso wurde eine Regierung gelobt, wenn sie sich gewissenhaft der Alten annahm. In alten Zeiten, noch bevor China unter der Chin-Dynastie vereint wurde, zog Konfuzius von Staat zu Staat, um den einzelnen Herrschern und Prinzen seinen Rat anzubieten. Immer wieder argumentierte er, daß ein Staat, der von einer guten Regierung gelenkt werde, von ganz allein mehr Leute dazu bewegen würde, sich in ihm niederzulassen. Das war natürlich ein verlockendes Argument, schließlich gab eine größere Bevölkerung dem Herrscher auch mehr militärische und finanzielle Macht, letzteres aufgrund von Steuerabgaben.
Viele Figuren aus der chinesischen Geschichte und aus Legenden sind besonders durch ihre Fähigkeiten und ihr Wissen, das sie in älteren Jahren bewiesen, berühmt geworden. Chiang Tze-ya (姜子牙) zum Beispiel half Chi Fa (姬發), die Chou-Dynastie (1111-256 v.Chr.) zu gründen, und wurde im Alter von 80 Jahren Minister.
Zur Zeit des Konfuzius hatten die meisten Leute keine Gelegenheit, eine formale Ausbildung zu erhalten. Da die unteren Klassen der Gesellschaft weder lesen noch schreiben konnten, wurden Wissen und Erlerntes innerhalb der breiten Masse mündlich weitergegeben. Den alten Menschen kam bei diesem Prozeß eine besonders wichtige Rolle zu, ihre Worte und Taten beeinflußten die traditionellen Gemeinden stark.
Lokalregierungen luden erfahrene und tugendhafte Senioren aus ihrer Bürgerschaft ein, in verschiedenen Schulen ethische und praktische Themen wie Familienbeziehungen und Anbaumethoden zu unterrichten. Die Zentralregierungen der Han- und Tang-Dynastien wählten Leute über 50 aus und hielten die Tugendhaften für würdig, die Rolle der San lao (三老), der "politischen Berater", am Hofe einzunehmen. Den einzelnen, die auf diese Art und Weise auserwählt wurden, zollten Beamtenschaft und Kaiser großen Respekt.
Zu festlichen Anlässen wie hier zum Neujahrsfest während der Pflaumenblüte wird der Respekt, den die Alten genießen, ganz besonders deutlich: Ihnen gebührt der Ehrenplatz und das beste Essen. (Yao Wen-han zur Zeit des Kaisers Chien-lung, 1735-96)
Im Buch der Riten ist festgehalten, daß Lokalregierungen im zwölften Monat jedes Mondjahres die sogenannte Hsiang yin chiu-Zeremonie (鄉飲酒禮) abhielten. Sowohl die jungen wie auch die alten Mitglieder der Gemeinde wurden eingeladen, wobei erstere ein Bankett für die Älteren zur Würdigung ihrer Verdienste um die Gesellschaft veranstalteten. Die Zeremonie beinhaltete einen Wettbewerb im Bogenschießen, das als ein Muß für den gehobenen Gentleman galt, und bot im allgemeinen eine Gelegenheit, den Zusammenhalt in der Gemeinde zu stärken. Für die Zeremonie galten unter anderen folgende Regeln: "Diejenigen, die über 60 Jahre alt sind, mögen während der Zeremonie sitzen; diejenigen, die unter 50 sind, sollten stehen." Auch die Qualität des Essens hing vom Alter ab. Die älteren Leute bekamen mehr und bessere Speisen serviert. Diese Zeremonien, die seit frühesten Zeiten bis in die späte Ch'ing-Dynastie abgehalten wurden, machen die Kraft der Tradition in der chinesischen Geschichte deutlich.
Es gab weitere Symbole des Respekts vor alten Menschen. Eines war der Spazierstock, der Weisheit, Erfahrung, Tugend und Autorität verkörperte. Die Regeln am Kaiserhof legten darauf gesteigerten Wert: "Gibt die Regierung dem Antrag auf Pensionierung von Beamten über 70 nicht statt, sollte sie ihnen als Ehrerbietung Stöcke gewähren. Ministern, die älter als 70 Jahre sind, ist es gestattet, eine Sitzung bei Hofe noch vor dem Kaiser zu verlassen; diejenigen, die älter als 80 sind, dürfen bei Hofe mit ihrem Stock laufen. Diejenigen über 90 sollte der Kaiser selbst und mit einem Minimum an Pomp aufsuchen, wenn er ihren Rat benötigt."
Außerhalb des Hofes wurden die Senioren der Gesellschaft auf anderen Wegen mit besonderer Höflichkeit begegnet. Zum Beispiel: "Von Bürgern über 50 wird keine Fronarbeit verlangt; Bürger über 60 brauchen nicht am Militärdienst teilzunehmen; diejenigen, die älter als 70 sind, brauchen keine Gäste zu bewirten, und diejenigen über 80 brauchen nicht an Beerdigungen teilzunehmen." Älteren Leuten war es gestattet, besondere Kleidung zu tragen, die einen höheren Status der betreffenden Person anzeigte. Auch durften sie Sänften in Anspruch nehmen statt zu laufen, eine Ehre, die gewöhnlich nur Beamten erwiesen wurde.
Beamte der Regierung, die älter als 70 waren, konnten von sich selbst mit der ehrenvollen Bezeichnung Lao fu (老夫) sprechen. Außerdem empfingen sie Geschenke von der Regierung, die sich in einem Rahmen von Nahrung, Kleidung und Häusern bis hin zu Adelstiteln und anderen Vergütungen bewegten.
Auch das chinesische Rechtssystem war geprägt von bestimmten Respektsbezeugungen gegenüber Senioren. Mit Beginn der T'ang-Dynastie waren Leute berechtigt, Rache an denjenigen zu üben, die ihren Eltern und Großeltern Unrecht zugefügt hatten. Das Gesetz besagte zum Beispiel ganz konkret, daß jemand diejenigen Leute schlagen konnte, die seine Eltern und Großeltern geschlagen hatten. Dies wurde bis zur Ming-Dynastie nicht geändert.
Darüber hinaus waren alte Menschen von der Todesstrafe ausgenommen, es sei denn, es handelte sich um schwerwiegende Delikte wie Aufwiegelung des Volkes oder Mord. Vergehen gegen die Kindespflicht sowie das Schlagen oder Beleidigen der eigenen Eltern wurden mit der Todesstrafe geahndet. Das Gesetz sah sogar eine Umwandlung der Strafen eines Vergehens überführter Leute vor, wenn ihre Eltern oder Großeltern älter als 70 Jahre waren. Dies geschah, um sicher zu stellen, daß betagte Eltern sich in der sicheren Obhut ihrer Kinder befinden würden - in diesem Falle hatte die Ethik Priorität vor dem Gesetz.
Die Regierungen boten auch Trost für diejenigen alten Leute in der Gesellschaft, die weder Ehefrau, bzw. Ehemann noch Kinder hatten, die sich um sie hätten kümmern können. So wurden zum Beispiel in der Sung-Dynastie staatliche Pflegeheime für alte und alleinstehende Menschen bereitgestellt, auch übernahm die Regierung ihre Beerdigungskosten, was für viele unter den Alten eine beträchtliche Erleichterung darstellte.
Da die meiten alten Menschen im Schoß ihrer Familie versorgt wurden, benötigte man kein "Sozialversicherungssystem." Es galt als garantiert, daß Familienklans und Gemeinden den überwiegenden Teil der Verantwortung dabei übernahmen, den Alten und Mittellosen zur Seite zu stehen. Demzufolge konnte nur eine begrenzte Anzahl an alten Menschen die staatliche Fürsorge für sich in Anspruch nehmen, so zum Beispiel diejenigen, deren Kinder oder Enkelkinder ihr Leben für den Staat gelassen hatten.
In der chinesischen Geschichte wurde das Klansystem stets durch das Konzept des Hsiao tao (孝道), zu deutsch "der Weg der kindlichen Pietät", gestützt. In diesem System hatte das älteste männliche Familienmitglied die Verantwortung, für alle Familien- und Klanmitglieder zu sorgen. Es war allgemein üblich, daß eine Familie aus Mitgliedern von drei bis fünf Generationen bestand. Das Einkommen eines jeden Familienmitgliedes wurde als gemeinsames Gut der ganzen Familie betrachtet, das das Familienoberhaupt, gewöhnlich der Vater oder der Großvater, verwaltete. Ebenso entschied das Familienoberhaupt über alle persönlichen Fragen, unter anderem über das Heiraten. Ein Familienmitglied hätte zum Beispiel gegen seine Respektspflicht verstoßen, hätte es eigenes Land erstanden. Jüngere Familienmitglieder durften keinerlei Aufteilung des Familieneigentums vornehmen oder sich von der Familie trennen, es sei denn, das älteste Oberhaupt war gestorben.
Ein antikes aber dauerhaftes Vorbild - der "Weise Kaiser" Shun erhielt den Thron von Kaiser Yao aufgrund der treuen Erfüllung seiner Kindespflicht.
Die historischen Schriften bergen einen reichen Schatz an Beispielen für angemessene Erfüllung der Kindespflicht. Von einem Kaiser wurde erwartet, daß er weise und tugendhaft sei, seine Minister hatten sich ihm gegenüber ebenso loyal zu verhalten, wie es ihnen gemäß der Regeln der kindlichen Pietät innerhalb der Familie geboten gewesen wäre. Die 24 Beispiele kindlicher Pietät (二十四孝) besagen, daß der "Weise Kaiser" Shun (舜,ca. 2200 v.Chr.) den Thron von Kaiser Yao aufgrund der treuen Erfüllung seiner Kindespflicht erhalten habe. Beide Kaiser dienten über Jahrhunderte hinweg als ideale Vorbilder tugendhafter Staatsführung und makellosen Charakters.
In den Erörterungen und Aussprüchen des Konfuzius über die kindliche Pietät wird von den Menschen nicht nur gefordert, die Eltern zu unterstützen, sondern gleichermaßen ihre Ziele zu respektieren und deren Durchsetzung zu vollenden. In der chinesischen Geschichte und Literatur gibt es zahllose Beispiele, in denen von Taten im Zeichen kindlicher Pietät die Rede ist. Während der Tsin-Dynastie lehnte zum Beispiel Li Mi (李密, 224-287) eine Einladung ab, Sekretär des Prinzen zu werden. Er tat die , um sich um seine Großmutter kümmern zu können, die ihn von klein auf großgezogen hatte. Lis Antwort an den Kaiser, die sogenannte Ch'en ch'ing piao (陳情表), wird noch heute als ein literarisches Meisterstück kindlicher Pietät erachtet.
Bei der Art und Weise, wie man sich gegenüber seinen Eltern und anderen älteren Menschen verhält, ist natürlich vor allem die eigene Einstellung von grundlegender Bedeutung. Nach Konfuzius gilt: "Wenn es keinen Respekt und keine Liebe gibt, wo ist dann der Unterschied dazwischen, ob man seine Eltern unterstützt, oder ob man seine Hunde und Pferde am Leben erhält?" An anderer Stelle sagt er: "Weilen seine Eltern noch unter den Menschen, so sollte ein guter Sohn seinen Pflichten ihnen gegenüber gemäß den Regeln des Anstands nachkommen; sind sie gestorben, so sollte er sie gemäß den Regeln des Anstands beerdigen und ihr Andenken in Ehren halten."
Darüber hinaus ist das Anstreben von Zielen, die die Eltern nicht zu erreichen vermochten, eine der höheren Anforderungen kindlicher Pietät. "Ist der Vater am Leben, so sollte man Rücksicht nehmen auf das, was der Vater einem aufträgt zu tun; ist der Vater tot, so sollte man auf das Rücksicht nehmen, was der Vater getan hat. Ein Sohn, der in den ersten drei Jahren nach seines Vaters Tod dessen Prinzipien ungebrochen auf sein eigenes Leben anwendet, kann als guter Sohn bezeichnet werden." Ssu-Ma Chien (司馬遷), der größte Historiker in der Geschichte Chinas, ist ein Beispiel dafür, denn er folgte dem Willen seines Vaters und vollendete die Aufzeichnungen der Historie (史記) während der Han-Dynastie.
Kindliche Pietät und Respekt gegenüber Älteren gaben dem Familiensystem, und somit der ganzen chinesischen Gesellschaftsstruktur, Halt. Während sich im Laufe der Jahrhunderte die politische Situation immer wieder wandelte, blieben diese ethischen Werte relativ unverändert. Doch heutzutage sieht sich diese Tradition komplizierteren Wandlungen ausgesetzt als jemals zuvor. Die dynastische Regierungsform existiert nicht mehr; die Menschen in Taiwan sind nicht länger in erster Linie von der Landwirtschaft abhängig; das öffentliche Schulsystem steht jedermann offen; das Familiensystem zerfällt in Fragmente.
Um mit den Worten Yang Kuo-shus, Psychologieprofessor der Staatlichen Universität Taiwan, zu sprechen, es ist Zeit für eine "neue kindliche Pietät", die er folgendermaßen grob definiert: "Kinder tun ihr Bestes, die Eltern sowohl unter emotionalen wie auch rationalen Gesichtspunkten gut zu behandeln, jedoch ohne dabei gegen das Gesetz zu verstoßen." Andere bieten unterschiedliche Rezepte an. Doch wie auch immer, das Weiterbestehen der chinesischen Institutionen Familie, Gesellschaft und Staat waren lange im Respekt vor älteren Menschen verwurzelt. In dem sich schnell verändernden sozialen und politischen Umfeld auf Taiwan könnten die Entscheidungen, die in bezug auf die Fürsorge und den Respekt gegenüber den Senioren in der Gesellschaft getroffen werden, sehr gut zum Maßstab für Lebensqualität und ethische Achtbarkeit dieser Insel im ganzen werden.
(Deutsch von Matthias Voß)