09.05.2025

Taiwan Today

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Die bevorstehenden Wahlen

01.11.1989
Wahlveranstaltung im “Park der Jugend”: Auch durch anhaltenden Nieselregen wurde der Zustrom Neugieriger nicht gebremst.

Am zweiten Dezember diesen Jahres werden in der Republik China Wahlen für den Legislativ-Yüan (das Parlament) und verschiedene Ämter auf lokaler Ebene abgehalten. Die Wähler haben die Gelegenheit, 101 Abgeordnete des nationalen Parlaments, 77 Abgeordnete des Provinzparlaments, Abgeordnete der Stadträte in Taipei und Kaohsiung sowie 21 Bezirksmagistraten und Bürgermeister aus einigen hundert Kandidaten auszuwählen.

Die kommende Wahl ist eine der wichtigsten in der politischen Geschichte der Republik China. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie die erste ist, die nach Beginn einer Reihe größerer politischer Reformen durchgeführt wird. Diese Reformen haben unter anderem zur Folge, daß der Wahlkampf unter ganz neuen Umständen und unter Einhaltung ganz anderer Spielregeln geführt wird, als die der Vergangenheit.

Seit Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 und dem Ende des Verbots neuer Zeitungen im Januar 1988 gibt es praktisch keine Restriktionen für die Meinungsäußerung mehr. Gegenwärtig gibt es fast keine Tabus für die Äußerung politischer Überzeugungen, was es Kandidaten der verschiedensten politischen Richtungen ermöglicht, ihre Ansichten zu verlautbaren.

Die Dezemberwahlen werden nicht nur die freiesten der Republik China sein, sondern auch die fairsten. Bevor die neuen Parteien im Januar dieses Jahres durch das Gesetz zur Gründung ziviler Organisationen legalisiert wurden, war es nicht erlaubt, eine Oppositionspartei zu gründen. Vier Dekaden lang waren nur die regierende Kuomintang und ihre zwei kleinen Koalitionspartner, die Jugendpartei und die Sozialdemokratische Partei, die drei einzigen legitimen Parteien der Republik. In früheren Wahlen hatten regimekritisch eingestellte Politiker als unabhängige Einzelkämpfer zu laufen. Da die beiden kleinen Parteien nur selten an den Wahlen teilnahmen, war die regierende Kuomintang in Wirklichkeit die einzige organisierte politische Gruppe, die sich bewarb. Unter solchen Umständen konnten freilich die Nicht-KMT-Kandidaten mit den KMT-Kandidaten nicht auf gleicher Basis konkurrieren.

Das alte Wahlrecht wurde als Instrument angesehen, das der Regierung ermöglichte, diese Situation beizubehalten, insbesondere da der Schein aufrechterhalten wurde, bei den Kandidaten handele es sich um politisch neutrale Individuen; die Positionen der Parteien wurden gar nicht erwähnt.

Im Zuge der politischen Reformen wurde ein ganzer Satz alter Spielregeln durch neue ersetzt: Nach der Organisation und Legalisierung neuer Parteien gibt es zur Zeit bereits 38 Parteien im Land. Da die meisten von ihnen winzige Splitterparteien ohne wirklichen Einfluß sind, stellen sie nur wenige Kandidaten auf oder vereinen ihre Kräfte mit anderen Parteien, um einzelne Kandidaten zu unterstützen. Zwei große Parteien jedoch verfügen über genügend Kandidaten um jeden freien Sitz im Parlament zu besetzen: die Kuomintang (KMT) und die Demokratische Progressive Partei (DPP).

Um der veränderten politischen Situation Rechnung zu tragen, wurde das Wahlrecht dahingehend verändert, daß alle Parteien voll anerkannt werden. Nach dem neuen Gesetz haben unabhängige Bewerber das gleiche Recht, um Stimmen zu kämpfen, wie die Kandidaten der Parteien. Parteizugehörigkeit wird jedoch gefördert, da zum Beispiel die Kaution, die parteilich gebundene Kandidaten vor der Wahl zu zahlen haben, nur die Hälfte dessen beträgt, was von unabhängigen Bewerbern verlangt wird. Hiermit sollen Kandidaten zu einem Parteibeitritt ermutigt werden. (Die Kaution wird als Notwendigkeit angesehen, um sicherzustellen, daß etwas wunderliche, wenig ernsthafte Kandidaten ohne nennenswerte Anzahl an potentiellen Wählern ferngehalten werden).

Bei der bevorstehenden Wahl streiten erstmals nicht Individuen sondern Parteien um die Gunst der Wähler. Dies zeigt, daß die Republik China inzwischen über ein System von konkurrierenden Parteien verfügt - eines der wesentlichsten Charakteristiken einer ausgereiften Demokratie. Die Entwicklung eines solchen Parteiensystems in der Republik China zeigt, daß diese einen entscheidenden Schritt weg von einem autoritären hin zu einem demokratischen Staat getan hat. Abgesehen von diesem Symbolwert hat das neue System auch greifbare Vorteile für das Staatswesen und die Gesellschaft.

Zunächst sind mit der Änderung des Wahlrechts Quellen für Spannungen und Unruhen, wie sie früher für die Zeit des Wahlkampfes charakteristisch waren, beseitigt worden. Bislang nutzten Dissidenten und deren Anhänger stets die Zeit vor den Wahlen, um ihren Unmut zu äußern und die Ungleichheiten des politischen Systems, die bei Wahlen besonders deutlich wurden, öffentlich anzuprangern. Sie klagten, sie hätten nicht die gleichen Wettbewerbsmöglichkeiten wie die Regierungspartei und ihre Rechte würden in unzulässigem Maße beschnitten. Die Folge waren gewalttätige Auseinandersetzungen und soziale Umtriebe in der Zeit vor den Wahlen gewesen. In diesem Jahr werden politische Kampagnen nicht mehr den sozialen Frieden gefährden.

Parteilich gebunden oder nicht - in den Kampagnen steht unbedingt der einzelne Kandidat im Vordergrund.

Weiterhin ist zu erwarten, daß in Zukunft die Bande zwischen Regierenden und Regierten gestärkt werden und deren Verständigung miteinander besser funktionieren wird als dies der Fall war, als noch die Kuomintang das Machtmonopol hatte. Auch wenn der Kuomintang in Taiwan etliche Verdienste zugute gehalten werden müssen, so ist doch auch nicht zu übersehen, daß einige Mitglieder der regierenden Elite arrogant, korrupt und für die Wünsche der Bürger gänzlich unzugänglich geworden sind. Da diese Leute sich auf ihren Posten in Sicherheit wiegen konnten, stellten sie sich natürlich jedweden Reformen in den Weg und konnten, da es an großem öffentlichen Druck fehlte, ungestört in ihren alten Bahnen fortfahren.

In der heutigen veränderten Situation, in der es tatsächlich einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Parteien gibt, wird mit Sicherheit der interne Umstrukturierungsprozeß der Regierungspartei fortgesetzt werden. Ein erstes Zeichen hierfür ist, daß ein neues Nominierungssystem für Kandidaten eingeführt wurde. Dieses neue System hatte zur Folge, daß sowohl die innerparteiliche Demokratie gefördert wurde als auch schließlich beliebtere Kandidaten als zuvor nominiert wurden, die sehr viel mehr ein offenes Ohr für die Ansichten und Bedürfnisse des Durchschnittsbürgers haben.

Diesen unmittelbaren Wünschen werden sowohl Regierung als auch Opposition, gerade wenn es in der Endphase des Wahlkampfes hart auf hart geht, verstärkt Rechnung tragen müssen. Bislang nahm die Kuomintang, die sich als “revolutionäre, demokratische” Partei versteht, ihre revolutionäre Mission der Wiedervereinigung Chinas besonders ernst. Solche Inhalte werden sicher weiterhin die Regierung beschäftigen, aber unmittelbarere Probleme, die heute auf Taiwan bestehen, werden weiter vorne auf der Tagesordnung zu finden sein. Der DPP wird häufig vorgeworfen, sie widme sich zu sehr den Fragen, die gar nicht die Hauptanliegen der durchschnittlichen Wähler seien. Eine Veränderung der Perspektiven auf seiten der Führung der DPP ist unvermeidlich, wenn die Partei künftig ernstgenommen werden und in Wahlen eine reale Chance haben will.

Da unser Mehrparteiensystem ein noch sehr neues Phänomen ist, hat es noch einige Schwächen und Fehler, und so wird es auch bei diesen Wahlen vorkommen, daß Wählerstimmen gekauft werden. Dies ist wohl das größte Problem und wir müssen dementsprechend hier am schärfsten kontrollieren. Manche Beobachter sind so naiv anzunehmen, daß jetzt, da es das neue System der Nominierung der Kandidaten gibt, bessere Kandidaten aufgestellt werden, die nicht auf so unlautere Machenschaften wie den Kauf von Stimmen zurückgreifen werden, um sich effektiv den Sieg zu sichern. In Wirklichkeit hat aber das System der Nominierung nur einen sehr geringen Einfluß auf die allgemeine Qualität der Kandidaten gehabt. Allerdings ist tatsächlich zu erwarten, daß die politischen Parteien auf entsprechenden Druck der Öffentlichkeit hin, wenn diese die ganze Partei für die Korruption Einzelner zur Verantwortung zieht, in Zukunft vorsichtiger bei der Auswahl ihrer Kandidaten sein werden.

Abgesehen von dem Stimmenkauf ist in letzter Zeit zunehmend ein weiteres Phänomen zu beobachten gewesen, dem wir vielleicht noch mehr Aufmerksamkeit schenken sollten: Massen-Straßendemonstrationen werden von Kandidaten für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt, um sich möglichst wirkungsvoll ins Rampenlicht zu stellen. Diese Taktik ist von Kandidaten der verschiedenen Parteien angewendet worden, insbesondere jedoch von denen der DPP. Es ist unverantwortlich, wenn sich ein Politiker um seiner eigenen Karriere willen häufig einer solchen Taktik bedient. Massenbewegungen können zuweilen der Gesellschaft und dem Gemeinwesen ernsthaften Schaden zufügen. Wir sollten diese allzu unbekümmerte Einstellung, die einige Kandidaten gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit an Frieden und Harmonie haben, entschieden verurteilen.

Obwohl die Opposition vorhersagt, daß sie eine große Zahl an Sitzen dazugewinnen wird, meinen viele Beobachter, daß die Kuomintang ihre Mehrheit von 65% wird halten können. Unabhängig davon, welche Partei jedoch als Sieger aus der Wahl hervorgeht, der größte Sieger wird der Wähler sein, da die Republik China jetzt ein funktionierendes Mehrparteiensystem hat - was dazu führen sollte, daß es repräsentativere Beamte auf allen Regierungsebenen geben wird.

(Deutsch von Rina Goldenberg)

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