Trotz des heutigen Trends hin zu papierloser Datenspeicherung werden weiterhin ständig neue Wege gefunden, kreativ mit Papier umzugehen. "Versteht man Papier als Kunstobjekt, läßt es sich magischen Verwandlungen unterziehen, "schwärmt ein Künstler aus der Republik China.
Mit Papier Kunst zu machen, ist für die Chinesen kein neues Konzept. Die alte Kunst des Papierschneidens, die hochentwickelte Methoden des Faltens und Schneidens verwendet, ist tatsächlich als eine der populärsten klassischen chinesischen Künste anzusehen. Kunst aus Papier nimmt seit Generationen einen festen Platz unter den chinesischen Volksritualen ein; komplizierte Papiergebilde, Menschen, Häuser und persönlichen Besitz darstellend, werden als Gaben für die Toten verbrannt. Bis heute bestehen diese beiden Arten der Papiernutzung, wobei sowohl die traditionellen Elemente gepflegt, als auch moderne Variationen hinzugefügt werden.
Erst vor kurzem erregte eine weitere Form der Kunst aus Papier große Aufmerksamkeit auf Taiwan, was den Bemühungen einiger weniger, enthusiastischer Papierkunstliebhaber zu verdanken ist. Diese Art des Gestaltens nennt sich Papierskulptur, eine Kunstform, die verschiedenste Papierkonstruktionen umfaßt, der aber erst durch hiesige kreative Talente wie CHIEN Fu-lung (簡福隆) und WON Sen-lung (翁參隆) besondere Bedeutung auf der Kunstszene zugekommen ist.
Chien, der es vorzieht, sich eher durch seine Werke als mit Worten auszudrücken, war schließlich bereit über seine Arbeit zu sprechen. Es sei schwierig, sagt er, das Aufkeimen seines Interesses für Kunst aus Papier mit einem genauen Zeitpunkt zu verbinden. Er erinnere sich jedoch daran, vor dreißig Jahren, ungefähr zur Zeit seines Abschlußexamens am Taipei College of Industry in einer amerikanischen Bibliothek auf ein Buch zum Thema gestoßen zu sein. Während ihn die Illustrationen dieses Buches eher unterbewußt inspiriert haben müssen, hält Chien die Erziehung, die ihm unter der japanischen Besatzung zugekommen ist, für die Hauptursache seiner Liebe zur Kunst aus Papier. "Japanische Erziehung legte immer schon großen Wert auf das Handwerkliche in der Kunst. So wurde auch ich schon früh dazu gebracht, mit verschiedenen Materialien zu experimentieren." erklärt Chien.
Anfangs versuchte er sich an Holzschnitzereien, fand aber bald heraus, daß weder die Notwendigkeit, zwanzig bis dreißig Messer zu benutzen und ständig geschärft zu halten, noch die langwierige Suche nach geeignetem Holz seinem Temperament entsprachen. In der Kunst aus Papier fand er schließlich eine in Hinsicht auf die Werkzeuge weniger aufwendige Kunst.
Der Entstehungsprozeß von Chiens Werken unterscheidet sich grundsätzlich von der allgemein üblichen Verwendung des Papiermachés, bei der die Papierlagen an Formen geklebt - und nach dem Trocknen weiterbehandelt werden. "Die bei chinesischen Begräbnissen üblichen Papierpuppen und -häuser sind mit ihrem Bambusskelett im Innern ähnlich konstruiert. In der westlichen Kunst aus Papier jedoch wird sich ausschließlich der Elastizität und Flexibilität von Papier zum Formen bedient. Weder Rahmen noch Formen werden verwendet," sagt Chien, der sich selbst der letzteren Art verschrieben hat.
Da das Wesentliche der Papierskulptur darin liegt, dem Material ohne zusätzliche Hilfsmittel Gestalt zu verleihen, stellt die Form eine echte Herausforderung an den Künstler dar. Die Ausrüstung des Künstlers ist einfach - Papier, Papiermesser und ein Stahlgriffel als Hilfe beim Falten und Knicken -, aber die scheinbar einfache Technik des Schneidens, Faltens und Klebens erfordert in Wirklichkeit sowohl außergewöhnliche Fingerfertigkeit als auch kreatives Vorstellungsvermögen. Chien meint, daß der Schlüssel zu dieser Kunst weniger in der Beherrschung der relativ leicht zu erlernenden Techniken zu finden ist, als darin, zu wissen, wo eine Kurve, eine Linie oder eine Fläche hingehört. Der Künstler spielt seine Fähigkeiten hier eindeutig herunter.
Indem er feststellt, daß Papier mehr Ecken erlaube und bessere Licht- und Schattenwirkung hervorbringe als Lehm- und Gipsskulpturen, drückt er seine Begeisterung über die Einmaligkeit des Materials Papier aus. Daß Papier ohne Verwendung von Hilfsmitteln nicht in exakte Formen gebracht werden kann, empfindet Chien als Vorteil des Materials. So werde aus Schwäche Stärke, begeistert er sich, denn das Material bestimme Formen, die mit anderen Arten von Skulpturen nicht zu vergleichen seien. Um den ursprünglichen Charakter und die Maserung des Papiers für sich selbst sprechen zu lassen, verzichtet er auch meistens auf die Bemalung seiner Kunstwerke.
Obwohl es unendlich viele Themen für Papierskulpturen gibt, sind es vor allem menschliche Gesichter, die Chien nachbildet. "Wundersame Dinge ereignen sich auf menschlichen Gesichtern," begründet er seine Vorliebe, fügt aber hinzu, daß es auch einen praktischen Grund für diese Spezialisierung gibt: "Ich habe nur ein sehr kleines Appartement, und Büsten nehmen einfach weniger Raum ein." Die Aufbewahrung seiner Kunstwerke hat tatsächlich für lange Zeit ein ernsthaftes Problem dargestellt.
Zeitmangel war ein weiteres Problem, mit dem er zu kämpfen hatte, solange er seine Zeit noch zwischen Kunst, Lehrverpflichtungen an der Tamkang High School und Tätigkeiten für private Handelsfirmen aufteilen mußte. Seitdem er ein freier Mitarbeiter ist, kann er sich seit kurzem als Übersetzer für Japanisch seine Zeit freier einteilen. Diese Veränderung hat seiner Kunst gutgetan, was er Ende 1986 auf seiner ersten Ausstellung im Amerikanischen Kulturzentrum in Taipei beweisen konnte. Dieser erfolgreichen Ausstellung folgten weitere in Kulturzentren von Städten und Provinzen auf der ganzen Insel.
Besucher von Chiens Appartement in Neihu, einem nordöstlichen Vorort von Taipei, sind immer wieder beeindruckt von der Wirkung, die von seiner Wohnraumgalerie ausgeht. An zwei sich einander gegenüberliegenden Wänden hat Chien so viele seiner kleineren Werke aufgehängt wie eben möglich. In Einbauregalen und Holzvorrichtungen ist eine bunte Palette von Papierfiguren, die Menschen aus aller Welt in traditionellen Kostümen darstellen, untergebracht. Chien empfiehlt Papierstatuen als Mittel zur Wohnungsgestaltung, weil sie äußerst ökonomisch sind. "Man kann so viele Stücke herstellen wie man möchte, ganz nach dem eigenen Geschmack, nach den momentanen Vorlieben. Sobald die Neuartigkeit eines Werkes an Wirkung verliert, nimmt man es von der Wand und stellt ein neues her. Eine ebenso gute, wie billige Lösung!"
Begibt sich Chien daran, eine neue Idee umzusetzen, so fertigt er zunächst ein kleines Modell an, was ungefähr einen Tag Arbeit beansprucht. Nur wenn dieses Modell seinen Vorstellungen entspricht, setzt er die Arbeit an der Idee fort. Zu vielen seiner Werke ist er von Volkskunst und von buddhistischer Ikonographie inspiriert worden. Als "akademischer Künstler", der seine Einfälle vor der Umsetzung zunächst wissenschaftlich untersucht, versteht er sich nicht. "Feldstudien sind für mich kein Thema, auch Ausstellungen locken mich nicht an," erklärt er, denn beides lasse sich nicht mit seinem Weg der Kreativität vereinbaren. "Um meine künstlerischen Probleme zu lösen, verlasse ich mich einzig und allein auf die freie Flut meiner Ideen - ob es nun zwei Wochen oder drei Monate dauert bis ich die richtigen bekomme."
Ein echtes Hindernis für die Verbreitung von der Kunst der Papierskulptur auf Taiwan sieht Chien in der Frage der Konservierung der Papierkunstwerke. Papier ist besonders anfällig gegenüber dem Zahn der Zeit. Der Luft ausgesetzt zu sein, bedeutet für ein Kunstwerk Verschmutzung durch Staub und Zerstörung durch Feuchtigkeit, was in Taiwans subtropischem Klima ein besonders ernsthaftes Problem darstellt. Chien hat diesbezüglich noch keine befriedigende Lösung finden können. Früher hatte er schon einmal damit begonnen, seine Werke in Glas- und Acrylkästen unterzubringen, hat diesen Versuch aber schließlich wieder aufgegeben, weil diese Methode den Betrachter von dem abhält, was Chien beim Genuß der Papierskulptur für besonders wichtig hält: direkter Kontakt mit dem Kunstwerk bis hin zu tatsächlichem Berühren und Umgehen mit dem Stück. "Die einzige Möglichkeit, die sich mir bietet, ist meine Stücke zu bemalen, wenn sie unansehnlich geworden sind," sagt er.
"Sobald eine Lösung für das Problem der Konservierung gefunden ist, steht der Zukunft der Papierskulptur nichts mehr im Wege," meint er und fügt hinzu: "Übung macht den Meister, und wenn Künstler aus einem normalen Blatt Papier eine perfekte dreidimensionale Form werden lassen können, steht man dem Ergebnis mit Faszination gegenüber."
Won Sen-lungs ausgesprochen artikulierter und durchorganisierter persönlicher Stil steht in krassem Gegensatz zu Chiens eher zurückhaltender Einstellung zum Leben und der eigenen Kunst. Won lehrt seit 1973 an der Panchiao High School Handwerk. Angeregt durch seine Studenten hat er 1975 zum ersten Mal ernsthaft mit dem Material Papier gearbeitet. Zu jener Zeit leitete er im Rahmen eines Gesamtschulprogramms einen Kurs über Metallarbeit. Da die Studenten unzufrieden mit der geringen Flexibilität des Materials waren, die es schwierig machte, Modelle zu formen, ließ Won die Studenten Papier anstelle von Metall benutzen. "Ich hielt das für eine überaus legitime Lösung, da sogar für Schuhmodelle, ganz zu schweigen von Kleiderentwürfen, Papier benutzt wird," erklärt er.
Der Wechsel der Materialien hatte unerwartete Folgen: "Sobald die Studenten Papier in den Händen hielten, entstanden von Zinnsoldaten bis Miniaturpagoden alle nur erdenklichen Formen. Eigentlich lautete die Aufgabe, lediglich das Modell eines Fasses herzustellen," sagt Won lachend. Erst zu diesem Zeitpunkt begann er, das Potential des Papiers für die Kunst zu entdecken. Er hielt es für lohnend, die besten Werke seiner Studenten 1975 in dem Buch Papier Kunst zusammenzustellen.
Wie Chien hatte auch Won anfangs Skulpturen aus Holz und Lehm geschaffen, ist aber schließlich gänzlich dazu übergegangen, Papier zu verwenden, das er nicht nur wegen der geringen Aufwendigkeit, sondern auch wegen der niedrigen Kosten zu schätzen gelernt hat.
So genau und durchorganisiert er bei seiner Lehrtätigkeit ist, so ist er es auch bei seiner kreativen Arbeit. Seine künstlerische Entwicklung auf dem Gebiet der Papierskulptur teilt er in vier Perioden ein. Der Beginn der ersten Periode ist mit der Publikation des Buches über die Experimente seiner Studenten anzusetzen. Während dieser Phase versuchte er sich an der Reproduktion von Gipsskulpturen, wozu er der reineren Form der Papierskulptur untreu wurde; er benutzte nämlich Bambus- oder Drahtskelette.
In der zweiten Periode verzichtete er auf jegliche Hilfe in Form von Rahmen oder Skeletten. Repräsentative Werke aus diesen Jahren 1978 und '79 tendieren dahin, weniger konkret in Motiv und Wirkung zu sein, als die der ersten Periode. Sehr oft drücken sie Dynamik, z.B. Momente eines Tanzes aus, erstarrte Bewegungen, eingefangen in Papier.
Won hat erst während der dritten Phase seiner kreativen Entwicklung damit begonnen, seine Werke auszustellen. Die erneute Veränderung seiner Kunst wurde deutlich als Won an einer, mit dem Namen "Chinoiserie" benannten Austellung, die vom Provinzmuseum für Geschichte veranstaltet wurde, teilnahm. Zur Darstellung traditioneller Motive, darunter populäre Gestalten wie Pai Su-chen, die Heldin der "Romanze der weißen Schlange", und Masken der Pekingoper, fertigte er reliefähnliche Papierskulptur an, wobei seine handwerklichen Fähigkeiten besonders stark herausgefordert wurden.
Die von Architektur inspirierte vierte Phase erwies sich als noch erfolgreicher als die vorhergehende. In fast kindliche Schwärmerei verfallend spricht er über diese Werke: "Irgendwann träumt jeder einmal davon, sich ein Schloß zu bauen. Indem ich Papierschlösser baue, erfülle ich mir diesen Wunsch."
Won gibt zu, im Bann der Details aller Arten von architektonischen Strukturen zu stehen. Er nimmt aber Abstand davon, Papierbauten im chinesischen Stil herzustellen, da sie unglückliche Assoziationen hervorrufen können, wobei er damit auf die bereits oben genannte Tradition der Verbrennung von Papierhäusern zur Ahnenverehrung anspielt. Folglich sind alle seine Papierbauten westlichen Originalen nachgebildet. Um seine Motive besser zu verstehen, hat sich Won eine große Sammlung von Büchern über Schlösser angelegt. Sogar eine Reise nach Übersee zwecks Schlösserbesichtigung hat er unternommen. Tatsächlich wird die charmante Ausstellung seiner Schloßskulpturen im geräumigen Wohnraum seines Appartments in Panchiao effektvoll durch eine ebenso eindrucksvolle Büchersammlung zum selben Thema ergänzt. Besuchern fällt beides auf, beides begeistert gleichermaßen.
Zusätzlich zu den in die vier Kategorien eingeteilten Werken hat Won eine große Anzahl von Miniaturpapiertieren und anderen Papierspielzeugen geschaffen. Ursprünglich als Spielzeug für seine beiden Söhne gedacht, erlangten seine Kreationen bald Popularität, nicht zuletzt durch ihr Erscheinen in einer Ausgabe der Mandarin Daily News, einer Zeitung für Kinder.
Wie zuvor Chien Fu-lung findet auch Won eine praktische Begründung für seinen Enthusiasmus: "Papier ist unglaublich vielseitig - man kann sogar Möbel daraus herstellen. Außerdem ist es sehr angenehm, daß alles, was man zur Arbeit braucht, im Haus zu finden ist. Gelingt ein Experiment einmal nicht, so ist das kein Grund zum Verzweifeln, denn der Einsatz von Geld ist gering. Ist es nicht eine begeisternde Vorstellung, ein einfaches Blatt Papier in ein Kunstwerk verwandeln zu können?"
Die Vielseitigkeit von Papierskulptur wird eindrucksvoll durch Wons jüngste Arbeit dokumentiert, ein Projekt, das er im Auftrag der Leitung des Yangmei Wissenschafts- und Vergnügungsparks im Bezirk Taoyuan ausgeführt hat. Wons Aufgabe war es, kunstvolle Reproduktionen von solch alten chinesischen Erfindungen wie Kompaß und Seismograph anzufertigen. Bevor er sich an das Ausarbeiten der Details der komplizierten Papiermodelle begab, mußte er sich über die Einzelheiten seiner Motive genauestens erkundigen, und sich vergewissern, daß er ihren Aufbau auch richtig verstanden hat.
Kürzlich hat Won mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung im September diesen Jahres begonnen. Er plant, in dieser vom Taiwan Provincial Handicraft Research Center finanzierten Ausstellung cirka zwanzig dreidimensionale und vierzig zweidimensionale Tanzfiguren der Han- und Tang-Dynastien zu präsentieren. Es ist vorgesehen, ihnen später Bronzefiguren nachzuempfinden.
Wons Bestreben war es schon lange, die Papierskulptur in andere Medien übernommen zu sehen. Mit dem heutigen Grad der Integration dieser Kunst ins tägliche Leben ist er sehr zufrieden. "Aus Wirtschaftswerbung, Schaukästenpräsentationen, Reklame und sogar Eigenheimgestaltung ist Papierskulptur nicht mehr wegzudenken. Wichtig ist jetzt noch, das rein Praktische mit dem Ästhetischen zu verbinden," meint Won.
Um seine Kunstform bekannter machen zu können, ist Won vom Kreisamt für Schule und Erziehung gebeten worden, während der Sommerferien für Lehrer aus der Gegend von Taipei Demonstrationsseminare zu veranstalten. Viele Anhänger hat er außerdem bei ähnlichen, vom Städtischen Museum für schöne Künste und anderen städtischen Zentren organisierten Gelegenheiten gewonnen. "Papierskulptur ist nicht länger eine unbekannte, verwaiste Kunst auf Taiwan," stellt Won fest. "Die überwältigende Reaktion auf meine Vorführungen beweist das. Es ist übrigens beeindruckend, wieviel ich selbst nach nur einer halben Stunde Demonstration von meinen Zuschauern noch lernen kann. Es gibt soviel Einfallsreichtum!"
Der Erfolg der beiden Papierstruktur-Künstler Chien Fu-lung und Won Sen-lung macht deutlich, daß diese Kunstform inzwischen schon ein breites Publikum gefunden hat. Beide Künstler wollen aber zur Kenntnis genommen wissen, daß erst langsam entdeckt wird, welches Potential in dem Rohstoff Papier steckt. Sie möchten jeden dazu ermutigen, aus dem Papier, mit dem man täglich umgeht, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, etwas Kreatives zu machen. Wie wenig Zeit, Erfindergeist und Mühe kostet es, ein zuvor unbeachtetes Stück Papier in ein Kunstwerk zu verwandeln!
(Deutsch von Sibylle Neuhaus)