17.07.2025

Taiwan Today

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Die Arbeiterschaft erwacht zum Selbstbewußtsein

01.11.1988
Die über fünf Millionen Arbeiter Taiwans machen mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus. Ungeachtet der historischen Rolle, die die Arbeiterschaft während der Umwandlung der Insel in eine Wirtschaftsmacht gespielt hat, wurde sie allzu oft nur als rein statistischer Wert betrachtet. Dies wird in Zukunft wohl unmöglich sein.

Sowohl die Arbeiterbewegung im Ganzen als auch der einzelne Arbeiter befinden sich momentan in einer Phase großer Veränderungen. Indem Taiwans Wirtschaft fortfährt ihren Kurs auf high-tech Produkte auszurichten, indem das Management seine Beziehung zur Arbeiterschaft überdenkt und auch das allgemeine politische Klima immer liberaler wird, übt die Stimme der Arbeiter, ob einzeln oder im Kollektiv, einen größeren Einfluß auf den Kurs der nationalen Entwicklung aus. Diese bedeutende Veränderung gegenüber der Vergangenheit ist es wert, genauer betrachtet zu werden.

Chiu Ching-hwei, Generalsekretär des chinesischen Gewerkschaftsbundes: "die Arbeiter sind sich jetzt ihrer Rechte bewußt, und auch bereit, dafür zu kämpfen."

"Die Belange der Arbeiter haben in jedem Land an Bedeutung gewonnen. Das trifft auch für uns zu", meint Chiu Ching-hwei (邱清輝), Generalsekretär des Chinesischen Arbeiterverbandes (CFL). Der CFL wurde 1948 in Nanking als nationale Arbeiterorganisation der Republik China gegründet und Herr Chiu ist seit 1975 für ihn tätig. Obwohl der CFL nur 1,82 Millionen Mitglieder zählt, stellt er eine einflußreiche Kraft zum Schutz der Arbeiter dar.

Doch die Arbeiter von heute sind mit ihren Gehältern, Prämien und Arbeitsbedingungen weniger zufrieden als die sich bereits auf das Pensionsalter zubewegende Generation. Herr Chiu, vor 25 Jahren selbst Lohnarbeiter, meint, daß sich die Einstellung der Arbeiter und ihre wahrnehmbaren Bedürfnisse erheblich verändert hätten: "Heute wollen die Menschen mehr als nur einen Arbeitsplatz - sie arbeiten nicht nur für Geld", sagt Herr Chiu. "Sie wollen respektiert werden, möchten angenehmere Arbeitsbedingungen und bessere Chancen vorfinden, außerdem wünschen sie sich neben mehr Freizeit auch mehr Freizeitaktivitäten. Darüber hinaus wissen sie dank der Massenmedien um ihre Rechte und sind auch bereit, wenn nötig, dafür zu kämpfen."

Als Folge der sich immer mehr auf Inhalte jenseits von Arbeitsangebot und höheren Löhnen konzentrierenden Arbeiterforderungen, sieht sich das Management gezwungen, die geänderten Aspekte der Arbeiterinteressen wahrzunehmen. Die Arbeiterschaft verhält sich ihren Rechten gegenüber nicht mehr so passiv wie in den vergangenen Jahrzehnten. Infolgedessen, im Fall von Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Management müssen beide Seiten lernen, sich zu verständigen und miteinander zu verhandeln, ohne sich dabei auf die Regierung zu verlassen. Die Regierung teilt nur die Regeln, das Spiel jedoch müssen Arbeiter und Management selbst gestalten. "Die Arbeiter in Taiwan handeln sehr verständig. Sie sind bereit, mit dem Management zu verhandeln, daher darf das Management die Lösungen der Arbeiterfragen nicht unnötig verzögern oder ihnen gleichgültig gegenüberstehen", meint Herr Chiu.

Die eigenen Erfahrungen als Arbeiter im Hintergrund unterstreichen Herrn Chius Anliegen als offizieller Arbeiterschaftsvertreter. Als Absolvent des Tatung Institutes für Technologie in Taipei, im Fach Betriebsführung, trat er 1963 in die Firma Tatung, ein international bekanntes taiwanesisches Unternehmen für elektrische und elektronische Artikel ein. In diesen Jahren, bedingt durch häufiges Reisen, kam er in Kontakt mit Arbeitern der unteren Ebenen. "Zu dieser Zeit gab es bei Tatung nur wenige Servicezentren außerhalb der großen Städte", erinnert er sich. "Als Verkäufer in den ländlichen Gebieten war ich, neben der Werbung für unsere Produkte, auch noch für den Wartungsdienst zuständig."

Diese Reisen machten sich auf unerwartete Weise bezahlt. Herr Chiu baute sich ein nützliches Netz von Bekannten und Freunden auf, das seiner späteren Karriere als Gewerkschaftler zugute kam. 1972 begann er im Komitee der Internationalen Metallarbeitergewerkschaft der Republik China mitzuarbeiten und ist heute dessen Generalsekretär. Später, im Jahre 1975, wurde er zum Finanzreferenten und stellvertretenden Generalsekretär des CFL ernannt und 1986 schließlich, in seine heutige Position, zum Generalsekretär gewählt. In der Zwischenzeit, im Jahre 1980, wurde er als ein speziell die Arbeitergruppen repräsentierender Delegierter in die Nationalversammlung gewählt.

Herr Chiu kandidierte für dieses Amt in der Hoffnung, die Rolle der Gewerkschaften in der nationalen Entwicklung ausweiten zu können. "Politische Beteiligung kann für die Entwicklung der Gewerkschaften, sowie für die Förderung der Arbeiterrechte und -interessen sehr bedeutend sein. Als Vertreter der Arbeiterschaft kann ich für diese sprechen und die Regierung dazu drängen, eine verständnisvolle Politik den Arbeitern gegenüber zu formulieren und auszuführen", meint Herr Chiu. Er hat den Ruf, seine Arbeit ernst zu nehmen und keinen eigenen Geschäften nachzugehen. - 1986 wurde er abermals in die Nationalversammlung gewählt.

Herr Chiu sieht klar die Sonnen- und Schattenseiten der gegenwärtigen Arbeitersituation. "Im Wandel der Zeit sind die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter um vieles besser geworden, aber infolge der schnellen Veränderung kam es auch zu einigen nachteiligen Auswirkungen", sagt er. Das Tempo der hochtechnologischen Entwicklung und die damit verbundenen Verfeinerungen in der Technologie, sowie die geforderte fachliche Qualifikation, haben es manchen Leuten schwer gemacht, sich anzupassen. "Arbeiter dürfen die fortschreitende Modernisierung nicht aus den Augen verlieren, sie müssen ihr Bestes versuchen, um mit dem Wandel der Zeit Schritt zu halten. Sie erreichen dies, indem sie sich neue Kenntnisse aneignen und sich in neue Fachgebiete einarbeiten." Die gesamte Verantwortung ruht jedoch nicht allein auf den Schultern der Arbeiterschaft. "Die Regierung sollte", so argumentiert er, "die Berufsausbildungsprogramme ausbauen und weitere Schritte zur Lösung der Probleme der Arbeiterschaft ergreifen, um deren Wohlfahrt sicherzustellen."

Es sind auch schon einige Vorstöße in diese Richtung unternommen worden. Letzten August wurde die ursprünglich dem Innenministerium unterstellte Abteilung für Arbeiterangelegenheiten ausgeweitet und von der Regierung in den Rang eines direkt dem Exekutiv Yuan unterstehenden Rates für Arbeiterangelegenheiten erhoben. "Dies ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung von Qualität und Effektivität innerhalb der Verwaltung bei Arbeiterangelegenheiten", sagt Herr Chiu, "aber es ist erst der Anfang, der neugeschaffene Rat hat noch einen weiten Weg vor sich."

Oberste Priorität hat für Herrn Chiu die Änderung der Arbeitergesetzgebung, denn hier müßten eine wirkungsvolle Politik und die verschiedenen Formen der Durchführung beginnen. "Alte Gesetze müssen überarbeitet oder neu formuliert werden, um nicht nur mit momentanen Veränderungen fertigzuwerden, sondern auch um zukünftigen Anforderungen gerecht werden zu können. Um eine effektive Durchführung der Gesetze zu gewährleisten, müßten Dienststellen für Arbeiterfragen auf Stadt- und Landkreisebene errichtet werden", meint Herr Chiu. Von der Einstellung hochqualifizierter Verwaltungsbeamter verspricht man sich ebenfalls mehr Qualität und Erfahrung bei der Lösung von Problemen.

Die neuen Umstände und Herausforderungen in der Arbeitswelt am Ende des 20. Jahrhunderts zwingen Regierung, Arbeiter und Management, althergebrachte Einstellungen über Bord zu werfen und einen zeitgemäßen Weg zur Lösung der neuen Marktanforderungen zu finden. Da die hohe Arbeitsmoral, für die die chinesischen Arbeiter seit langem bekannt sind, sicher auch in Zukunft beibehalten werden wird, muß man ihnen einerseits größere Forderungen zugestehen und andererseits mehr Anerkennung als in der Vergangenheit erweisen. Will die Republik China in ihren wachsenden Absatzgebieten konkurrenzfähig bleiben, kann es wohl kaum eine andere Entwicklung geben.

Neben den von Herrn Chiu oben erörterten neuen Forderungen der Arbeiter und ihren spürbaren Bedürfnissen existieren noch weitreichendere Veränderungen. Die Arbeiterschaft Taiwans befindet sich wegen der Umgestaltung der Wirtschaft, von einer arbeitsintensiven in eine hochtechnologische Phase, ebenfalls in großer Umwälzung. Selbst die florierende Bauindustrie verlangt heute ein weit höheres fachliches Können als noch vor einem Jahrzehnt.

Sowohl junge Mitarbeiter, die eben erst in die Belegschaft eingetreten sind, als auch die alte Garde, die stets bemüht ist, mit der Entwicklung Schritt zu halten, müssen der bitteren Realität ins Auge blicken: ihre Fähigkeiten können von heute auf morgen überholt sein und Fabriken müssen mitunter durch plötzliche Veränderungen am Weltmarkt über Nacht zugesperrt werden.

Pao Yung-hui bei China Color - er träumt davon sein eigener Chef zu sein.

Pao Yung-hui beispielsweise beendete letztes Jahr im Mai sein Studium. Mit 25 Jahren und einem Fachschulabschluß in der Tasche verließ er die schützende Umgebung seiner Schule und begab sich auf Stellungssuche. Die Realität des Arbeitsmarktes entsprach jedoch nicht seinen Erwartungen. Wie viele Andere seines Alters strebt er eine sichere Karriere an und ist auch bereit, dafür zu arbeiten. Doch Pao Yung-hui mußte erfahren, daß Willenskraft und Hingabe allein dazu nicht ausreichen - zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein, darauf kommt es an.

Seit seinem Abschluß an der Abteilung für Druck und Photographie am World College of Journalism in Taipei, hat Herr Pao bereits eine Reihe von Jobs hinter sich. Zuerst arbeitete er als Zustellbote einer Lebensmittelfirma, dann im administrativen Bereich einer Druckerei. Nachdem beide Jobs weder sein besonderes Interesse wecken konnten, noch seinen finanziellen Vorstellungen entsprachen, kehrte er zu seiner Familie in den Süden Taiwans zurück und begann in einer Färberei zu arbeiten.

Erst nach langem Zureden seines Vaters, seine Ambitionen nicht aufzugeben, zog Herr Pao wieder in den Landkreis Taipei, um eine passende Anstellung zu suchen. Im Januar, als er von der China Color Printing Company angestellt wurde, schien nun endlich die Suche nach einer, seiner Schulausbildung adäquaten Arbeit, Früchte getragen zu haben. Nachdem er seine Arbeit in der dortigen Druckerei aufgenommen hatte, mußte er feststellen, daß die Praxis mit dem Studium nicht viel gemein hat. "Was ich hier erfahren mußte, wich von den gelernten Schulweisheiten sehr ab. Lehrbuchtheorien erweisen sich in der Praxis als unbrauchbar; ich mußte nahezu alles mit Unterstützung meiner älteren Arbeitskollegen, Schritt für Schritt neu erlernen", erinnert sich Herr Pao.

On-the-job training war oft kein Vergnügen. "Die Tage und meist auch die Nächte wurden hinter den Druckmaschinen verbracht, weil jeder so beschäftigt war, gab es kaum Zeit für Gespräche." China Color, 1951 gegründet, ist eine der größten Druckereien Taiwans. Mit steigenden Aufträgen aus Europa, den Vereinigten Staaten, Südostasien, Australien und Afrika, ist ihr Umsatz im Aufschwung begriffen, was starken Druck auf die Angestellten ausübt. "Meistens muß ich abends weit länger als bis 5:30 arbeiten," sagt Herr Pao. "Natürlich bekomme ich die Überstunden bezahlt, aber anstatt mehr Geld würde ich lieber mehr Freizeit genießen können."

Die wenige Freizeit, die Herr Pao hat, verbringt er mit Musikhören, Lesen oder Videofilmen. Aber er trägt sich mit einem für Taiwan außergewöhnlich häufigem Gedanken: er möchte sein "eigener Chef" werden. Das Kleinunternehmen als bevorzugter Lebensstil wird manchmal als" lao-pan Seuche" bezeichnet. Ein hiesiger Witz sagt, sollte man eines Tages einen Baseball aus dem Fenster werfen, so würde dieser, bevor er aufspringen und zum Stillstand kommen kann, zweifelsohne zuerst einen lao-pan (Firmenchef) treffen.

Daher sind Herrn Paos Träume durchaus nicht ungewöhnlich. "Obwohl ich mich für meine derzeitige Tätigkeit durchaus qualifiziert fühle, bin ich mit meinem gegenwärtigen Leben dennoch nicht zufrieden und auch nicht bereit, mich auf diese Arbeit festzulegen. Ich werde auch in Zukunft solange meine Jobs wechseln, bis ich bessere Arbeit, bei besserer Bezahlung, gefunden habe. Sobald ich genug Geld verdient haben werde, möchte ich meinen eigenen Betrieb aufmachen", sagt Herr Pao. "Ich bin sicher, daß ich es durch harte Arbeit schaffen kann."

Herrn Paos Ambitionen sowie sein Drang nach Selbständigkeit unterscheiden sich kaum von den Zielen anderer, eben erst in den lokalen Arbeitsmarkt integrierter junger Menschen. Ganz abgesehen davon gibt es noch eine weitere neue Herausforderung: mehr und mehr hochqualifizierte, nicht weniger für den Erfolg prädestinierte Frauen drängen auf den Arbeitsmarkt. Judy Chen ist ein gutes Beispiel dieser neuen Generation.

Judy Chen, Vertreterin der neuen Generation von Angestellten - gut ausgebildet, fachlich geschult, hoch bezahlt und selbstsicher.

Frau Chens Familie legte großen Wert auf eine gute Ausbildung der Kinder. Die beiden älteren Brüder absolvierten ihre Diplomstudien in den USA. Ihr selbst fiel die Schule relativ leicht und nach ihrem Abschluß am Institut für Volkswirtschaft an der Staatlichen Taiwan Universität begann sie in der Taipeier Zweigstelle der Citybank N.A. zu arbeiten. Nach nicht allzu langer Zeit, in ihrem zweiten Arbeitsjahr, wurde ihr endgültig klar, daß sie den Rest ihres Lebens nicht im Bankwesen verbringen wollte. Sie wählte den Weg ihrer Brüder, ging in die USA und machte dort ihr Diplom in Computerwissenschaften. "In meine engere Wahl fielen ein Diplomstudium in Volkswirtschaft bzw. in Computerwissenschaften. Ich entschied mich, ohne es nun zu bereuen, für Letzteres", erinnert sie sich.

1981 schrieb sich Frau Chen an der Universität Texas in Dallas ein und kehrte zwei Jahre später mit einem Diplom der Computerwissenschaften zurück. Mit Wissen gut gerüstet begann sie, unter der Mithilfe von Freunden, eine Liste der fünfzehn besten hiesigen Computerfirmen zusammenzustellen und bewarb sich um eine Anstellung. "Ich wollte nur in einer großen und renommierten Firma arbeiten", sagt sie. "Seit dem Universitätsabschluß war dies immer schon mein Ziel gewesen. Eines Tages sah ich eine Annonce von Hewlett-Packard Taiwan in der Zeitung. Darin hieß es in etwa: 'Wenn sie sich für acht der zehn genannten Punkte qualifiziert fühlen, sind sie genau die Person, die HP braucht.' Ich las die zehn Anforderungen Punkt für Punkt", erinnert sie sich lächelnd, "und fühlte mich für alle zehn qualifiziert".

Obwohl die bei Hewlett-Packard ausgeschriebenen Stellen nicht direkt in ihrem Fachgebiet lagen, wurde sie, nach einem ersten telefonischen Vorgespräch mit der Personalabteilung, innerhalb einer Woche zu einem Interview gebeten. Kurz danach bekam sie die ersehnte Anstellung und arbeitet momentan als Technikerin in der Asian Personal Computer Operation (APCO) von HP in Taipei.

Frau Chens Job spiegelt die Veränderungen am taiwanesischen Arbeitsmarkt wieder. Fertigkeiten in der Hochtechnologie werden von dutzenden Firmen, wie der aus Palo Alto stammenden Hewlett-Packard, gefordert. Das Unternehmen, daß seine Zweigstelle 1970 in Taiwan eröffnete, ist einer der wichtigsten Designer und Produzenten von Rechenanlagen und elektronischen Meßgeräten für die Bereiche Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Technik, Gesundheitsfürsorge und Ausbildung. APCO ist eine Forschungseinrichtung, die sich die Vermarktung von Software in asiatischen Sprachen zum Ziel gesetzt hat. Ferner wird in den Bereichen PC und Computersysteme sowie in deren Anwendung geforscht. Frau Chen zählt zu den 20 Mitarbeitern dieser Forschungsabteilung. Seit 1985 arbeitet sie mit ihren Kollegen an Programmen für vereinfachte und klassische chinesische Schriftzeichen und für die koreanische und japanische Sprache im Personal Computer Bereich.

"Mir gefällt dieser Job sehr gut, denn ich kommuniziere gerne mit Computern. Darüber hinaus bietet HP ein angenehmes Arbeitsklima und beschreitet eigene Wege im Management. Wir haben ein flexibles Management, bei dem Vorgesetzte und Untergebene in direktem Kontakt stehen und Probleme sofort gelöst werden können. Jeder arbeitet hier sehr konzentriert. Man wird von niemandem bei der Arbeit beobachtet und schaut auch anderen nicht auf die Finger."

Durch Frau Chens Aussagen wird deutlich, daß Taiwans Wirtschaft weiteren bemerkenswerten Veränderungen unterworfen ist. Jahrhunderte patriarchalisch-chinesischer Leitung von Familienbetrieben machen moderner, wissenschaftlicher Betriebsführung Platz. Dies ist einerseits auf das Wachsen der Betriebe von Klein- zu Mittel- und Großunternehmen zurückzuführen, andererseits auf die Notwendigkeit zur Spezialisierung und Neuaufteilung der Verantwortung in der heutigen komplexen Geschäftswelt. Ausländische Firmen haben auf diesem Gebiet weit größere Sachkenntnis, zumindest bis zum heutigen Zeitpunkt. Chinesische Betriebe stützen sich auf ehemalige Auslandsstudenten, wie etwa auf Judy Chen, und bringen so ihre Arbeitsmethoden auf den neuesten Stand und bleiben somit wettbewerbsfähig.

Frau Chens Fähigkeiten fanden beim HP-Management große Anerkennung. In den letzten vier Jahren wurde sie dreimal nach Großbritannien und in die USA entsandt, um dort weiterführende Forschungsprojekte zu leiten. Sie ist dankbar für diese Möglichkeiten und die gemachten Erfahrungen haben sie zu noch größerem Arbeitseinsatz stimuliert. "Rückblickend war es richtig, daß ich mich für diesen Weg entschieden habe. Möglicherweise ist dies die Karriere meines Lebens, auch sehe ich kaum die Gelegenheit mich anderen Fachgebieten zuzuwenden."

Dieser letzte Kommentar enthüllt einen weiteren Wechsel in der taiwanesischen Arbeitswelt, einen mit sozialen Auswirkungen. Frau Chen ist in ihrem Beruf fest etabliert, jedoch beklagt ihre Familie, daß sie mit 31 Jahren noch immer unverheiratet ist. "Ich habe mich nie der Freundschaft mit Männern verschlossen; tatsächlich habe ich eine Menge Freunde", sagt sie. Aber noch ist an Heirat kaum zu denken. "Ich glaube, das ist, was wir Chinesen 'Mangel an vom Schicksal vorbestimmter Beziehung' nennen", meint sie. Dennoch ist die chinesische Tradition fest in ihr verwurzelt. "Für ein Mädchen wie mich geht die Gründung einer Familie einher mit der Bereitschaft, mich an einem Ort niederzulassen. Sollte sich in Zukunft der richtige Partner finden, so werde ich ohne zu zögern, meinen Job aufgeben und zu Hause bleiben. Falls ich später wieder den Wunsch verspüre zu arbeiten, werde ich kaum Schwierigkeiten haben, das bereits Gelernte erneut anzuwenden."

Wie dem auch sei, Frau Chen hat sich momentan ganz ihrer Arbeit verschrieben. "Ich hatte nicht nur Glück mit Ausbildung und Arbeit, sondern auch mit den hervorragenden Menschen, die ich in den letzten Jahren zu Hause und im Ausland getroffen habe. Bei Hewlett-Packard konnte ich viel lernen. Ich glaube, ich kann meinerseits nun beginnen, konstruktiv zur Firma beizutragen." Während Frau Chen spricht, spiegeln ihre Augen einen verständlichen Stolz über ihre Arbeit wieder.

Gewerk­schafter Chen Ming-tzung -­ stets bestrebt, Arbeitserleichte­rungen für seine Kollegen durchzusetzen.

Viele aus der arbeitenden Bevölkerung, insbesondere ältere Generationen, hatten jedoch wesentlich mehr Schwierigkeiten zu meistern. So verhält es sich auch bei Chen Ming-tzung, einem 47jährigen Vater dreier Schulkinder. Sein Arbeitsleben begann bei General Instruments Taiwan (GIT), einer der ersten mit ausländischem Kapital errichteten Elektronikfirmen. GIT ist im Moment einer der größten Betriebe in der Republik China und liegt jedes Jahr unter den zehn führenden Exportunternehmen. Gegründet wurde GIT 1964 mit 200 Angestellten von der amerikanischen General Instrument Corporation als eine 100-prozentige Tochtergesellschaft. Mittlerweile beschäftigt es fast 7 000 Arbeiter in Hsintien und Chitu, im Norden Taiwans.

Im zweiten Betriebsjahr von GIT nahm Herr Chen, nach Abschluß der Berufsschule, seine Arbeit auf. Er war mehr als 22 Jahre lang in der Produktion von TV-Geräten beschäftigt und konnte sich dort durch harte Arbeit und viel Geschick Schritt für Schritt vom Arbeiter zum Techniker und schließlich zum Wartungsingenieur emporarbeiten. Er mag seinen Job und hat viel Spaß an der Arbeit, aber im Rückblick auf die vergangenen Jahre ist ihm sein Mitwirken an den Gewerkschaftsaktivitäten der Firma in bester Erinnerung. Die Gewerkschaft wurde 1969 gegründet und war die erste in einer mit ausländischem Kapital errichteten Firma auf Taiwan. Herr Chen sagt, daß es früher an Lärmschutzeinrichtungen und Arbeiterwohlfahrt gemangelt habe, beispielsweise konnte ein Arbeiter ohne Angabe von Gründen entlassen werden und niemand hatte die Möglichkeit für ihn einzutreten. So kam schließlich die Idee auf, eine Gewerkschaft zu gründen, aber weitere Schritt zu unternehmen war nicht einfach.

"Es war eine schwere Zeit", erinnert er sich, "das Management war, wahrscheinlich auf Grund schlechter Erfahrungen mit amerikanischen Gewerkschaften und der Angst, unsere Gewerkschaft könnte eine Bedrohung darstellen, gegen unseren Plan und nicht geneigt, seiner Durchführung zuzustimmen." Aus diesem Grund mieteten Herr Chen und einige andere Arbeiter ein kleines Zimmer außerhalb der Firma, um weitere Schritte zu planen. "Wir diskutierten und planten nach der Arbeitszeit. Oft aß jeder nur ein oder zwei gekaufte Klöße zum Abendessen, aber wir waren stets guter Laune und in unseren Sehnsüchten vereint. Zwei Jahre später wurde unsere Gewerkschaft schließlich Wirklichkeit, aber die Firmenleitung wollte diese Tatsache noch immer nicht akzeptieren. Konfrontationen und Meinungsverschiedenheiten traten gelegentlich auf und erst einige Jahre später erkannte die Firmenleitung, daß wir nicht beabsichtigen, das Management zu bekämpfen. Seitdem wuchsen gegenseitiges Vertrauen und Verständnis Schritt für Schritt."

Heute ist die Beziehung zwischen Belegschaft und GIT-Management durchaus harmonisch und die Firma ist auf ihr Arbeiterwohlfahrtsprogramm sehr stolz. Das beinhaltet eine Reihe von Freizeitaktivitäten und Einrichtungen, wie ein firmeneigenes Gemischtwarengeschäft und ein Kaufhaus, einen chinesischen Kungfu-Klub und von der Firma finanzierte Filmvorführungen an Sonntagen. Letzten September versprach die Firmenleitung von GIT nahezu US$ 90 000 für die Errichtung einer betriebseigenen Videothek zur Verfügung zu stellen. Herr Chen, der derzeite Finanzreferent der Gewerkschaft, wurde mit der Durchführung dieses Planes betraut.

Das Beispiel von GIT ist sehr lehrreich, denn heute trifft man, Arbeiter mit ähnlichen Vorstellungen wie sie Herrn Chen bereits 1969 hatte, immer häufiger an. Daher sind sowohl die alte Garde als auch die jungen Arbeiter nicht mehr bereit, dem Management allein die Entscheidungsgewalt über Belegschaftsfragen zu überlassen.

"Aber auch bei GIT ist nicht alles perfekt und ab und zu treten Probleme auf; nichtsdestoweniger sind Arbeiterschaft und Firmenleitung stets ernsthaft bemüht, solche so schnell wie möglich beizulegen", sagt Herr Chen. "Manchmal lassen sich Schwierigkeiten mit einem Telefonanruf lösen und in den letzten Jahren hat GIT niemals die Regierungsbehörden zur Lösung unserer Konflikte bemühen müssen. Auf der Basis unserer Zusammenarbeit gibt es keine unlösbaren Schwierigkeiten." Obgleich dies der Weg zum Erfolg in der Auseinandersetzung zwischen Arbeitern und Management zu sein scheint, ist es dennoch ein Weg ohne Ende. Was Herr Chen für seine GIT-Kollegen äußerte, könnte er genausogut für alle Arbeiter gesagt haben: "Wir sind mit dem, was wir bis heute erreicht haben, nicht zufrieden. Wir werden auch in Zukunft unser Bestes geben, um auf diese Weise weitere Arbeitserleichterungen für unsere Kollegen durchzusetzen."

(Deutsch von Stephan Schindl)

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