02.05.2025

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Akupunktur - Als zwischenkulturelle Therapie

01.01.1989
Unter Aufsicht seines Professors demonstriert Dr. Heber seine Kunstfertigkeit.

Ein Mann mittleren Alters, der ruhig auf einem Untersuchungstisch liegt, verhält sich regungslos, als ein Arzt geschickt eine Reihe von Nadeln in sein Muskelfleisch einsetzt. Nach einem Schlaganfall ist er Patient im Klinikum des China Medical College in Taichung, Zentral-Taiwan. Während der Arzt mit dem Patienten plaudert, stellt er gleichzeitig einer Gruppe zuschauender Studenten etliche Fragen: "Welcher Kanal ist das? Wie nennt man diesen Punkt? Warum habe ich diese Stelle gewählt?" In diesem Moment prüft er einen bestimmten Studenten, den einzigen in der Gruppe, der augenfällig kein Chinese ist: Dr. Roland G. Heber, 32, ein Arzt aus Deutschland, der hierher gekommen ist, um die traditionelle, chinesische Heilkunde zu erlernen.

Heber kennt bereits den Großteil der Heilbehandlungen in der Akupunktur. Vor der anscheinend leichten Behandlung, dessen ist sich der junge Arzt bewußt, muß eine komplizierte Analyse der Krankheitssymptome erfolgen. In der chinesischen Medizin sind Therapie und diagnostische Methoden wie Schloß und Schlüssel - das Eine ohne das Andere ergibt keinen Sinn.

In westlichen Ländern, in denen Akupunktur eine immer beliebter werdende Alternativtherapie ist, blüht das Geschäft der Privatlehrer. Doch auch viele Krankenhäuser verwenden bereits diese Kunst. Die Schar der Anhänger schwört, daß Akupunktur auf den Gebieten, auf denen die westliche Medizin versagt, Wunder vollbringen kann. Heber hat diese Erfahrung in Deutschland selbst gemacht und ist nun in Taiwan, um an Ort und Stelle die Grundlagen zu studieren: Denn ohne fundiertes Basiswissen kann man zwar mit Akupunktur arbeiten, wird jedoch kaum optimale Ergebnisse erzielen.

Heber sagt: "Ohne zu wissen, wie man eine chinesische Diagnose erstellt, muß der westliche Akupunkturist umhertasten und Nadeln für jedes einzelne aufspürbare Symptom einsetzen. So kann man Patienten mit 40-50 in einer Behandlung gesteckten Nadeln als Therapie für alle Krankheitssymptome finden. Erstellt man eine chinesische Diagnose, reichen oft schon vier bis acht Akupunkturpunkte aus, mit denen meist auch noch ein höherer Wirkungsgrad erzielt wird."

Kombiniert man moderne, westliche Medizinkenntnisse mit denen der traditionellen, chinesischen Medizin, ist das mehr als nur die Suche nach Alternativen oder das Finden wissenschaftlicher Antworten auf die Frage, warum Akupunktur wirklich funktioniert. Bis zu einem gewissen Grad gibt es da sicherlich ein psychologisches Moment, das als Erklärung dienen könnte. Da sich die beiden medizinischen Systeme grundlegend unterscheiden, hat sich die medizinische Gesellschaft des Westens weltweit in zwei Lager gespalten: ein enthusiastisches und ein anderes, gegenüber dem zwischenkulturellen Austausch eher feindlich eingestelltes Lager. Viele chinesische Praktiker der traditionellen Medizin wollen darüberhinaus auch einen gewissen Abstand zum Westen bewahren. Kurz, die Diskussion ist zu einer Streitfrage mit vielen Emotionen und Vorurteilen geworden.

Für diejenigen, die meinen, daß es sinnvoll ist, beide Systeme zu kombinieren, ist alles einfacher. Heber, zum Beispiel, erklärt, man könne sich dem Problem, die menschliche Gesundheit zu erhalten von zwei Seiten nähern. Er ist der Ansicht, diese Annäherungswege könnten und sollten zu einem neuen, überlegenen System integriert werden. "Ich kam in die Republik China, um später in der Lage zu sein, mit einer neuen, bikulturellen Gesinnung, beide medizinische Betrachtungsweisen effektvoll zu vergleichen und sie möglicherweise ohne Vorurteile zu vereinigen." Nach dem Abschluß des Studiums hofft er mit etwas in sein Land zurückzukehren, was er für eine lebenskräftige "Transfusion" der westlichen Medizin hält. "Ich bin zu dieser Entscheidung nach einem langen, intellektuellen und moralischen Kampf gekommen", fügt er hinzu. "Ich mußte mich mit einem Hintergrund aus zwölf Jahren Ausbildung, Forschung, Reflektion und Erfahrung in westlicher Medizin auseinandersetzen."

Dieses chinesische Akupunkturzimmer erinnert den westlichen Besucher kaum an ein Krankenhauszimmer - Patienten und Personal plaudern miteinander, Familienmitglieder und Freunde kommen und gehen und alle sind locker und entspannt. Nur mit Unbehagen denkt man an die kalten, mit Neonlicht überfluteten Gänge der westlichen Krankenhäuser. Reflektieren diese so verschiedenartigen Atmosphären nicht gleichzeitig einige grundlegende Unterschiede in der medizinischen Philosophie?

Qualität und nicht Quantität ist der Schlüssel zum richtigen Plazieren der Akupunkturnadeln.

Heber bezieht sich auf einen Artikel von Claus C. Schnorrenberger, ein deutscher Experte für chinesische Medizin, der die Frage stellt, ob der Westen einen sehr wichtigen Aspekt in der Medizin übersehen hat: " .... es gibt bei uns so viele erhitzte Diskussionen, ob Krebs die psychische Situation eines Menschen widerspiegelt - ob zum Beispiel Unglück, ein Übermaß an emotionalen Erregungen oder eine Überdosis Streß die Gesundheit negativ beeinflussen können ..... Trotz hervorragender Ärzte, fantastischer Medikamente und immer größer und besser ausgestatteter Krankenhäuser, scheinen die Menschen von Heute immer kränker zu werden ..... "

Überdies sieht Heber die Entwicklung der westlichen Medizin nicht nur von ihrer Sonnenseite. "Die größte Gefahr," bemerkt er, "ist gegenwärtig die wachsende Mißachtung für den Patienten als Ganzes, als ein Mensch mit einer einzigartigen Geschichte in einer Testreihe oder Symptomserie, die von verschiedenen Spezialisten untersucht wird. Der Patient wird in Details, Muster und Berichte aufgesplittert. Er kann den Rest seines Lebens in den Händen von medizinischen Technokraten verbringen, ohne jemals eine ehrliche, von Angesicht zu Angesicht gegebene Antwort zu bekommen, welche Krankheit er hat und was man dagegen tun kann!"

Nach dem Abschluß an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg belegte Dr. Heber mehrere Akupunkturkurse und wurde Mitglied des Deutschen Forschungsinstituts für Chinesische Medizin. Auf diese Weise wurde sein Interesse für das umfangsreiche Gebiet der chinesischen Medizin geweckt. Aus beruflichen Gründen wechselte er kurz darauf an ein Krankenhaus in Hongkong, wo er anfing Chinesisch zu lernen. Wann immer er dienstfrei hatte, besuchte er praktizierende Ärzte der traditionellen, chinesischen Medizin.

Schließlich beschloß er, daß es Zeit für ihn sei, ganztägig chinesische Medizin zu studieren. Deshalb ging er in die Republik China auf Taiwan, um sich für die Doktorandenklasse des China Medical College in Taichung in chinesischer Medizin zu immatrikulieren. Dies ist eine private, mit staatlicher Unterstützung geleitete Einrichtung, die Studenten die Möglichkeit bietet, Parallelkurse in westlicher und chinesischer Medizin zu belegen. Außerdem wird ein Aufbaustudium angeboten, welches mit dem Grad des Magisters in chinesischer Medizin abschließt.

Als einziger nicht-asiatischer Student der Schule schaut Heber etwas besorgt auf den straffen Stundenplan, - es bleiben ihm gerade zwei Jahre Zeit, um alle Kurse zu bewältigen. "Im ersten akademischen Jahr werde ich ziemlich beschäftigt sein, meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Danach sollte ich in der Lage sein, dem Lehrprogramm, wie es im Kurrikulum festgelegt ist, zu folgen." Um sicher zu gehen, hat er sich vier Jahre Zeit gegeben, das Programm, einschließlich der Abschlußdissertation, zu beenden.

Anders als die meisten seiner Studienkollegen, die sich auf moderne Forschungen zum Einstieg in die traditionelle chinesische Medizin konzentrieren, vertieft sich Heber direkt in den traditionell-chinesischen Zugang. Chinesische Medizin bedarf westlicher Methodologie. Aber was für ihn zu dieser Zeit noch wichtiger ist, ist das persönliche Verstehen des einzigartigen Charakters chinesischer Medizin.

Die Sprache und begriffliche Unterschiede bilden eine gewaltige Barriere zwischen den medizinischen Erfahrungen in Ost und West. Chinesisch kann man nur sehr schwer in westliche Sprachen übersetzen. Das gilt besonders für Versuche chinesische Begriffe zu übersetzen, die im westlichen Denken keine Entsprechungen haben.

Heber spürt das bei dem Versuch grundlegende medizinische Begriffe wie "ch'i" (氣, Vitalenergie, Lebenskraft) und "ying-yang" (陰陽, die gegensätzlichen, jedoch komplementierenden Kräfte, die Natur und Menschen durchdringen) zu übersetzen. Es ist sinnlos, einfach analoge Begriffe zu kreieren, für die es in der westlichen Anschauung keine passenden Entsprechungen gibt. Der einzige Weg zum vollen Verständnis, sagt er, ist die Erfahrungen ihrer Anwendung aus erster Hand, um dann die Originalbegriffe zusammen mit den entsprechenden Erklärungen zu gebrauchen.

"Wenn man die Bedeutung der medizinischen Begriffe verstehen möchte, reicht es nicht aus, die Lehrbücher im Original zu lesen. Um ein klares Bild zu gewinnen, muß man sich selbst die chinesische Kultur in jeder Hinsicht zugänglich machen und sich ganz der chinesischen Lebensanschauung öffnen."

Darüberhinaus ist Heber sich nun bewußt, daß die meisten Textübersetzungen, die er in Deutschland studiert hat, abgesehen davon, daß sie oft nur Teile und Bruchstücke der ursprünglichen Werke repräsentieren, auch voll von falschen Interpretationen sind.

Von innen heraus, von Seite der Chinesen, sieht Heber neue Probleme aufkeimen: "Viele Chinesen, die moderne Forschung über chinesische Medizin betreiben," sagt er, "neigen dazu, sich unkritisch dem Standpunkt zu unterwerfen, nur westliche Medizin sei wissenschaftlich."

Es ist ironisch, aber dieser im Westen ausgebildete deutsche Arzt verteidigt in Diskussionen über die Wissenschaftlichkeit beider Medizinsysteme den traditionellen chinesischen Annäherungsweg gegenüber seinen chinesischen Lehrern und Studienkollegen.

"Von den beiden verschiedenen medizinischen Modellen," so stellt Huber fest, "kann keines für sich beanspruchen rein wissenschaftlich zu sein ..... Vernünftigerweise kann man keines der beiden aufgeben." Er zitiert einen deutschen Akademiker: "Klinische Medizin als solche ist nicht Wissenschaft, sondern die Anwendung von Wissenschaft," und er fügt hinzu: "Falls wir sie zur reinen Wissenschaft erklären wollen, wie können wir dann einen Begriff wie Leben gebrauchen? Es liegt auf der Hand, daß das Leben existiert, auch wenn wir es nicht völlig erklären können. Aber wenn das Leben nicht die Basis der Medizin ist, worüber sprechen wir eigentlich?"

Anstatt nur zu fragen, welche medizinische Tradition wissenschaftlich ist, sagt Heber: "Wir sollten in Betracht ziehen, daß sich verschiedene wissenschaftstheoretische Grundlagen zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Niveaus an Kenntnissen und Technologien niedergeschlagen haben. Und was in einem System besonders herausragend ist, kann in einem anderen System teilweise oder völlig fehlen." Er glaubt, daß die Vollkommenheit der intuitiven Erkenntnis traditioneller chinesischer Medizin dazu beitragen kann, alte westliche Traditionen wieder in die moderne westliche Medizin aufzunehmen.

Die chinesische Medizin betrachtet den Patienten als Ganzes, indem sie alle Symptome als Teil eines größeren Gesamtbildes ansieht, immer in Übereinstimmung mit dem Leitmotiv, daß das Ganze mehr als nur die Summe seiner Einzelteile ist. Dieses Prinzip war einst auch in der westlichen Medizin maßgebend, ohne daß ein Ost-West Gedankenaustausch stattgefunden hätte. Der große Arzt des 16. Jahrhunderts, Paracelsus, schrieb über "Die Ganzheit des menschlichen Wesens" in Begriffen, als wären sie direkt aus einem klassischen, chinesischen Text übernommen. Erst im 18. Jahrhundert als die Wissenschaft verkündete, daß außer der Summe von Einzelteilen weiter nichts existiere, begann die westliche Medizin ihre eigenen Wurzeln zu verlassen.

Es ist wahr, daß die neuen Entwicklungen medizinischen Erfolg in der ganzen Welt erzielten. Der Preis war die sorglose Preisgabe traditioneller medizinischer Systeme in vielen Kulturen. Nur die chinesische Medizin hat ihre Verbindungen zu ihren Ursprüngen und Traditionen lebendig erhalten.

Moderne Wissenschaften, wie z.B. die Physik, rücken heute immer näher an die Grenzen der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Um Fragen zu beantworten, die mit strikt wissenschaftlichen Argumentationsweisen nicht mehr gelöst werden können, müssen die Gedankenmodelle gedehnt und erweitert werden und alte Gedankensysteme gewinnen an Relevanz.

Das bedeutet nicht, daß der Mensch Zuflucht zum Mystizismus nehmen sollte. Im Gegenteil, er sollte gegenüber anderen, neuen oder vielleicht auch sehr alten Denkweisen offen bleiben. Deshalb suchen westliche Physiker Verständniswege wie sie in der östlichen Philosophie, zum Beispiel im Taoismus zu finden sind.

Ein vorherrschendes, bemerkenswertes Merkmal des Taoismus ist die Anschauung der Dinge als Ganzes und diese Betrachtungsweise ist gleichzeitig das Herz der chinesischen Medizin. Ein besonderer Aspekt der ganzheitlichen Anschauung in der chinesischen Medizin ist die Betonung des aktiven Einwirkens zur Förderung der Gesundheit, anstatt der reinen Behandlung der Krankheit. Lebensstil, Essen und Trinken, körperliche Bewegung und die Beziehung von Körper und Seele, all das trägt zur Gesundheit bei und sollte im Falle einer Krankheit mit in die medizinische Behandlung einbezogen werden.

In Taiwan können die chinesischen Patienten heute zwischen chinesischer und westlicher Behandlung und Diagnose wählen. Der traditionelle Arzt betrachtet die gleichen Beschwerden und Symptome wie seine westlichen Kollegen. Sie arbeiten Seite an Seite, und in Institutionen wie das China Medical College in Taichung findet bereits ein Austausch von Erfahrungen statt. Obwohl sich die westliche Medizin in der chinesischen Gesellschaft etabliert hat, überschattet sie nicht völlig die chinesische Medizin.

Ist es für die westliche Gesellschaft verlorene Zeit, andere medizinische Systeme von Nahem zu betrachten, um sie wahrhaft zu verstehen? Dr. Roland G. Heber hat diese Frage für sich selbst bereits entschieden.

(Deutsch von Irene Cheng)

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