28.04.2025

Taiwan Today

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Drachen im Aufwind

01.11.1993

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein bißchen Bambus, ein Blatt Reispapier und Phantasie - das ist alles, was man braucht, um einen Papierdrachen zu basteln. Aber unter dem gesellschaftlichen Hochdruck Taiwans verlieren zu viele Leute den Blick für so einfache Vergnü­gen. Huang Ching-chen will die Freude am Drachensteigenlassen am Leben erhalten.

Huang Ching-chen(黃景楨)ist ein junger dynamischer Geschäftsmann aus Taiwan. Der 31jährige Architekt und Unternehmer mit dem Kindergesicht hat in Taipei zwei Firmen gegründet: Proflying Interior Design und Proflying Devel­opment International Co., eine in Festlandchina, Vietnam, Mikronesien und Rußland tätige Handelsfirrna. Die Inneneinrichtungsfirma hat acht Mitar­beiter, die Handelsfirma fünf, von denen einer einen Sitz in Moskau hat. An den meisten Werktagen kommt Huang erst gegen Mitternacht nach Hause.

Aber jeder, der Huang's Büro im Osten Taipeis einen Besuch abstattet, merkt, daß er es nicht mit einem Men­schen von der bierernsten "nur-Arbeit-und-sonst-nichts-Sorte" zu tun hat. Die erste Frage, die einem beim Betreten eines Büros in den Sinn kommt, ist: Warum sind die Zimmer voller Papierdrachen? Die zweite Frage stellt sich beim Lesen seiner Visitenkarten: War­um haben beide Firmen Huang's "Proflying" im Namen? Die Antwort auf beide Fragen ist einfach. Huang's größ­tes Vergnügen sind Papierdrachen.

"Ich weiß nicht warum - ich liebe Drachensteigenlassen einfach über alles", erklärt Huang mit einem beinahe verlege­nen Lächeln. Wenn die Rede auf Dra­chen kommt, gewinnt eine verhaltene Sprechweise an Tempo. "Das Gefühl, etwas entworfen und gebaut zu haben, das fliegen kann, das gibt dir selbst Auftrieb!"

In den 21 Jahren, in denen Huang nun schon "mit Drachen spielt", wie er es ausdrückt, hat er mehr als 1000 ver­schiedene Modelle kreiert. Im Alter von zehn Jahren begann er mit einem diamantförmigen Drachen; mittlerweile konstruiert er Modelle, die so komplex und ambitioniert sind, daß es dem Laien schwerfällt, an ihre Realisierbarkeit zu glauben. Unter denen, die er in seinem Büro ausstellt, gibt es eine drei Meter große Giraffe, eine Schar kanadischer Gänse, eine dreidimensionale Schnecke mit wackelnden Fühlern, einen 196bei­nigen Hundertfüßler, der sich im Flug zu einer Länge von 50 Metern ausstreckt, einen Panda, einen Hummer, einen Tin­tenfisch, einen Seestern und einen riesigen, dschungelgrünen Pterodactylus.

Huang sagt, daß man sich beim Basteln von Drachen auf natürliche Weise von Streß befreien kann; und mit Blick auf seine Sammlung: "Sie sind alle gute Freunde von mir." Außer seiner Tierserie, die er in diesem Jahr zur Unterstützung des Tierschutzes begann, hat Huang klassische blau-weiße Porzel­lanvasen, traditionelle chinesische Opern­masken und sogar einen indianischen Totempfahl aus Bambus und Papier nachgebaut. "Von allem, was man sieht und mag, kann man auch eine Version aus Bambus und Papier machen", sagt Huang. "Wenn du ein Schiff im Fernse­hen oder in einem Spielzeuggeschäft siehst, kannst du es nachbauen und flie­gen lassen. Man kann alles nehmen und es fliegen lassen. Es ist eine phantasti­sche Sache."

Sein bisher ehrgeizigstes Modell ist der Nachbau eines jener Drachenboote, mit denen jährlich bei einem chinesi­schen Feiertag im Juni Rennen gefahren werden. Zunächst baute Huang ein etwa 60 cm langes drachenförmiges Boot, detailgetreu mit einem grimmigen Dra­chenkopf. Dann brachte er zwei Reihen von Rudern an, die in der Luft als "Flü­gel" dienen. Huang erklärt, daß dieser Bautyp eine besondere Herausforderung darstellte, weil die Flugfähigkeit auf ei­nem anderen Prinzip als bei den mei­sten Drachen basiert.

In den letzten sieben Jahren wurden Huang und seine Drachen achtmal im Fernsehen, in Zeitschriften und in Zeitun­gen vorgestellt. Die Medien betrachten ihn in der schnellebigen, geldorientierten Gesellschaft von heute als eine Selten­heit; nur wenige Leute opfern ihre Zeit und Energie solchen Hobbys wie dem Basteln von Papierdrachen. "Es gibt nicht viele junge Leute, die Drachen selber bauen, denn es kostet Zeit", sagt Huang. "Junge Leute sind heutzutage nicht an Dingen interessiert, die Geduld erfordern. Sie wollen alles schnell machen. Wenn man von ihnen verlangt, viel Zeit in das Erlernen einer Sache zu investieren - besonders von etwas, das ihnen kein Geld einbringt - wird man, glaube ich, auf kein Interesse stoßen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Huang befürchtet, daß viele Leute während der Schulzeit ihre Kreativität verlieren und aufhören, ihre Phantasie zu benutzen. Viele Schüler entwickeln eine eingleisige, noten- und prüfungsorientierte Geisteshaltung, aus der nach der Graduierung eine eingleisige Geldscheffelmentalität wird. In Huang's Sicht der Dinge verlieren die jüngeren Generationen dadurch den Blick für das "wirkliche Leben". Er glaubt, daß Stu­dium, Arbeit und Spiel verbunden wer­den können und sollten. "Ich habe im Architekturstudium viele Entwurfsmethoden gelernt", erläutert er. "Jetzt kann ich sie sowohl bei der Konstrukti­on von Häusern als auch bei der von Drachen anwenden."

Tatsächlich hat Huang sich den Drachenbau, lange bevor er an der Tamkang-Universität in Tamsui sein Architekturdiplom erhielt, selbst beige­bracht. Er wuchs in Sanhsia im Land­kreis Taipei auf und verbrachte einen Großteil einer Freizeit mit dem Zusammenkleben von Bambus und Pa­pier, um etwas zu bauen, das fliegen würde. "Da hat mir niemand gezeigt", erzählt er. "Ich mochte Drachen, also habe ich es mir selbst beigebracht. Ich versuchte es einfach und scheiterte vie­le, viele Male." Er erinnert sich noch, was er dachte, als ihm schließlich ein einfaches Modell gelungen war, das in der Luft blieb: "Jetzt habe ich etwas gemacht, das höher als ein Vogel fliegt!" Huang glaubt, daß eine solche Erfahrung Kreativität freisetzt. "Ich denke, daß viele Leute ihre Vorstellungskraft erwei­tern könnten, wenn sie Drachen steigen ließen."

Seine Eltern waren von einem Hobby allerdings weniger begeistert. "Sie sagten: 'Warum verbringst du dei­ne Zeit nicht mit Lesen?'" erzählt Huang. "Ich denke, alle Eltern sind dieser Meinung - daß Studieren das Allerwichtigste ist." Sein Gesicht verfinstert sich etwas, wenn er diesen Punkt dar­legt. "Ich glaube, daß unser Land viele Arten von Leuten braucht, nicht nur solche, die in der Schule herausragen. Wir brauchen auch Arbeiter, und wir brauchen Designer - eben alle mögli­chen Arten von Leuten." Er glaubt, daß es zum Schaden der Gesellschaft ist, wenn alle Kinder zum Studium gezwun­gen werden und man sie davon abhält, anderen Interessen nachzugehen und ihre Talente zu entwickeln. "Alle Eltern wollen, daß sich ihre Kinder nur auf die Schule konzentrieren", sagt er. "Das ist nicht gut. Vielleicht ist es gut für die Familie, aber nicht für das Land."

Für Huang bedeutet das Bauen und Steigenlassen von Drachen wesentlich mehr als nur einen müßigen Zeitvertreib. Das Entwerfen und Realisieren eines Papierdrachen schärft den Verstand. "Man lernt eine Menge über Dinge, mit denen man vorher nichts zu tun hatte. Wenn ich zum Beispiel ein vogelförmiges Modell machen will, kaufe ich mir als erstes etliche Vogelbücher. Um ei­nen Vogel zu konstruieren, versuche ich jeden Teil von ihm zu verstehen."

Wenn das Werk vollbracht ist, stärkt man beim Flugversuch im Freien seinen Körper. "Zum Drachensteigen­lassen geht man normalerweise an ei­nen Strand oder in einen Park -­ irgendwohin, wo die Umgebung gut für die Gesundheit ist", führt Huang aus. "Man ist in der Sonne, am Meer oder auf einer Wiese. Als ich Student war, bin ich sogar ins Meer gewatet. Ich lasse Drachen gerne über dem Wasser stei­gen, auch wenn sie aus Papier sind. Das ist spannender." Außerdem, betont Huang, sind Drachen billig in der Herstellung. Bambus und Reispapier für ein Modell kosten ungefähr 25 NT$ (1 US$), und man bekommt die Mate­rialien überall.

Huang hat seine Drachen auf die Berggipfel des Yangmingshan-Nationalparks getragen, und er hat sie auf Golf­plätze geschmuggelt; sogar vom Dach des Bürogebäudes, in dem er arbeitet, hat er sie steigen lassen - eine Metho­de, die er allerdings nicht empfiehlt. "Drachen von Hausdächern aus steigen zu lassen, ist gefährlich, weil sie sich in den Fernsehantennen verheddern kön­nen. Aber manchmal habe ich keine Zeit, zum Strand rauszufahren. "

Während des College-Studiums un­terrichtete Huang Drachenbau und grün­dete einen Drachenklub. Die meisten der Studenten waren allerdings nur daran interessiert, Huang's Drachen auszuleihen. "Sie ließen am liebsten meine Dra­chen steigen, anstatt selbst welche zu machen", erzählt er. Heutzutage ist er zu beschäftigt, um zu unterrichten oder Drachenexkursionen zu leiten. "Ich bin jung", sagt er. "Ich muß jeden Tag arbeiten, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen." Zeit zum Basteln und Bauen seiner eigenen Modelldrachen findet er nur nach Mitternacht.

Trotzdem plant er, ein Bastelbuch für Tiermodelle zu schreiben; und irgendwann möchte er seine Drachen hier und auch im Ausland ausstellen. "Ich würde die Modelle gerne in anderen Ländern zeigen", sagt er. "Ich möchte sie allen Leuten, die Drachen lieben, vor­stellen." Sein ultimatives Ziel ist jedoch, Taiwans erstes Drachenmuseum zu bau­en. Als Arbeit zur Erlangung seines Architekturdiploms hat er einen Entwurf für dieses Museum gezeichnet. Die Ar­beit hatte einen Preis unter den Architekturstudenten gewonnen, und eine ge­rahmte Kopie des Entwurfs hängt in seinem Büro. Außer den Ausstellungs­räumen würde Huang's über 26 000 m2 großes, achteckiges Museum einen Windkanal und eine Bühne im Freien für Drachenvorführungen haben; und es würde eine "Drachenklinik" geben, zu der Besucher beschädigte Modelle brin­gen könnten.

Ursprünglich hatte er einen Platz am Tamsui-Fluß, der durch Taipei fließt, als Standort für das Museum geplant. Aber schöne Stellen am Fluß sind immer schwieriger zu finden, da das Land von Industrieanlagen oder Wohnblocks ver­schlungen wird. Der Erwerb von Grund­stücken wird immer teurer. Dennoch ist Huang entschlossen. "Dieses Museum ist die wichtigste Sache in meinem Leben", sagt er. Er betont, daß er darin auch Drachen aus aller Welt ausstellen möch­te. "Das Museum soll für Drachen aus allen Ländern offen sein, nicht nur für chinesische. Wir werden jedes gute Modell ausstellen." Auf diese Weise will Huang Taiwan und der Welt zeigen, daß das Drachensteigenlassen lebendig und zugänglich für jeden ist, der es versuchen will. "Jeder, der das Drachenbasteln erlernt, weiß, daß die Chinesen die Dra­chen erfunden haben", sagt Huang. "Aber das ist nicht wichtig. Das Wich­tigste ist, was man heutzutage kreieren kann."

(Deutsch von Christian Unverzagt)

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