Ein Gang zum Arzt ist auf Taiwan seit langem mit der Entscheidung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Erlebnissen verbunden. Der Patient kann sich entweder in einem der großen, moderen Krankenhäuser der Insel anmelden, in denen die Ausrüstung und die Ärzteausbildung überwiegend westlich sind. Oder er kann in der Nachbarschaft eine Praxis für chinesische Medizin aufsuchen. Üblicherweise besteht eine solche aus einem Raum, der mit einer Akupunkturliege und diversen Gefäßen voller Zutaten für Heilmittel vollgestellt ist. Für die Erstellung der Diagnose verläßt sich der Arzt bzw. die Ärztin auf seine bzw. ihre wichtigsten Werkzeuge. Diese sind ein Stift, eine gute Beobachtungsgabe und analytische Fähigkeiten.
Während der letzten zwei Jahrzehnte hat sich die moderne Medizin auf Taiwan immer stärker durchgesetzt. Die Zahl der Krankenhäuser und Kliniken ist von 12 000 im Jahr 1986 auf heute über 15 700 angestiegen. Obgleich die moderne Medizin ihren Einflußbereich weiter ausdehnte, hat auch die traditionelle chinesische Heilkunst in der Bevölkerung nicht an Anziehungskraft verloren. Über die letzten neun Jahre hinweg ging die Anzahl der zugelassenen Ärzte für chinesische Medizin von 2000 auf über 2800 nach oben.
Die beiden Formen der Heilkunde koexistieren schon seit längerer Zeit, allerdings nicht ohne gewisse Spannungen. Moderne Mediziner sehen die traditionelle chinesische Heilkunde als altmodisch und unwissenschaftlich an. Dem entgegen lautet das Argument der Ärzte für chinesische Medizin, daß die moderne Zunft wertvolle, seit fünftausend Jahren erfolgreich angewandte Behandlungsmethoden ignoriere.
Neuerdings haben die Vertreter bei der Richtungen jedoch herausgefunden, daß auf bestimmten Gebieten eine Zusammenarbeit möglich ist. Immer mehr Mediziner melden bei der Kombination von Akupunktur und chinesischer Kräutermedizin mit moderner medizinischer Technik für die Behandlung bestimmter Krankheiten und Beschwerden positive Ergebnisse. Man geht davon aus, daß diese Synthese, auch "dritte Medizin" genannt, in Zukunft immer häufiger angewendet werden wird. Schon jetzt bieten einige Krankenhäuser ihren Patienten eine Untersuchung durch sowohl moderne als auch traditionelle Ärzte an, die dann auf der Grundlage beider Heilmethoden eine Therapie verschreiben.
Während solche Kombinationen für viele Vertreter der im Westen ausgebildeten Medizinerschaft berufliches Neuland sind, greifen die Patienten bereits seit Generationen auf eine Mischung aus traditionellen und modernen Heilmitteln zurück. Viele von ihnen halten an dem althergebrachten Glauben fest, daß die traditionellen chinesischen Behandlungsmethoden bei bestimmten Krankheiten wie Asthma und Hepatitis wirksamer als die modernen westlichen seien und noch dazu weniger Nebenwirkungen aufwiesen. Daher ist es für viele Patienten völlig normal, das Rezept aus dem Krankenhaus durch von ihrem Arzt für chinesische Medizin verschriebene traditionelle Kräuterarzneien zu ergänzen.
Vielen modernen Medizinern und traditionellen Ärzten bereitet diese Angewohnheit Kopfzerbrechen, da die Patienten ohne professionelle Überwachung verschiedene Heilmethoden miteinander vermischen. "Über die Hälfte meiner Asthma-Patienten nehmen neben den modernen Medikamenten heimlich traditionelle chinesische Arzneien", berichtet Hsieh Kue-hsiung(謝貴雄), Professor für Pädiatrie an der medizinischen Fakultät der Nationalen Taiwan-Universität. "Dieses Problem kann zu Nebenwirkungen führen und beeinträchtigt die Wirksamkeit der Behandlung."
Das Mischen chinesischer Kräuterarzneien erfordert Wissen und Erfahrung. In einem Rezept sind meist viele verschiedene Zutaten enthalten, die nicht nur Krankheitssymptome lindern, sondern auch den Körper kräftigen sollen.
Immer mehr Mediziner glauben jedoch, daß ihre Patienten unter fachkundiger Anleitung von einer Kombination bei der Heilverfahren profitieren können. "Wie viele andere Ärzte bin ich darüber frustriert, daß es Krankheiten gibt, die ich nicht heilen kann", sagt Julia Tsuei(崔玖), Gynäkologin und Generalsekretärin der Stiftung für Ost-West-Medizin in Taipei. Tsuei betrachtet die dritte Medizin als eine weitere Waffe, die sie im Kampf gegen komplizierte Krankheiten oder bei der Therapie schwerheilbarer Patienten einsetzen kann. "Durch die Kombination aus modernen und traditionellen medizinischen Untersuchungsmethoden", meint sie, "kommen wir zu besseren Ergebnissen."
1989 riefen Tsuei und eine Gruppe aus Ärzten und Regierungsbeamten die Stiftung für Ost-West-Medizin ins Leben, die sich der Erforschung der dritten Medizin widmen sollte. Ein Jahr später gründete die Gruppe eine Schwesterorganisation namens Klinik für Ost-West-Medizin; damals die erste Klinik ihrer Art, die eine Mischung aus modernen und traditionellen Behandlungsformen anbot. Die Ärzte wenden hier bei der Untersuchung der Patienten und der Festlegung der Therapie beide Systeme der Heilkunde an. Ein Beispiel: Für einen Diabetes-Patienten beginnt die Untersuchung mit biochemischen Analysen wie Urin- und Bluttests, bevor er dann nach der aus vier Schritten bestehenden Methode der traditionellen chinesischen Medizin in Augenschein genommen und befragt wird. Als nächstes werden mittels eines Computers, dessen "elektrodermaler Meßfühler" an eine Fingerspitze gepreßt wird, Körpertemperatur, Puls, Blutdruck und andere Daten des Patienten in Erfahrung gebracht, um physiologische und psychische Abnormitäten zu ermitteln. Schließlich bekommt der Diabetiker sein Rezept, das seine Krankheit bekämpfende Medikamente sowie eine restriktive, durch chinesische Kräuter ergänzte Spezialdiät enthält.
In immer mehr Krankenhäusern werden ebenfalls moderne und traditionelle Heilmethoden parallel angewendet. 1985 offerierte die Klinik der Medizinischen Hochschule Chinas in Taichung im Westen der Insel als erste eine Abteilung für kombinierte moderne und chinesische Medizin. Hier werden Bluthochdruck, Unfruchtbarkeit, Asthma, Rhinitis, Diabetes, Hepatitis, Schilddrüsenüberfunktion, Nephritis, Rheumatismus und Tumoren behandelt. Zunächst entscheiden sich die Patienten, ob sie von einem Spezialisten für westliche oder einem für chinesische Heilkunde untersucht werden wollen. Nach der ersten Diagnose überweist der moderne Mediziner den Patienten nötigenfalls an einen Kollegen für chinesische Medizin oder umgekehrt. Chang Hen-hong(張恒鴻), Direktor der Abteilung für Innere Chinesische Medizin und Rheumaspezialist, berichtet, daß seine Abteilung jetzt die meistbesuchte der ganzen Klinik sei.
Laut Chang hat sich die dritte Medizin besonders bei der Behandlung von Patienten mit speziellen Bedürfnissen als wirksam erwiesen. Seine Abteilung hat beispielsweise mit dem Christlichen Hospital Changhua im Westen der Insel vereinbart, daß Patienten, die auf chemische Rheumamedikamente allergisch reagieren, an Chang überwiesen werden. Sie werden dann entweder mit einer Mischung aus modernen und traditionellen chinesischen Medikamenten oder ausschließlich mit Kräuterarzneien behandelt. Chang schätzt, daß täglich rund sechzig Patienten auf diese Weise versorgt werden. Laut seiner Aussage seien diese Therapien wirksamer als moderne Heilverfahren und wiesen zudem weniger Nebenwirkungen auf.
Im Städtischen Ho-Ping-Krankenhaus Taipei begann man 1992 bei Hepatitisfällen mit der Verbindung von westlichen und traditionellen chinesischen Methoden. "Bis heute ist noch kein effektives Medikament gegen Hepatitis und die damit verbundenen Komplikationen entdeckt worden, obgleich chronische Leberleiden auf Taiwan zu den Haupttodesursachen gehören", sagt Ren Pei-lung(任佩鸞), Gastroenterologin in der Abteilung für Innere Medizin des Krankenhauses. Aus diesem Grund, so Ren, nähmen viele Hepatitis-Patienten ohne ärztliche Überwachung gleichzeitig chinesische und moderne Arzneien.
Die erste Untersuchung im Rahmen des im Ho-Ping-Krankenhaus angewendeten Heilverfahrens nimmt Ren mit Hilfe moderner Techniken vor. Danach verschreibt Cheng Chen-hung(鄭振鴻), Spezialist für chinesische Medizin und Direktor der Abteilung für Innere Chinesische Medizin des Ho-Ping-Krankenhauses, eine traditionelle Behandlung. Für die Beobachtung der Fortschritte des Patienten werden moderne Methoden benutzt. Leberkranke, bei denen die Einnahme der Kräuterarzneien nicht zu einer Besserung führt, werden sofort auf moderne Medikamente umgestellt. Die Ärzte sind überzeugt, auf diese Weise das Beste aus beiden Formen der Heilkunde anzubieten. Monatlich werden rund 600 Hepatitis-Patienten in dieser Abteilung behandelt. Darüber hinaus offeriert das Ho-Ping-Krankenhaus Therapien mit dritter Medizin bei Unfruchtbarkeit, Rhinitis, Asthma und Störungen der Schilddrüsenfunktion.
Sogar die renommierteste medizinische Einrichtung auf der Insel, die Nationale Taiwan-Universitätsklinik, zeigt Interesse an der dritten Medizin. Der Pädiater Hsieh Kue-hsiung brachte 1991 eine Gruppe aus modernen Medizinern, Ärzten für traditionelle chinesische Medizin und Gelehrten zusammen, um ein großangelegtes, interdisziplinäres Projekt zur Bekämpfung von Asthma zu lancieren. Bisher haben sich acht Krankenhäuser in Taipei, Taichung, Tainan und Kaohsiung daran beteiligt. Zu Beginn der Asthmabehandlung wird die Diagnose sowohl nach den Gesichtspunkten der modernen Medizin als auch nach denen der traditionellen chinesischen Heilkunde erstellt. Die Ärzte für chinesische Medizin verschreiben dann die Therapie. "In drei Jahren Forschungsarbeit wurden fünf verschiedene traditionelle Medikamente ausgewertet", berichtet Hsieh. "Wir haben herausgefunden, daß sie Asthma wirklich wirksam bekämpfen." Als nächstes planen die Forscher, die einzelnen Zutaten der wirksamsten Kräuterarzneien zu isolieren, um ein neues Medikament gegen Asthma zu entwickeln.
Inselweit gibt es mittlerweile in 18 Krankenhäusern Abteilungen für dritte Medizin. Darüber hinaus wird im Allgemeinen Veteranenkrankenhaus Taipei sowie im Städtischen Chunghsiao-Krankenhauses Taipei Akupunktur angewendet. Seit 1977 bietet das Allgemeine Veteranenkrankenhaus Akupunkturkurse für Ärzte an. Von dieser Möglichkeit machen jährlich rund 50 Mediziner Gebrauch. Chung Yung-tai(鍾雍泰), Anästhesist im Provinzkrankenhaus Taipei, hat einen solchen Kurs absolviert und behandelt jetzt an chronischen und akuten Schmerzen leidende Patienten mit Akupunktur. "Besonders hilfreich ist sie bei Verstauchungen", sagt er. "Akupunktur kann die Muskeln des Patienten entspannen und die Schmerzen lindern." Er berichtet, daß sich fast die Hälfte der Schmerzpatienten für Akupunktur als Teil ihrer Therapie entscheiden.
Nicht alle modernen Ärzte sind begeistert vom Aufstieg der dritten Medizin. Viele halten die traditionelle chinesische Heilkunde für primitiv und unpräzise, obgleich auch hier mittlerweile moderne Gerätschaften wie der Sphygmograph integriert worden sind. "Die chinesische Medizin ist wie Pfeil und Bogen, die moderne Medizin ist jedoch wie eine Rakete", findet Shen Fu-hsiung(沈富雄), Parlamentsabgeordneter und Nephrologe am Adventistenkrankenhaus Taiwan in Taipei. "Zwischen beiden Systemen der Heilkunde gibt es große Unterschiede in bezug auf Logik und Diagnose." Andrew Huang(黃達夫), Onkologe am Sun Yat-sen-Krankenhaus in Taipei, ist der Meinung, daß eine Kombination aus beiden Formen den Patienten schaden könnte. "Ich komme niemals auf den Gedanken, moderne und chinesische Medizin miteinander zu verbinden, denn die chinesische Heilkunde ist altmodisch und unwissenschaftlich", erklärt er. "Einige meiner Krebspatienten, die heimlich traditionelle chinesische Arzneien einnehmen, leiden an Nebenwirkungen, und ihr Befinden verschlechtert sich. Ich glaube nicht, daß die chinesische Medizin Krankheiten heilen kann, da es nicht möglich ist, ihre Wirksamkeit zu beurteilen. Viele Leute gehen zu Ärzten für chinesische Medizin; das heißt jedoch nicht, daß sie erfolgreicher arbeiten."
Selbst wenn Mediziner aus beiden Sparten sich zur Zusammenarbeit bereit erklären sollten, kann es aufgrund der Grundverschiedenheit beider Systeme zu Problemen kommen. Eine Schwierigkeit besteht darin, daß sich die Ärzte für chinesische Medizin bei der Erstellung ihrer Diagnosen auf subjektive Beobachtungen und nicht auf rein wissenschaftliche Analysen verlassen. Führende Vertreter der modernen Richtung beklagen aus diesem Grund einen Mangel an Präzision und Methodik sowie einen allgemeinen Mangel an Forschungsdaten über traditionelle Heilverfahren. Ein weitere Diskrepanz herrscht zwischen den in beiden Lagern benutzten medizinischen Terminologien, die sich erheblich voneinander unterscheiden.
Der Kinderarzt Hsieh Kue-hsiung meint jedoch, daß dieses Problem durch verbesserte Kommunikation bewältigt werden könne. "Nur weil moderne Mediziner die traditionelle Medizin nicht verstehen, sollten sie sie nicht als falsch abtun", mahnt er. Eine solche Sichtweise findet das Echo der traditionellen Ärzte. "Die chinesische Medizin ist ein fünftausend Jahre alter Schatz, der für den modernen Menschen schwer zu erfassen ist", bemerkt Chang Tzen-kwan(張正廣), außerordentlicher Professor für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Chinas. "Das gibt jedoch niemandem das Recht, ihren Wert aus diesem Grund zu ignorieren." Chang leitet die Abteilung zur Behandlung von Epilepsie mit dritter Medizin in der Klinik der Medizinischen Hochschule Chinas.
Eine weitere Beanstandung vieler Vertreter der modernen Richtung lautet, daß die Ärzte für chinesische Medizin weder eine zufriedenstellende theoretische Ausbildung noch genügend praktischen Unterricht erhalten würden. Kandidaten für eine Zulassung in chinesischer Medizin müssen eine gesetzlich vorgeschriebene schriftliche Prüfung bestehen, gefolgt von einer achtmonatigen theoretischen Ausbildung in den elementaren medizinischen Wissenschaften sowie einem zehnmonatigen Praktikum in einer Klinik. Dies ist nur ein Bruchteil des siebenjährigen Universitätsstudiums mit anschließender Prüfung, das ein moderner Mediziner für seine Approbation vorweisen muß.
Es bietet sich jedoch ein Weg, über den Medizinstudenten einen akademischen Grad in chinesischer Heilkunde erwerben können. Unter Taiwans zehn medizinischen Hochschulen verfügt nur die Medizinische Hochschule Chinas über eine Abteilung für traditionelle Heilkunde. 1966 wurde hier ein Studiengang eingerichtet, dessen Studenten sowohl in traditioneller als auch in moderner Medizin ausgebildet werden. Für dieses Studium sind insgesamt 359 Punkte (für die Kurse gibt es gestaffelt nach Wichtigkeit unterschiedlich hohe Punktzahlen) zu erbringen - 97 mehr, als normalerweise für einen Abschluß in Medizin nötig sind. (Die Hochschule bietet für bereits praktizierende Ärzte, die an einer Zulassung für traditionelle Medizin interessiert sind, einen 45-Punkte-Kurs an.) Die Absolventen dieses Studiums legen dann an entweder in moderner oder in traditioneller Medizin oder auch in beiden Fächern ihre Prüfung ab. Das Gesetz schreibt jedoch vor, daß sie ihren Beruf nur einer von beiden Medizinsparten ausüben dürfen.
Nur sehr wenige Absolventen der Medizinischen Hochschule Chinas entscheiden sich für die traditionelle Medizin. "Die Situation sieht für traditionelle chinesische Ärzte nicht günstig aus", erklärt Chang Hen-hong von der Medizinischen Hochschule. Wie er weiter ausführt, sei die gesellschaftliche Stellung der traditionellen Ärzte niedriger als die der modernen Mediziner. Hinzu kommt, daß die gesetzliche Krankenversicherung für traditionelle Behandlungen niedrigere Vergütungen vorsieht als für moderne Therapien. Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß nur wenige Krankenhäuser Praktikumsplätze für Studenten der traditionellen chinesischen Medizin zur Verfügung stellen. Nach Meinung Chang's ist dieser Teil der Ausbildung wesentlich wichtiger als theoretische Studien. Aus diesen Gründen entscheiden sich viele Absolventen, die beide Zulassungsprüfungen absolviert und ursprünglich die traditionelle Medizin gewählt hatten, ihre Praxis auf moderne Medizin umzustellen. Laut dem Gesundheitsamt im Exekutiv-Yüan praktizieren auf Taiwan über 24 500 moderne Mediziner. Damit übertrifft ihre Zahl die der Ärzte für traditionelle chinesische Heilkunde um das Neunfache.
Um mehr Studenten zu gewinnen, bietet die Medizinische Hochschule Chinas seit 1984 ausgebildeten Krankenpflegern oder Pharmazeuten die Möglichkeit, nach ihrem Bakkalaureat einen akademischen Grad in chinesischer Medizin zu erwerben. Das über fünf Jahre angelegte Programm umfaßt 182 Studienpunkte, und die Absolventen sind darauf beschränkt, nach ihrer Prüfung ausschließlich traditionelle chinesische Medizin zu praktizieren. 1991 richtete auch die Nationale Yang-Ming-Universität einen Studiengang in traditioneller Medizin ein. Im Juni dieses Jahres schlossen an beiden Universitäten insgesamt 60 Studenten diese Ausbildung ab.
Viele Medizinprofessoren sind überzeugt, daß ein großes Interesse an solchen Studienprogrammen bestehe, die Möglichkeiten jedoch zu begrenzt seien. In den meisten medizinischen Hochschulen werden nur ein oder zwei Kurse in chinesischer Medizin angeboten. Die Nationale Taiwan-Universität hat zum Beispiel für dieses Fach nur einen drei-stündigen Kurs im Programm. "Wenn die Bildungsbeauftragten schon keine weiteren Abteilungen für chinesische Medizin einrichten, dann sollten sie wenigstens die Zahl der Kurse in diesem Fach erhöhen", sagt Professor Hsieh Kue-hsiung.
Eine weitere Quelle der Frustration für traditionelle chinesische Ärzte sind gesetzliche Hürden, die eine vollständige Verknüpfung der beiden Heilkundesysteme nicht zulassen. Nach dem Gesetz der Republik China müssen selbst Mediziner, die über eine Approbation für beides verfügen, sich entscheiden, welche Form sie praktizieren wollen - eine Kombination ist nicht möglich. In diesem Jahr drängte die 400 Mitglieder starke, 1993 gegründete Gesellschaft für die Integration Chinesischer und Westlicher Medizin das Gesundheitsamt darauf, Ärzten mit Zulassungen für beide Richtungen die Eröffnung einer Praxis für dritte Medizin zu gestatten. Das Ersuchen wurde jedoch abgelehnt, da das Gesetz die Anwendung der "traditionellen und der modernen Medizin" als eine heilkundliche Kategorie verbietet. Selbst in der Klinik für Ost-West-Medizin seien für die Abteilungen für moderne und traditionelle Medizin separate Eingänge und Empfangsschalter vorgeschrieben, berichtet Dr. Julia Tsuei.
"Das ist unlogisch", sagt Professor Chang Tzen-kwan. "Es scheint, als würde die Regierung die Verbindung von moderner und traditioneller Medizin nicht befürworten."
Die Regierung wird sich jedoch unter einem verstärkten Druck zur Lockerung der Gesundheitsfürsorgebestimmungen wiederfinden, da immer mehr Ärzte und Patienten die Vorteile einer Kombination aus beiden Formen der Medizin erkennen. Dazu sagt Cheng Chen-hung vom Städtischen Ho-Ping-Krankenhaus Taipei: "Die Verbindung der modernen mit der traditionellen Medizin ist als Behandlungsmethode durchaus realistisch. Obwohl die Heilverfahren unterschiedlich sind, ist das Ziel bei der Methoden gleich."
(Deutsch von Christiane Gesell)