05.08.2025

Taiwan Today

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Jetzt kommt die Nachbarschaft

01.07.1995
Selbst in der Anonymität der Metropole Taipei bringen Vereine die Bewohner ihres Viertels zusam­men. Hier trifft sich der Malereikurs der Vereinigung zur Entwicklung des Stadtteils Minsheng.
Was ist eine Gemeinschaft? Auf Taiwan ist das eine schwer zu beantwortende Frage. Gelehrte, Regierungsbeamte und sozial Engagierte haben viele verschiedene Lösungen zu bieten. Der Hauptgrund liegt darin, daß sich die Loyalität der Chinesen traditionell auf die Familie beschränkt und nicht auf die Nachbarschaft ausdehnt. Obwohl es auf Taiwan bereits seit Jahrzehnten nachbarschaftliche Vereinigungen gibt, wurden diese bis in die späten achtziger Jahre hinein überwacht und oft auch von der Regierung finanziert. Die Bürger erkennen jetzt, daß sie die Verbesserung ihrer Wohngegend, die Steigerung ihrer Lebensqualität und die Förderung eines Gemeinschaftsgefühls selbst in die Hand nehmen können. Das Ergebnis ist ein Aufblühen nichtstaatlicher Organisationen auf der ganzen Insel.

"Fege nur den Schnee vor deiner eigenen Haustür; kümmere dich nicht um den Schnee auf dem Dach deines Nachbarn", heißt es in einem alten chinesischen Sprichwort. Diese Worte spiegeln die traditionelle Einstellung wider, daß ein Chinese hauptsächlich seiner Verwandtschaft gegenüber verantwortlich ist. Alle Anstrengungen haben der Familie zugute zu kommen und sollen nicht für Angelegenheiten außerhalb verschwendet werden. Diese Denkweise basiert auf der traditionellen Familienhierarchie, innerhalb welcher jedem Mitglied gemäß seiner Beziehung zum Rest der Familie bestimmte Verpflichtungen auferlegt werden. Die Folge ist eine seit langem bestehende "Hände-weg"-Haltung, wenn es um Probleme der Gemeinschaft geht.

Auf Taiwan sitzt die Abgeneigtheit gegen ein Engagement für Nachbarschaftsangelegenheiten und in sozialen Organisationen noch aus einem anderen Grund besonders tief. Die erwachsene Bevölkerung wuchs während der Jahre des Ausnahmezustands zwischen 1948 und 1987 auf. Während dieser Zeit waren nichtstaatliche Gruppen zwar nicht verboten, wurden aber durch das regierungseigene, ausgedehnte System von Bürgerorganisationen wie Nachbarschaftsräten, Bauernvereinigungen, Handelsorganisationen und Frauengruppen weitgehend überschattet und in einigen Fällen regelrecht zerquetscht. Sollte sich eine Gruppe wirklich formiert haben, wurde sie im allgemeinen so scharf überwacht und streng kontrolliert, daß sie nicht lange überlebte.

Heute ist die Situation eine andere. Selbst vor Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 wurden Verbrauchergruppen, Frauenrechtsorganisationen und sogar politische Oppositionsparteien immer stärker, trotzdem sie gegen die alten, ungeschriebenen Beschränkungen über den Zweck solcher Gruppen verstießen. Diese Gruppen waren jedoch selten. Obwohl sich immer mehr Vereinigungen bilden, liegt das Problem heute darin, daß die breite Öffentlichkeit immer noch an der althergebrachten "Hände-weg"-Haltung festhält. Die Angehörigen der älteren Generation halten lieber den Mund und senken den Kopf, wenn es um Probleme in ihrem Lebensumfeld geht, und die jüngeren Mitbürger mögen ihre Beschwerden zwar artikulieren, unternehmen aber letztendlich nicht viel.

Derartige Einstellungen seien durchaus angemessen, sagt Lin Jenn-chuen(林振春), außerordentlicher Pädagogik-Professor an der Nationalen Pädagogischen Hochschule Taiwans. Seit Generationen seien selbst kleinangelegte Gemeindeverschönerungsprojekte wie Aufräumaktionen im Park eines Viertels und die Organisation von Feierlichkeiten an hohen Festtagen durch die Regierung überwacht worden, erklärt er, wodurch den Bewohnern kaum eine Möglichkeit gelassen worden sei, sich zu engagieren oder überhaupt Interesse zu zeigen.

Eine der Folgen dieser langjährigen Regierungskontrolle über die Gemeinschaft betreffende Angelegenheiten ist eine in der Bevölkerung weitverbreitete Gleichgültigkeit. "Laß das die Regierung machen - das geht mich nichts an", so lautet die herkömmliche Haltung im Umgang mit Problemen in der Nachbarschaft oder Gesellschaft. Eine solche Denkweise wird durch die vollkommen unterschiedliche Art und Weise deutlich, wie die Chinesen öffentliche und private Plätze behandeln.

"Während die Außenfassade eines Gebäudes für die Bürger westlicher Gesellschaften immens wichtig ist, legen wir das Hauptaugenmerk auf die Innendekoration", sagt Chen Ming-cheu(陳明竺), Vorsitzender der Forschungsstiftung über Öffentliche Plätze (Foundation for Research on Open Spaces), einer privaten Organisation, die 1988 zur Verbesserung des Lebensumfelds in Taipei gegründet wurde. "Die Chinesen geben Millionen für die Inneneinrichtung aus, kümmern sich aber kaum um den Platz vor ihrer Haustür", sagt Chen.

Das Ergebnis dieser Gleichgültigkeit gegenüber Mißständen in der eigenen Wohngegend bzw. der Erwartung, daß sich die Regierung solcher Fragen anzunehmen habe, wird an dem Müll auf den Straßen, dem Gerümpel in den Eingangsfluren von Apartmenthäusern, den vielen Werbeschildern an den Gebäuden sowie dem Durcheinander aus illegalen Verkaufsständen, die Gassen und Bürgersteige blockieren, sichtbar gemacht. Chen glaubt, daß zwischen dieser Respektlosigkeit gegenüber öffentlichen Plätzen und größeren Problemen wie der illegalen Nutzung von Wohngebäuden für Karaoke-Bars, Videospielhallen und Bordelle ein Zusammenhang bestehe. Er beschreibt diesen Zustand als "eine durch Leberprobleme verursachte Hautkrankheit", also als äußere Symptome einer inneren Störung. Seiner Meinung nach ist das zugrundeliegende Problem die Tatsache, daß die Gemeinschaftsmitglieder nicht genügend Entscheidungsgewalt haben oder zu haben glauben, um ihre Umgebung besser zu gestalten.

Die rapide Verstädterung Taiwans stellt zusätzliche Herausforderungen an die Entwicklung eines Gemeinschaftsbewußtseins. In ländlichen Ortschaften bleiben die Menschen weiterhin eng miteinander verbunden, da viele Familien seit Generationen Nachbarn sind und traditionelle soziale Beziehungen erhalten geblieben sind, beispielsweise die Rolle älterer Männer, die nach wie vor als Entscheidungsträger respektiert werden. Da jedoch viele junge Leute zur Arbeit in die Städte abgewandert sind, zerfällt diese Gesellschaftsstruktur in einigen Gemeinden.

In den Großstädten gibt es weniger langfristige Beziehungen zwischen Familien und weniger traditionelle Gemeindevorsteher. Ein großer Prozentsatz der Einwohner Taipeis ist beispielsweise von außerhalb zugezogen, und diese fühlen sich nicht besonders stark mit der Stadt verbunden. Weil viele Städter häufig umziehen, ist es für Hausbewohner schwierig, sich darüber auf dem laufenden zu halten, wer auf den Stockwerken über und unter ihnen wohnt, von der Entstehung eines Nachbarschaftsgeistes ganz zu schweigen.

Und doch schlägt das Konzept eines gemeinschaftlichen Handelns Wurzeln, trotz der traditionellen Teilnahmslosigkeit und des Mißtrauens unter den Chinesen und der Einschränkungen des modernen Stadtlebens. Die Bürger beginnen, von ihrer Organisations- und Demonstrationsfreiheit sowie der Möglichkeit, Probleme in ihrer Wohngegend selbst in die Hand zu nehmen, Gebrauch zu machen. Die Hsinkang-Stiftung für Kultur und Bildung (Hsinkang Foundation of Culture and Education) im Landkreis Chiayi in Südtaiwan ist dafür ein gutes Beispiel. Lotteriefieber hieß der Auslöser, der den Kinderarzt Chen Chin-huang(陳錦煌), einen Bürger Hsinkangs, zur Gründung der Organisation motivierte.

1986 überrollte eine illegale Lotterie namens ta-chia-le (大家樂, zu deutsch "Alle sind glücklich") die gesamte Insel. Wie Chen es ausdrückt, war es für viele Familien "so notwendig wie Brot", Geld für die Lotterie auszugeben. An den zwei Ziehungstagen pro Woche kam das öffentliche Leben völlig zum Stillstand. Chen berichtet: "Die Straßen waren jeden Dienstag und Donnerstag wie leergefegt und die Telefonleitungen wegen Überlastung blockiert." Die Menschen wendeten viel Zeit und Geld auf, um sich die Gunst der Götter zu sichern, die sie mit Gewinnzahlen beliefern sollten. "In der Dämmerung zündeten die Leute Feuerwerkskörper und statteten Festwagen mit elektronischen Orgeln und Striptease-Shows aus, um denjenigen Göttern ihre Ehrerbietung zu zeigen, von denen sie glaubten, daß sie auf die richtigen Zahlen gedeutet hätten", erzählt Chen.

Chen entschloß sich, das "Lotteriesyndrom" mit einem alternativen Unterhaltungsangebot zu bekämpfen. Für sein erstes Projekt bat er den bekanntesten Choreographen Taiwans, den in Hsinkang geborenen Lin Hwai-min von dem modernen Tanzensemble Cloud Gate Dance Theatre, in seiner Heimatstadt aufzutreten. Lin sagte zu; für Cloud Gate war es seit mehr als zehn Jahren der erste Auftritt in Chiayi. Chen überredete auch ein weiteres Talent aus Hsinkang, den Popsänger Tsai Chen-nan, in der Show mitzuwirken.

In Zusammenarbeit mit der örtlichen Verwaltung sicherte er sich Hsinkangs Mittelschule als Veranstaltungsort und rührte mit Postern, Ankündigungen in den Medien sowie Aushängen in Schulen, Tempeln und Bürgerorganisationen die Werbetrommel für die Show. Laut Chen herrschte am Veranstaltungsabend im Juni 1987 Hochstimmung, "auch wenn nur wenige Zuschauer etwas von modernem Tanz verstanden." Insgesamt drängten sich in der 2400 Zuschauer fassenden Schulaula 2800 Menschen aus ganz Südtaiwan.

Die positive Resonanz auf die Veranstaltung veranlaßte Lin Hwai-min, den Gesamterlös der Show in Höhe von 5770 US$ für Chen's Initiative zu spenden. Der durch seinen Erfolg angespornte Chen rekrutierte einige Freiwillige, größtenteils Eltern seiner Patienten sowie Lehrer an örtlichen Schulen, und unternahm einige einfache, aber konkrete Schritte zur Bekämpfung des Lotteriewahns. Zunächst fegte die Gruppe nach der nachmittäglichen Feuerwerksknallerei die Straßen rund um die Tempel. Als nächstes organisierte sie Karaoke Gesangswettbewerbe als Ersatz für die Striptease-Shows. Obwohl diese Versuche das Interesse an der Lotterie selbst nicht schmälerten, schafften sie eine angenehmere Atmosphäre. In den Nachbarorten begann man ebenfalls damit, abends die Straßen zu fegen, und die Karaoke-Wettbewerbe wurden als eine vernünftige Alternative zu den Striptease-Shows angenommen, welche auch auf anderen Feierlichkeiten wie Hochzeiten, Beerdigungen und Geburtstagen populär geworden waren.

Später, im November 1987, gründete Chen die Hsinkang-Stiftung für Kultur und Bildung. Seither hat die Gruppe, die jetzt mit einem Personalstamm von sechs Vollzeitkräften arbeitet, eine Reihe von Projekten in Angriff genommen. Darunter waren die Organisation von Freiwilligen zur Instandhaltung eines örtlichen Parks, das Arrangieren von Betreuung und Hausaufgabenhilfe nach Schulschluß für Grundschüler sowie der Versuch, ältere Kinder durch ein Alternativangebot von z.B. Leseklubs und Ausflügen davon abzubringen, sich nach der Schule mit Videospielen zu beschäftigen.

Die Stiftung sponsert darüber hinaus kostenlose Informationsveranstaltungen wie eine Serie von Seminaren über den korrekten Einsatz von Pestiziden und andere Themen, welche für die umliegenden ländlichen Gemeinden von Interesse sind. Heute sagen die Bewohner Hsinkangs, das Image der Stiftung habe sich vom "Hobby eines reichen Mannes" für Chen Chin-huang zu dem einer wichtigen, für jedermann zugänglichen sozialen Institution gewandelt.

In Hsingkang im Süden Taiwans hat sich die Hsinkang-Stiftung für Kultur und Bildung zu einer starken Gemeindeorganisation herausgemacht. Ihre Mitglieder halten u.a. die Parks und die Straßen rund um die Tempel sauber.

In einer vollkommen anderen Umgebung, nämlich einer neuen Wohnsiedlung der gehobenen Klasse in der Nähe Taipeis, hat sich eine andere Bürgerinitiative formiert, um sich den Problemen in ihrer Gemeinde zu widmen. Im letzten Jahr taten sich die Bewohner des "Neuen Dorfs Ssuliang" (思亮新村, Ssuliang hsin c'un) zusammen, um sich verschiedener Anliegen anzunehmen, die alle Bewohner angingen: eine gefährliche, illegale Nachhilfeschule, die in Wohnungen betrieben wurde; eine nahe Rattenzuchtstation, die vom Nationalen Wissenschaftsrat für Forschungszwecke eingerichtet worden war und eine große Zahl streunender Hunde, welche von einem Anwohner gefüttert wurden.

Direkte Gespräche der Initiative mit dem Betreiber der Nachhilfeschule, dem Wissenschaftsrat und dem Hundehalter brachten schnelle Resultate. Die behelfsmäßige Nachhilfeschule wurde geschlossen, die Rattenzuchtstation umgesiedelt und die meisten Streuner an andere Besitzer abgegeben. "Wir organisierten uns, weil der ehemalige Vorsteher [des Dorfs Ssuliang] es vorzog, den Beamten zu spielen, anstatt etwas für die Verbesserung unserer Lebensumgebung zu tun", sagt der jetzige Vorsteher Chiu Hei-yuan(瞿海源), ein Bewohner Ssuliangs und Soziologe an der Academia Sinica. Die Gemeindemitglieder wollen alle zwei Jahre einen ihrer Nachbarn zum neuen Vorsitzenden wählen.

Andere nachbarschaftliche Vereinigungen waren ursprünglich ausschließlich Sozial- oder Freizeitklubs und verzweigten sich dann, um Projekte zum Wohle der Gemeinschaft durchzuführen. Die Hausfrau Chiu Wan-fang(邱萬芳)rief 1985 eine Literaturgruppe für Mütter in Yungho im Landkreis Taipei ins Leben, um auf diese Weise Freundinnen kennenzulernen und Informationen auszutauschen. Zu Anfang stellten sich Ehemänner und Schwiegereltern gegen den Klub, da sie fürchteten, er könnte sich zu einer Frauenrechtsgruppe entwikckeln. Doch in den Familien sah man schließlich, daß die Gruppe den Frauen zu mehr Effektivität und Fähigkeiten bei der Versorgung ihrer Kinder und der älteren Familienmitglieder verhalf.

Schon bald nach Gründung der Gruppe erkannten die Teilnehmerinnen, daß sie ihre Lebensqualität verbessern konnten, wenn sie sich zusammentaten und Informationen austauschten. "Wir helfen zum Beispiel bei der Versorgung von älteren Mitbürgern und Kindern aus Familien, in denen beide Eltern arbeiten", sagt Chiu. Die Mitglieder kaufen gemeinsam en gros ein, um Ausgaben zu sparen. Heute gehören der Organisation dreißig Frauen an, die sich einmal wöchentlich treffen, und in den umliegenden Gemeinden haben sich viele neue Ableger der Hausfrauengruppe gebildet. Über die Gruppe haben einige Frauen ein Unternehmen zum Verkauf selbst zubereiteter, gesunder Mahlzeiten an die Bewohner der Gegend gegründet. Die Frauen nutzten ihre eigenen Mitgliedsbeiträge für die Anmietung von Büroräumen und die Einteilung einer Bürokraft, welche die Großbestellungen für Lebensmittel aufgibt und die Aufträge für die Mahlzeiten entgegennimmt.

Der Gründer der Vereinigung zur Entwicklung des Stadtteils Minsheng (Minsheng Community Development Association) im östlichen Taipei, O Chin-hsiung(歐慶雄), hat seinen Verein aus einem anderen Grund ins Leben gerufen, nämlich zur Förderung der chinesischen Kultur und sozialer Traditionen. Die seit zwei Jahren bestehende Gruppe sponsert Kurse in chinesischer Malerei, Musik und Kampfsportarten; alle zu weitaus niedrigeren Preisen, als sie anderenorts verlangt werden. Das Interesse seitens der Bürger war so stark, daß die Organisation durch Spenden örtlicher Geschäfte und Anwohner in der Lage war, eigene Klassenräume zu mieten.

Trotz des Erfolgs dieser Gruppen sind die meisten Gemeindeorganisationen mit schwer überwindbaren Hindernissen konfrontiert. Das größte ist öffentliche Gleichgültigkeit. Der Pädagogikprofessor Lin Jenn-chuen sagt, daß das Problem in der Wurzellosigkeit der modernen Gesellschaft begründet liege. "In der Vergangenheit ließen sich die vormals nomadisch lebenden Menschen nieder und wurden Bauern", sagt Lin. "Im Zuge der Indutrialisierung der Gesellschaft und der Abwanderung der Menschen in die Städte kehrten sie jedoch zu einem Nomadendasein zurück. Ihre Ziele drehen sich darum, noch mehr Geld zu verdienen, um immer bessere Wohnungen zu kaufen." Lin rät, daß die Gesellschaft aus der Vergangenheit lernen sollte. "Wir müssen den Städtern beibringen, einen ländlichen Lebensstil anzunehmen", findet er. "Das heißt, sie sollten ihre Gemeinde wie einen Ort behandeln, an dem sie ihr ganzes Leben verbringen werden, wie kurz die Zeit auch sein mag, die sie wirklich dort wohnen."

Der Soziologieprofessor Chiu Hei-yuan identifiziert das Problem ebenfalls als einen allgemeinen Mangel an Verbundenheit mit der Umgebung, in der man lebt. Viele Bürger sehen ihre Wohnung eher als "einen Platz zum Schlafen an als ein Heim, das zu pflegen ist." Chiu bezeichnet diese Haltung als unverantwortlich. Er wirft den Bürgern Taiwans vor, daß sie zwar jetzt ein libe­rales soziales und politisches Klima genössen, sich jedoch auf ihre neu gewonnenen Rechte konzentrierten, ohne die damit verbundenen zusätzlichen Verpflichtungen auf sich zu nehmen. "Wenn wir von Demokratie reden, so bedeutet der Terminus nicht nur den Kampf um Rechte, sondern auch die Pflicht der Mitwirkung", betont Chiu. "Dies ist eine Bewegung zur Verfeinerung der Gesellschaft."

Die meisten Gruppen müssen beträchtliche Energien für den Aufbau eines Mitgliederstammes aufwenden. Um ihre Ränge zu füllen, bildet die Hsinkang-Stiftung über die örtlichen Schulen jugendliche Freiwillige aus. Die Vereinigung zur Entwicklung des Stadtteils Minsheng richtet derzeit eine Datenbank über potentielle Volontäre aus ihrem Einzugsgebiet ein, in der sie Informationen über deren Beruf, akademisches Fach, Hobbys und besondere Fähigkeiten zusammenträgt. Der Mangel an Unterstützung von Bürgerseite frustriert den Gründer O Chin-hsiung besonders. "Beschäftigtsein mag ein triftiger Grund sein, nicht mitzumachen, wird aber von vielen Menschen, die sich nicht für gesellschaftliche Angelegenheiten engagieren mögen, als Ausrede benutzt", klagt er. O ist ebenfalls durch Bürger entmutigt, die zwar in der Lage wären, finanzielle Hilfe zu leisten, es aber nicht tun; er nennt es "einen Witz", daß Leute oft vorgeben, nicht genug Geld für die Unterstützung gemeinschaftlicher Aktivitäten zu haben. "Wenn wir ein armes Land wären, würden wir dann über die weltweit zweithöchsten Devisenreserven verfügen?" fragt er.

Mangelnde Finanzen sind eine für Vereine übliche Hürde. Chiu Wan-fang erklärt, daß die Mittel für ihre Hausfrauengruppe größtenteils durch Mitgliedsbeiträge zusammenkämen. Dadurch sei der Spielraum für ihre Projekte zwar begrenzt, doch sie halte die Arbeit der Gruppe lieber in einem kleinen Rahmen, als bei Firmen um Spenden zu bitten. "Wir verlieren unsere Unabhängigkeit, wenn uns Geschäftsleute finanzieren", sagt sie. Für andere Organisationen haben sich örtliche Unternehmen als hervorragende Finanzquelle erwiesen. Michael Hsiao(蕭新煌), Soziologe an der Academia Sinica und Professor an der Nationalen Taiwan-Universität, hat gegen die Teilnahme privater Unternehmen an Gemeindeprojekten nichts einzuwenden. "Die Firmen mögen es zu Werbezwecken tun; wichtig aber ist, ob das Projekt der Gemeinschaft nützt", betont er.

Die vielleicht größte Debatte unter Gemeindeaktivisten wird über die Frage geführt, wie man sich mit der Regierung arrangieren sollte, ohne in ein System der Regierungskontrolle zurückzufallen. In einigen Fällen konkurrieren private Vereine immer noch direkt mit dem Gemeindeverwaltungssystem, welches seit der Übersiedlung der nationalchinesischen Regierung nach Taiwan im Jahr 1949 Bestand hat. Jede größere Siedlungseinheit li(里), die je nach Bevölkerungsdichte der Gegend zwischen 700 und 2500 Haushalte umfaßt, wählt einen Vorsteher; eine Teilzeitposition, die innerhalb der Gemeindeverwaltung der schlechtbezahlteste Posten ist. Auch in jeder Siedlung der kleinen Kategorie mit der Bezeichnung lin(鄰), welche aus rund einhundert Haushalten besteht, gibt es einen Vorsitzenden, der entweder ein Freiwilliger ist oder vom Li-Vorsteher eingesetzt wird. Im Idealfall dienen diese Vorsteher als Kanal für die Bürger, durch den ihre Sorgen und Beschwerden die richtigen Stellen im Verwaltungsapparat erreichen. Doch dieses System ist dafür kritisiert worden, daß es in erster Linie der Regierung als ein Werkzeug zur Verbreitung von Informationen nach unten diene.

Auf die Unzufriedenheit der Bürger mit dem li- und lin-System reagierte die Regierung 1967 mit der Einrichtung eines Netzes von Gemeindekomitees, welches die Kommunikation zwischen Bürgern und Regierung verbessern sollte. Allen Bürgern eines bestimmten Gebiets stand die Mitgliedschaft in dem Komitee frei, und jede Gruppe erhielt Regierungsgelder. Doch die Komitees galten weithin als Erweiterungen des Regierungssystems, und die Bürger blieben ihnen fern. Die Wahl der Vorstände und Entscheidungen über die Nutzung der Finanzmittel deckten sich oft nicht mit den Wünschen der Gemeindemitglieder, und viele Komitees wurden des Mißbrauchs von Regierungsgeldern bezichtigt.

1991 wurde das System erneut revidiert, als der Innenminister die Gemeindekomitees abschaffte und stattdessen beschloß, 4000 Gemeinden auf der ganzen Insel, von denen die meisten aus einem einzigen li bestanden, die Anmeldung einer privaten Gemeindeorganisation zu erlauben. Diese eingetragenen Vereine konnten zwar bei der Ortsverwaltung für spezielle Projekte finanzielle Unterstützung beantragen, die Ausgaben sowie das Wahl- und Entscheidungssystem einer Gruppe sollten dafür jedoch sorgfältiger überwacht werden. 1994 verstärkte die Regierung infolge einer Direktive Präsident Lee Teng-hui's zum Aufbau eines Gemeinschaftsbewußtseins ihre Bemühungen um die Stärkung und Förderung dieser Gemeindeorganisationen.

Doch obwohl sich mehr als 3000 Vereine bei den örtlichen Verwaltungen registrieren ließen, ist das neue System von vielen Gruppen heftigst kritisiert worden, da es sich bei den meisten Vereinigungen lediglich um Wiedergeburten der Gemeindekomitees handelt, die einfach neue Namen erhielten. Daher kommen die Gelder der Gemeindeverwaltungen nicht den neuen, privaten Organisationen zu, welche die aktivsten sind und die meiste Unterstützung der Bevölkerung erhalten. (Obwohl die Regierungsgelder nur eingetragenen Vereinen zur Verfügung stehen, können nicht registrierte Gruppen ebenfalls über zentrale Regierungsstellen Zuschüsse beantragen.) Einige nicht anerkannte Gruppen wie die Vereinigung des Dorfs Ssuliang sagen jedoch, daß sie lieber unabhängig blieben und auf Finanzspritzen der Regierung verzichteten, als mit den unbeliebten Gemeindekomitees in Verbindung gebracht zu werden.

Hinzu kommt, daß die Anforderungen für die Genehmigung einer Gruppe recht rigide sind. Eingetragene Organisationen müssen sich aus mindestens dreißig Gründungs- und dreißig weiteren Mitgliedern zusammensetzen, und die zu gründende Gruppe muß bei Regierungsbeamten vorsprechen, um ihren Aufbau und ihre Ziele darzulegen. Um die Lizenz für eine Stiftung zu erhalten, die einer Gruppe die Durchführung von Veranstaltungen außerhalb ihrer unmittelbaren Gemeinde erlaubt, müssen weitere Kriterien erfüllt werden. Stiftungen, die eine Stadt oder einen Landkreis bedienen, müssen Kapitalreserven in Höhe von 77 000 US$ nachweisen können; solche, die in der Provinz Taiwan, Taipei oder Kaohsiung aktiv sind, müssen über 192 000 US$ verfügen; und Stiftungen, welche die gesamte Insel abdecken, müssen sogar 385 000 US$ aufbringen. Dieses Geld soll im Verschuldungsfall als Sicherheit dienen, doch die Organisationen haben selbst bei Auflösung keinen Zugriff darauf. Wenn eine Gruppe auseinandergeht, fällt die Summe an die Regierung.

Die meisten Gemeindeaktivisten sind der Meinung, daß die Regierung eher eine zurückhaltende, unterstützende Rolle in den Nachbarschaftsorganisationen spielen und eine direkte Beteiligung vermeiden sollte. Chen Ming-cheu von der Forschungsstiftung über Öffentliche Plätze sagt, daß sich Beamte und politische Parteien heraushalten sollten, um eine größere Vielfalt zu ermöglichen. "Die Mitglieder der Gemeindegruppen sollten einen Querschnitt aus verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen darstellen", findet er. Die Regierungsbehörden sollten dagegen für finanzielle Unterstützung, Informationen und die Ausbildung solcher Fähigkeiten wie Veranstaltungsorganisation sorgen.

Beamte wie Huang Chun-chang(黃春長), Chef der Gemeindeentwicklungsabteilung im Amt für soziale Angelegenheiten der Stadt Taipei, schließen sich dieser Ansicht an. "Gemeindeentwicklung ist nicht Sache der Regierung", sagt er. "Dies sollte von den Bewohnern selbst in die Hand genommen werden, da sie mit den Bedürfnissen in ihrer Wohngegend vertraut sind und die Regierung um entsprechende Förderung bitten können." Die Gemeindeentwicklungsabteilung bietet in erster Linie Informationen durch öffentliche Seminare und Workshops. Frank Hsieh(謝長廷), Abgeordneter der Demokratischen Progressiven Partei (DPP), ist der Meinung, daß die Regierung sich darauf konzentrieren sollte, den Bürgern einen finanziellen Anreiz für die Entwicklung ihrer Wohngegenden zu geben und für die Gemeindevorsteher Fortbildungskurse in Bereichen wie der korrekten Antragstellung auf Zuschüsse zu bieten.

Eine Handvoll privater Gemeindeorganisationen profitiert bereits von dieser Art der vertraulichen finanziellen und personellen Unterstützung durch zentrale Regierungsbehörden. Die meisten solcher Vorhaben laufen über den Rat für kulturelle Planung und Entwicklung (Council for Cultural Planning and Development, CCPD) im Exekutiv-Yüan. 1994 startete der CCPD ein Projekt zur Verbesserung der Lebensqualität in den Kommunen auf der ganzen Insel. Der stellvertretende Vorsitzende des Rats, Chen Chi-nan(陳其南), begann zunächst, indem er das Community Action Team, eine Gruppe von acht Professoren und Magisterstudenten der Tamkang-Universität mit Sitz in Taipei, finanziell unterstützte. Die Aufgabe des Teams besteht darin, diejenigen Ortschaften der Insel zu erfassen, welche an einer Verbesserung ihrer Lokalkultur und dem Aufbau eines Bewußtseins für Gemeinschaftsstolz interessiert sind.

Jede dieser Ortschaften wird Zuschüsse vom CCPD erhalten, und Forscher der Tamkang-Universität werden dafür eingetellt werden, den Bewohnern bei der Entwicklung und Durchführung von Schlüsselprojekten zur Verbesserung der Gemeinde zu helfen. Eine der auserwählten Ortschaften war Hsinkang. In Zusammenarbeit mit den Einwohnern, der Kommunalverwaltung und der Hsinkang-Stiftung für Kultur und Bildung entwickelte der Tamkang-Forscher Chen Hsin-fu(陳信甫)verschiedene Zielsetzungen: die Verschönerung der Stadt, der Erhalt historischer Stätten, die Auswahl einer Straße für Touristengeschäfte und das Ankurbeln des Tourismus in den örtlichen Tempeln.

Das größte Problem, auf das die Gruppe in sechs Monaten Arbeit gestoßen ist, ist ein altbekanntes - die unter den Bewohnern vorherrschende Meinung, daß Gemeindearbeit sich nicht in ihrem Macht- bzw. Verantwortungsbereich befinde. "Wir müssen den Bürgern klarmachen, daß sie in der Lage sind, ihre Umgebung zu verbessern", sagt er. "Sie sind bisher immer der Meinung gewesen, daß der Zustand öffentlicher Plätze Regierungssache sei und daß sie sich dazu nicht äußern könnten."

Ein weiteres Projekt, welches der Rat gemeinsam mit Professoren und Studenten der Nationalen Taiwan-Universität unterstützt, ist die Renovierung der historischen Gebäude der Stadt Erhkan auf den Penghu-Inseln, im westlichen Sprachgebrauch besser als Pescadoren-Gruppe bekannt.

Bei Großvorhaben, die Bau- oder Renovierungsarbeiten beinhalten, ist eine Regierungsbeteiligung sinnvoll. Da sich die Bürger jedoch in der Vergangenheit kaum jemals an die Regierung um Unterstützung für Gemeindeprojekte gewendet haben, wissen viele von ihnen nicht, daß Zuschüsse und Hilfestellung zur Verfügung stehen. Und selbst diejenigen, denen dies bekannt ist, haben oft große Schwierigkeiten, sich durch die komplexe und verschachtelte Bürokratie zu kämpfen, um die zuständige Behörde und Kontaktperson ausfindig zu machen.

Um diesem Zustand abzuhelfen, stimmt der CCPD alle für Gemeindearbeit zuständigen Behörden aufeinander ab und reorganisiert deren Aufgaben, um Überschneidungen bzw. Konflikte der Verantwortungsbereiche zu reduzieren. Der Rat selbst möchte als Anlaufstelle für Informationen über öffentliche Zuschüsse und andere Hilfsquellen dienen.

Sollte sich das Unterfangen des CCPD als erfolgreich herausstellen, werden möglicherweise bald weitere Gruppen gegründet werden, und die bereits existierenden hätten leichteren Zugang zu Unterstützung. Doch auch ohne die Hilfe der Regierung steigt die Wertschätzung der Vereinsarbeit, und die Beteiligten können aus erster Hand über die Vorteile berichten. Wie Chiu Wan-fang von der Hausfrauenvereinigung aus Yungho sagt, hätten sogar die Mitglieder ihrer Familie aus der Freiwilligenarbeit ihres Vereins etwas gelernt. "Meine Kinder haben begonnen, alles aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und sind objektiver geworden", erzählt sie. "Sie beklagen sich weniger, und es fällt ihnen leichter, sich in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen. Wir sind alle toleranter geworden."

(Deutsch von Christiane Gesell)

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