12.05.2025

Taiwan Today

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Alternatives Lernen

01.01.1995
Über 610 000 Kinder besuchen die öffentlichen Grundschulen im Großraum Taipei. Weitere 88 erhalten ihren Unterricht in zwei Privatschulen, die ein von Grund auf anderes Lernverhalten anbieten; eines, das die Debatte um Änderungsvorschläge für Taiwans Schulsystem beeinflußt.

In Taiwan kostet es 30 US$ pro Schulhalbjahr, ein Kind in eine öffentliche Grundschule zu schicken. Würde irgendjemand in Erwägung ziehen, statt dessen 4600 US$ zu bezahlen? Ja, wenn diese Personen es für wichtig genug halten, ihren Kindern eine Lernumgebung zu geben, in der auf intellektuelle Unabhängigkeit, kritisches Denken und Kreativität Wert gelegt wird.

Bis vor vier Jahren mußten Eltern in der Metropole Taipei ihren Blick gegen Übersee richten, wenn sie ihre Kinder auf eine Grundschule, die gezielt zu selbständigem Denken, Diskussionsfähigkeit und Entdeckung des eigenen Ichs ermutigt, schicken wollten. Besonders in Großstädten fällt die Klassengröße in öffentlichen Schulen selten unter vierzig und übersteigt oft fünfzig Schüler, was die Interaktion zwischen Lehrern und Schülern auf ein Minimum reduziert.

Die Kinder zum Schulbesuch ins Ausland zu schicken, stellt die Eltern jedoch vor Entscheidungen mit schwerwiegenden Folgen, u.a. Entzug der Aufsicht und des elterlichen Schutzes und eventueller Verstoß gegen ausländisches Aufenthaltsrecht. Trotzdem lernten Anfang der 90er Jahre Tausende taiwanesischer Kinder im Ausland, überwiegend in den Vereinigten Staaten und in Kanada. Diese Schüler, auch oft "Fallschirmkinder" genannt, werden über dem Ausland "abgeworfen", um dort zur Schule zu gehen, während sie bei Verwandten oder Freunden wohnen. Je länger sie jedoch bleiben, desto schwieriger wird für diese Kinder die Rückkehr nach Hause, da sie keinen gültigen Paß besitzen und im allgemeinen nicht mehr fließend Chinesisch sprechen können, was ihnen einen erneuten Einstieg in das hiesige öffentliche Schulsystem erheblich erschwert.

Frische Luft, genug Platz zum Spielen und sogar Haustiere - diese vier Schülerinnen der Wald-Grundschule haben allen Grund zum Fröhlichsein, denn ihr Schulalltag bringt viel Abwechslung mit sich.

Anstatt ihre Kinder ins Ausland zu schicken, entscheiden sich einige Eltern dafür, ihre Sprößlinge in einer ausländischen Privatschule in Taipei oder Kaohsiung anzumelden, aber eine Entscheidung für diese Möglichkeit hat beinahe genauso weitreichende Folgen. Die Schulen sind teuer, und die meisten verlangen den Besitz eines ausländischen Passes. Außerdem bedeutet es, daß die Kinder in einer nicht-chinesischen Umgebung unterrichtet werden, wodurch sich ihre Chancen auf eine erfolgreiche Teilnahme an den landesweiten Aufnahmeprüfungen für die Ober- oder Hochschule vermindern.

Erst seit kurzem haben Eltern die Gelegenheit, sich hierzulande für eine alternative chinesischsprachige Unterrichtsform außerhalb des öffentlichen Schulwesens zu entscheiden. Vor fünf Jahren wurde die "Wald-Grundschule" im östlichen Vorort Hsichih zur ersten Schule im Großraum Taipei, die mit flexibleren Lehrmethoden, die in vielen nordamerikanischen und europäischen Klassenzimmern bereits praktiziert werden, experimentiert. Anfang 1994 begann die privat finanzierte Grundschule "Die Raupe" im südlichen Taipeier Vorort Hsintien mit ihrem Unterrichtsangebot und stellt damit eine zweite Wahlmöglichkeit außerhalb des öffentlichen Systems zur Verfügung.

Die beiden Schulen wurden von Eltern und Pädagogen gegründet, darunter Universitätsprofessoren, die sehen wollten, wie taiwanesische Kinder auf persönlicheren und kreativeren Unterricht in einem von Unterstützung statt Druck geprägten Rahmen reagieren würden. Beide gleichen sich in vieler Hinsicht. Die Schülerzahlen sind gering - insgesamt 56 in der Wald- und 32 in der Raupe-Schule - , und die kleinen Klassengrößen bringen mit sich, daß sich die Lehrer jedem Schüler mit einem Maß an persönlicher Aufmerksamkeit widmen können, von dem Kinder in öffentlichen Schulen nur träumen können. Diese Schulen haben allerdings ihren Preis: Ein Schulhalbjahr an der Raupe-Schule kostet 1200 US$. Das Schulgeld für die Wald-Schule inklusive Kost und Logis beträgt pro Halbjahr 4600 US$, was kritische Stimmen als "aristokratisch" bezeichnet haben.

Doch wenn man die beiden Schulen besucht, sind sie dem ersten Eindruck nach alles andere als aristokratisch. Die Wald-Schule verfügt über eine Reihe eher primitiver und schäbiger Unterrichtsgebäude, die sie von einer verkommenen öffentlichen Schule übernommen hat. Aber das Schulgelände wird von vier riesigen Banyanbäumen (Ficus bengalensis) dominiert, die der Schule ihren Namen geben und dabei helfen, für die heruntergekommenen Bauten zu entschädigen. Die Bäume überschatten fast den ganzen Spielplatz, und die Lehrer geben manchmal ihren Unterricht, der montags bis freitags von 8.00 Uhr bis 15.30 Uhr stattfindet, unter dem tiefgrünen, breiten Blätterdach. Überdies sind die Bäume ein natürlicher "Dschungel-Sportplatz", und wenn das Wetter mitspielt, nehmen Schüler und Schulangestellte ihre Mahlzeiten auch draußen ein. Eine Drittkläßlerin ist mit den Vorteilen der Bäume schnell bei der Hand: "Für mich ist das Beste an der Wald-Schule, daß ich oben in den Bäumen mit meinen Freunden reden und spielen kann", sagt sie.

"Wir möchten nicht, daß unsere Kinder unter Druck lernen - wir hoffen, daß sie Spaß am Lernen haben", sagt Lee Ya-ching, Lehrerin an der Raupe-Schule.

Da der Weg von Taipei zu der relativ abgelegenen Schule ein zeitaufwendiger, verkehrschaotischer Alptraum ist, übernachten die Schüler von Montag bis Freitag in der Schule und verbringen die Wochenenden bei ihren Familien. Die Lehrer bleiben umschichtig in der Schule, um die Kinder am späten Nachmittag und abends zu beaufsichtigen. Die Kücheneinrichtungen und Schlafräume für Jungen und Mädchen sind adäquat, aber bestimmt nicht nobel.

Die Fahrt zur Raupe-Schule bedeutet ebenfalls einen langwierigen Kampf durch dichten Verkehr. Damit die Eltern und Kinder nicht allzu früh aufstehen müssen, beginnt der Schultag später, um 10.00 Uhr, und dauert bis 15.30 Uhr. Alle Klassenzimmer befinden sich in einem einzigen, lagerhallenähnlichen Gebäude, und bei Ausstattung und Lehrmaterial handelt es sich größtenteils um gebrauchte Gegenstände, die von den Eltern gespendet wurden. Ohne Klimaanlage heizt sich die Halle oft in der Mittagssonne auf. Aber die Kinder haben eine prima Methode, um sich mittags und nach Unterrichtsschluß abzukühlen. Sie machen sich mit ein paar Lehrern und Eltern zu einem nahen, seichten Strom auf, um dort im Wasser zu waten und zu spielen. Während des ersten Schulhalbjahres ihrer Existenz verlangten die Betreiber der Raupe-Schule von den Eltern, daß sie vier Stunden pro Woche freiwillig helfen würden. Die Durchführung erwies sich jedoch als schwierig, und die Schule plante, zu Beginn des neuen Schuljahres im Herbst 1994 drei zusätzliche Lehrer und zwei weitere Angestellte einzustellen.

Beide Schulen haben ein beträchtliches Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich gezogen; zum einen ist dies ein Indikator für die weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Schulsystem, und zum anderen illustrieren die Schulen die Wahrheit des alten Sprichworts, nach dem der Unterricht und nicht die Ausstattung bei der Ausbildung der entscheidende Faktor ist. Im Zuge der unlängst entstandenen Bewegung für eine Reform des Bildungswesens in Taiwan haben die an diesen Schulen angewandten experimentellen Ansätze auch dabei geholfen, die sofort ins Auge springenden Mißstände in den öffentlichen Lehranstalten, wie übervolle Klassenzimmer, inflexible Lehrpläne und veraltete Lehrbücher, mehr in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken.

Schuleinrichtungen machen natürlich einen Unterschied aus - dieser kann aber auch negativer Art sein, besonders wenn man sich eine Großstadtschule ansieht. Diese sind im allgemeinen zwar auch nicht für ihre luxuriösen Einrichtungen bekannt, aber die Eltern machen sich mehr Gedanken um das Problem der Überfüllung. Die meisten Schulgelände sind klein und überbevölkert. In der Stadt Taipei verteilen sich 259 000 Grundschüler auf 146 Schulen; im Landkreis Taipei sind es 351 000 Schüler in 199 Schulen. Dies macht im Durchschnitt etwa 1800 Kinder pro Schule aus, manche haben jedoch bis zu 5000 Schüler.

Das Gedränge kann überwältigend sein, und die Klassenräume oder der Schulhof bieten den Kindern nur wenig Fluchtmöglichkeiten aus der Ellenbogen-an-Ellenbogen-Existenz in öffentlichen Schulen. Sämtlicher Unterricht findet drinnen statt, da es dafür drauβen keinen Platz gibt. Spielflächen sind gewöhnlich für den regulären Sportunterricht reserviert, bei dem sechs oder sieben Klassen sich den vorhandenen Platz teilen müssen. Vielleicht gibt es ein paar Bäume, bei denen es sich aber um schutzbedürftige "seltene Spezies" handelt, die sicherlich nicht zum Klettern da sind.

Während an öffentlichen Schulen für gemeinsames Spiel weder Zeit noch Raum ist, lernen die Schützlinge der alternativen Schulen z.B.beim Buddeln im Sandkasten soziales Verhalten und dürfen sich dabei auch mal richtig austoben und dreckig machen.

Obwohl die Wald- und die Raupe-Schule das Problem zu hoher Schülerzahlen absolut umgehen, erregen sie in erster Linie aufgrund ihrer pädagogischen Philosophie Aufmerksamkeit. Die Lehrer an beiden Grundschulen experimentieren mit Methoden, die sich in wesentlichen Punkten von den in öffentlichen Schulen vorzufindenden unterscheiden. Ihr generelles pädagogisches Ziel ist es, ihre Schützlinge durch Führung und Training darin zu unterweisen, wie sie sich selbst Wissen aneignen können, und ihnen ein Interesse an selbständigem Lernen zu vermitteln.

"Wir möchten nicht, daß unsere Kinder unter Druck lernen - wir hoffen, daß sie Spaß am Lernen haben", sagt Lee Ya-ching ( 李雅卿 ), eine Mutter und gleichzeitig Lehrerin an der Raupe-Schule. Zunächst, erklärt Lee, hätten ziemlich viele Schüler Schwierigkeiten damit, sich an die entspannte Atmosphäre in der Schule anzupassen. Einige weigerten sich sogar, am Unterricht teilzunehmen, weil sie glaubten, sie könnten machen, was sie wollten. Andere hätten aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit dem öffentlichen Schulsystem das Interesse am Lernen verloren. "Wir probieren alle möglichen Methoden aus, um diese Schüler wieder auf den Pfad des Lernens zu bringen", sagt Lee. "Wir verstehen, daß sie Zeit brauchen, um wieder Interesse an der Schule zu gewinnen."

Im krassen Gegensatz dazu wird den Pennälern in öffentlichen Lehranstalten der Spaß am Lernen durch die unablässige Hervorhebung des Auswendiglernens und der Wiederholungsübungen verdorben. Außerdem wird wenig für sogenannte "Extremschüler" - entweder schnelle oder langsame Köpfe - getan. Erstere langweilen sich, und letztere fallen unaufholbar zurück. Ein typisches Beispiel ist die Mathematik. Schüler können sehr leicht das Selbstvertrauen verlieren. "Wenn Kinder in der 'Raupe' langsam in Mathematik sind, werden wir sie nicht antreiben", sagt Lee. "Wir geben ihnen einfach mehr Zeit und mehr Gelegenheiten zum Lernen. Wir versuchen alle möglichen Methoden, um ihr Interesse an der Mathematik aufzubauen. Wir üben keinen Druck auf sie aus, aber wenn sie Fortschritte machen, sparen wir nicht mit Lob."

Shih Ying(史英), einer der Gründer der Wald-Schule und außerordentlicher Mathematikprofessor an der Nationalen Taiwan-Universität, hebt hervor, daß das Lehrpersonal der Wald-Schule kreativ sein müsse, da ihm weniger Einrichtungen zur Verfügung stünden. "Unsere Ausstattung ist minderwertiger als die öffentlicher Schulen", sagt er. "Wir haben nur zwei Computer, primitive Audio-Video- und Laborgeräte sowie eine minimale Sportausrüstung. Aber wir ziehen den bestmöglichen Nutzen aus den verfügbaren Ressourcen in der Gemeinschaft."

Die Lehrer stellen sich der Herausforderung. Die Klassengröße gibt ihnen natürlich mehr Flexibilität, da sie nicht darauf beschränkt sind, Vorlesungen zu halten. In der Wald-Schule sind durchschnittlich neun Schüler in einer Klasse. In der Raupe-Schule sind die 30 Kinder in drei Lerngruppen aufgeteilt. Die Lehrer können sich daher auf die Beurteilung der Fähigkeiten und Bedürfnisse eines jeden Schülers konzentrieren, und die Kinder werden respektiert und ermutigt, indem man die Lehrmethoden und das Tempo danach ausrichtet, wie es für sie am angemessensten ist. Gruppendiskussionen, Einzelreferate und weitreichende Gespräche gehören zum Alltag. Die Schüler erhalten außerdem auf Ausflügen und beim Erlernen solcher Fähigkeiten wie dem Benutzen einer Bibliothek eingehende persönliche Anleitung. Unterrichtet wird im Klassenzimmer, unter Bäumen, in der nahen Schwimmhalle, in einem Museum oder sogar in einem abgelegenen Dorf.

Die Klassenzimmer der Raupe-Schule sind in einer lagerähnlichen Halle untergebracht, die sogar noch Platz für ein Schwimmbad bietet.

Im vorletzten Jahr unternahmen alle 56 Waldschüler eine einwöchige Reise auf die Orchideeninsel vor der Südostküste Taiwans, um das Leben und die Kultur der dortigen Ureinwohner zu studieren. "Mir gefällt die Unterrichtsmethode der Schule, da sie den Kindern Raum zu mehr und tieferem Denken gibt", sagt Lin Hui-ying(林惠英), Mutter eines Wald-Schulkindes.

Der Chinesischunterricht an der Raupe-Schule ist ein anderes Beispiel dafür, wie sich der persönlich gestaltete Ansatz auszahlt. Die Hausaufgaben für die fünfte Klasse nehmen verschiedene Formen an, u.a. das Führen eines Tagebuchs, sorgfältiges Kopieren verschiedener Schlüsselstellen aus Romanen, oder die Kinder schreiben nach der Lektüre einer Geschichte einen Aufsatz über ihre Eindrücke. Ein Schüler, der sich für die Abschrift eines Gedichtes pro Tag als Teil seiner Aufgaben entschied, illustriert den Erfolg dieses flexiblen Ansatzes. "Eines Tages fing er an, eigene Gedichte zu schreiben", sagt Lee. "Ist das nicht wunderbar?"

Wie die Wahl des Lehrpersonals ist auch die Auswahl des Lehrmaterials immer ein wichtiger Punkt in der Schulausbildung. In Taiwan wird das Unterrichtsmaterial öffentlicher Schulen durch das Erziehungsministerium festgelegt, wodurch den Lehrern praktisch kein Spielraum bei der Gestaltung ihrer Kurse bleibt. Einige Texte, besonders die für die chinesische Sprache, umfassen mehr Kapitel, als die Lehrer im Schuljahr abdecken können. Andere Lehrbücher lassen wichtige Themen wie Umweltprobleme aus oder enthalten Klischees. Da die Lehrer genug damit zu tun haben, ihre Schüler durch die geforderten Lehrbücher zu bringen, bleibt ihnen für die Behandlung darüber hinausgehender Dinge keine Zeit.

Dieses Problem existiert in den beiden Privatgrundschulen nicht. Obwohl man hier viele Lehrbücher des öffentlichen Bildungswesens benutzt, dienen diese Materialien zum Nachschlagen und sind keine Zwangsjacke. In der Wald-Schule zum Beispiel verläßt man sich im Mathematik- und Naturkundeunterricht mehr auf die von der Regierung vorgegebenen Lehrbücher. Das Unterrichtsmaterial für den Chinesisch- und Sozialkundeunterricht wählen die Lehrer jedoch selbst. Der Lehrplan für Sozialkunde wird durch Ausflüge bereichert.

Im 1994er Curriculum war eine Einführung in Religion ein Hauptthema für die Dritt- und Viertkläßler. "Nachdem ich ihnen einige allgemeine Informationen über Verschiedene Glaubensrichtungen gegeben hatte, besuchte ich mit ihnen mehrere Kirchen und Tempel", sagt Lo Chu-min(羅竹民), Lehrplankoordinatorin der Wald-Schule. Ein Schüler der vierten Klasse erinnert sich mit offensichtlicher Begeisterung an den Ausflug: "Wir haben auch ein taoistisches Fest miterlebt. Es war ein Stadtgott, der eine Inspektionsreise unternommen hat, und wir durften bei der ganzen Zeremonie dabeisein!"

Wenn auch Ausflüge, kleine Klassen und unterschiedliche Unterrichtsstile im Westen selbstverständlich sind, so sind dies in Taiwan immer noch neue Konzepte. Die Annäherung daran erfordert zusätzliche Unterstützung und Verständnis von seiten der Eltern. "Wir respektieren die Lernweise und das Tempo der Kinder", sagt Lehrerin Lee Ya-ching. "Wir glauben, daß alle Kinder über ihr eigenes Potential verfügen. Aber ohne die Rückendeckung der Eltern ist unser Erfolg begrenzt." Probleme kommen tatsächlich auf. Lee berichtet von einem zehnjährigen Jungen an der Raupe-Schule, der gut Aktivitäten außerhalb des Stundenplans organisieren kann, aber seine Eltern halten dies nicht für einen guten Zeitvertreib. Sie möchten, daß er mehr Zeit damit verbringt, "intellektuelle Informationen" aufzunehmen und Hausaufgaben zu machen. "Wir können den Zwiespalt sehen, in dem das Kind steckt, und das ist nicht schön", sagt sie.

Beide Schulen fördern den ständigen Kontakt zwischen Lehrern und Eltern. "Den Kommunikationsstil der Schule finde ich gut", sagt Lin Hui-ying. "Wenn ich bezüglich meines Kindes ein Anliegen habe, zum Beispiel wenn es mehr Disziplin braucht, so schreibe ich es ins Verbindungs-Notizbuch oder rufe einfach an. Die Lehrer reagieren sofort."

"Einige Eltem mögen zunächst falsche Vorstellungen von diesem offenen und aktiven Unterrichtsstil haben", sagt Tang Kuang-hua(唐光華), Vater eines Raupe-Schülers. "Sie glauben, ihre Kinder würden sofort perfekt – klug, höflich, unabhängig und tolerant. Ihre Kinder würden sich nicht prügeln und auch keine Schimpfwörter benutzen. Andere Eltern, ich eingeschlossen, sagen ihnen, daß, wenn sie Geduld hätten, aus ihren Kindern etwas werden könne. Sie bräuchten nur Zeit. Ausbildung benötigt Geduld."

Während Eltern und Verwalter an beiden Schulen zufrieden mit den Ergebnissen ihres Erziehungsexperiments sind, haben sie immer noch finanzielle Sorgen. Keine von beiden wird von der Regierung unterstützt. Zunächst wurden die Kosten an der Wald-Schule zur Hälfte durch Schulgeld und zur Hälfte durch Unterstützung von der Humanistischen Stiftung (Humanistic Foundation) gedeckt, einer hiesigen, sich für eine Bildungsreform einsetzenden Organisation. Das Schulgeld macht jetzt zirka drei Viertel des Jahresbudgets aus. "Glücklicherweise gibt es immer noch sehr viele Leute, die unsere Schule unterstützen und finanzielle Beiträge leisten", sagt Shih Ying.

Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Legalität. Der Status beider Schulen ist nicht ganz eindeutig. Das Privatschulgesetz schreibt bezüglich des Budgets, der Größe des Schulgeländes, der Lehrerqualifikationen und des Lehrmaterials strenge Richtlinien vor. Keine der beiden Schulen erfüllt diese Anforderungen. Um das Problem aus der Welt zu schaffen, haben beide mit nahe gelegenen öffentlichen Grundschulen kooperative Beziehungen arrangiert. Offiziell ist die Wald-Schule jetzt ein experimentelles Projekt der Hsichih-Grundschule. "Die Raupe" hat sich in ähnlicher Weise mit einer nahen öffentlichen Schule verbunden.

Nichtsdestoweniger wurde gegen den Leiter der Wald-Schule im Mai 1994 Anklage erhoben - in der Beschuldigung heißt es, der Schulbetrieb verstoße gegen Artikel 43 des Privatschulgesetzes. Dieser Artikel verbietet jede Organisation, die den Namen einer Schule benutzt und um Schüler wirbt, es sei denn, diese hat eine behördliche Genehmigung. Das Verfahren ist noch anhängig, aber die scheinbare Willkür hat der Schule zusätzliche Unterstützung eingebracht. Befürworter der Wald-Schule in Bildungskreisen nehmen zur Zeit aktiv Einfluß auf die Legislative, um eine Änderung des Gesetzes zu erwirken, da es veraltet ist und in keiner Verbindung mit den Bedürfnissen der heutigen Gesellschaft steht. "Wir hoffen, daß Eltern und Kinder nach einer Revision des Gesetzes mehr Gelegenheit dazu haben werden, sich für das pädagogische System zu entscheiden, das ihnen zusagt", sagt Shih Ying, einer der Gründer der Wald-Schule.

Etwas Hilfe könnte auch vom Erziehungsministerium kommen. In Reaktion auf die Diskussionen und Resolutionen, die anläßlich der Siebten Nationalen Erziehungskonferenz (Seventh Nation Conference on Education) im Juni 1994 verabschiedet wurden, einem Treffen, an dem 450 Pädagogen und Abgeordnete teilgenommen haben, versprach das Ministerium, Regelungen zur Legalisierung von Schulen, die alternative Lehrpläne und Unterrichtsstile anbieten, zu erstellen. Inzwischen ist aus dem Status der Wald- und Raupe-Schule für viele an der allgemeinen Debatte über eine Bildungsreform Beteiligte ein Cause célèbre geworden. Solange an beiden Schulen Unterricht stattfindet, fordern ihre Lehrmethoden seit langem akzeptierte - und seit langem kritisierte - Ansätze im öffentlichen Schulsystem heraus.

(Deutsch von Christiane Gesell)

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