Ein Essay von Lien Chan, dem neu gewählten Vizepräsidenten und amtierenden Premierminister der Republik China
Im Juli und August 1995 führte das festlandchinesische Militär zwei vieldokumentierte Raketenversuche in der Nähe der Nordküste Taiwans durch und lenkte damit auf dramatische Weise die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Beziehungen zwischen der Republik China und der VR China. Pekings Eskalation der Spannungen über die Taiwan-Straße wurde allgemein als Antwort auf einen Besuch von Präsident Lee Teng-hui bei seiner Alma mater, der Cornell University, im Juni gedeutet.
Obwohl die Reise des Präsidenten privater Natur war, machte Peking sein Mißfallen außerdem dadurch deutlich, daß es die halboffiziellen Verhandlungskanäle schloß, über die seit 1993 in lockeren Abständen Sachfragen zum wachsenden Handel, Investitionen und dem kulturellen Austausch zwischen Taiwan und Festlandchina diskutiert worden waren. Die in Taipei beheimatete Stiftung für den Austausch über die Taiwan-Straße (Straits Exchange Foundation, SEF), die im Februar 1991 als private, nichtkommerzielle Organisation gegründet worden war, traf im April 1993 erstmals mit ihrem festländischen Gegenstück, der Vereinigung für die Beziehungen über die Taiwan-Straße (Association for Relations Across the Taiwan Straits, ARATS) zusammen. Seitdem haben beide Organisationen fast ein Dutzend Begegnungen abgehalten, um wirtschaftliche, technische, rechtliche und andere praktische Fragen zu den Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße zu erörtern. Obwohl bei diesen Gesprächen direkte Kontakte auf Regierungsebene sorgfältig vermieden wurden, beendeten sie doch die jahrzehntelange gegenseitige Isolation zwischen beiden Seiten und trugen dazu bei, das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit zu fördern.
Für viele Menschen signalisierten die Raketentests und der Abbruch der SEF-ARATS-Begegnungen, daß eine echte Krise in den Beziehungen über die Taiwan-Straße eingetreten war, eine Krise mit beunruhigenden Auswirkungen auf die asiatisch-pazifische Region, aber auch auf andere Nationen überall auf der Welt. Doch Taiwan und Festlandchina haben auch früher schon Krisen erfolgreich überstanden. Man erinnere sich nur an das Bombardement von Kinmen (Quemoy) in den Jahren 1954 und 1958 durch die chinesischen Kommunisten, das die Vereinigten Staaten dazu veranlaßte, ihre 7. Flotte zu schicken, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. In den folgenden gut dreißig Jahren haben die Spannungen in der Taiwan-Straße allmählich nachgelassen. Man sollte sich daran erinnern, daß der chinesische Ausdruck für "Krise" die Zeichen für "Gefahr" und "Chance" enthält, d.h. "in der Gefahr liegt auch eine Chance". Daher hat die Regierung der Republik China trotz der Spannungen im letzten Sommer an ihrem Entschluß festgehalten, die Kontakte, die sich seit Ende 1987 in Handel, Investition, Kultur und auf anderen Gebieten etabliert haben, nicht abreißen zu lassen. Solche Kontakte werden als konstruktives Mittel betrachtet, das ein tieferes Vertrauen zwischen beiden Seiten schafft und letztlich auch dazu beiträgt, ein gemeinsames Ziel zu erreichen: die friedliche Wiedervereinigung Chinas.
Während Peking noch darauf erwidern muß, indem es die Möglichkeit einer Anwendung militärischer Gewalt gegen Taiwan ausschließt, ist die Regierung der Republik China fest entschlossen, eine friedliche Strategie zu verfolgen, die den Respekt zwischen beiden Seiten fördert. Als ich im Februar 1993 Premierminister wurde, erklärte ich die Verbesserung der Beziehungen über die Taiwan-Straße zu einer der obersten Prioritäten. Dies geschah in der Hoffnung, daß sich beide Seiten von dem "Nullsummen"-Ansatz, in dem der Gewinn des einen den Verlust des anderen bedeutet, wegbewegen würden, um "Gewinn-Gewinn"-Lösungen zu finden, die die Probleme zwischen uns in einer für beide Seiten vorteilhaften Weise beseitigen könnten.
Es ist ganz klar kontraproduktiv für beide Seiten, eine spätere Wiedervereinigung Chinas zu befürworten, während man sich gleichzeitig in unnötige diplomatische Scharmützel begibt und kostbare Ressourcen für militärische Vorbereitungen verschwendet. Warum setzen wir unsere Ressourcen nicht auf produktivere Weise ein, um unserer gesamten Bevölkerung zu nützen und die Sache der friedlichen Wiedervereinigung voranzubringen? Aus diesem Grunde habe ich wiederholt betont, daß ich eine Ausweitung des Austauschs in Wirtschaft und Handel, Kultur und Kunst, Technologie und Nachrichtenverbreitung zwischen beiden Seiten als ein Mittel unterstütze, das die Kluft des Mißverstehens, die immer noch zwischen uns gähnt, überbrücken helfen kann.
Die pragmatische Strategie der Regierung der Republik China besteht darin, positive Beziehungen zwischen beiden Seiten aufzubauen, indem eine Reihe von Austauschprogrammen allmählich erweitert wird, bis ein Zeitalter der Verhandlungen beginnt. Während der ersten Hälfte des vergangenen Jahres begann es so auszusehen, als ob aus dem Sechs-Punkte-Plan, den Präsident Lee Teng-hui am 8. April dem Rat für die nationale Wiedervereinigung der Republik China vorstellte, später einmal ein Rahmenwerk für einen indirekten Dialog auf höchster Ebene zwischen beiden Seiten entstehen könnte. Dieser Plan war die Antwort auf einen Acht-Punkte-Plan zu den beiderseitigen Beziehungen, der von Herrn Jiang Zemin, dem Generalsekretär der KP China, am 30. Januar 1995 vorgestellt worden war. Leider war diese positive Entwicklung nicht das einzige Opfer der Mißfallensbekundungen Pekings vom letzten Sommer, denn die Behörden auf dem Festland beendeten auch die laufenden Verhandlungen auf administrativer Ebene zwischen SEF und ARATS. Unserer Ansicht nach sollte dieser Kommunikationskanal auf Nicht-Regierungsebene, der nach so vielen Mühen zur Lösung von Unstimmigkeiten zwischen beiden Seiten etabliert wurde, wieder geöffnet werden. Solch ein Kanal ist vor allem während einer Zeit größerer Spannungen zwischen Taipei und Peking von Bedeutung, weil er dazu beiträgt, die bedauerlichen Folgen von falscher Einschätzung der Situation oder Mißverständnissen zu verhindern.
Ein Beispiel für ein solches Mißverständnis ist die dauernde Klage Pekings, daß die Bemühungen der Regierung der Republik China, den ihr rechtmäßig zustehenden internationalen Status zu erhalten, ein Ausdruck der "Unabhängigkeit" Taiwans seien. Solch eine Haltung geht an der Realität vorbei und ignoriert zudem unsere langfristigen Bemühungen zur Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Seiten und der Förderung der Wiedervereinigung Chinas. Im November 1987, als die Regierung der Republik China verkündete, daß die Menschen in Taiwan ihre Verwandten auf dem Festland besuchen könnten, wurden fast 40 Jahre der Entfremdung zwischen beiden Seiten beendet. Diese bahnbrechende Veränderung in der Politik der Republik China hatte bis Mitte 1995 über 8,5 Mio. Reisen auf das chinesische Festland zur Folge. Das Gesamthandelsvolumen zwischen beiden Seiten hatte bis Ende 1994 die 70 Mrd.-US$-Marke überschritten, allein 1994 waren es 17,8 Mrd. US$. Gleichzeitig erlebten wir eine Zunahme der kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte. In den vergangenen acht Jahren haben durch solche Austauschprogramme 14 000 Fachleute vom Festland Taiwan besucht. Dieser positive Schwung, der auf vielen Ebenen entstanden ist, muß beibehalten werden.
Die Basis für eine friedvolle und positive Zukunft
In Geist und Richtung leitet sich die Strategie der Republik China für eine friedliche Wiedervereinigung von den Richtlinien für die nationale Wiedervereinigung von 1991 her. Sie geben drei Phasen für das Erreichen der chinesischen Wiedervereinigung vor: eine kurzfristige Phase des Austauschs und der Gegenseitigkeit, eine mittelfristige Phase des Vertrauens und der Zusammenarbeit, eine langfristige Phase der Beratungen und der Wiedervereinigung. Es gibt dabei keinen festen Zeitplan für die einzelnen Phasen, denn es ist schwer vorherzusagen, wie lange es für beide Seiten dauern wird, um ihre unterschiedlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Systeme in besseren Einklang zu bringen.
Da sich die äußeren Bedingungen verändert haben, hat die Regierung der Republik China die veralteten ideologischen Konflikte aufgegeben und pragmatische Anstrengungen unternommen, um die Beziehungen zwischen beiden Seiten in eine positive Richtung zu lenken. Früher hofften wir, durch Ausnutzung der gewaltigen Unterschiede zwischen den Wirtschaftssystemen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße die Überlegenheit unseres Systems der freien Marktwirtschaft zu beweisen. Heute hoffen wir, die Vorteile unseres Systems als ein Modell anbieten zu können, das Handel und wirtschaftliches Wachstum auf dem Festland fördert und die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen beiden Seiten verringert, damit so ein weiterer Schritt in Richtung einer späteren Wiedervereinigung getan werden kann. Einst sahen wir Unruhen und Aufstände auf dem Festland als eine Gelegenheit, der Freiheit und Demokratie zu einem schnelleren Sieg zu verhelfen. Heute wünschen wir uns eine solche Entwicklung nicht mehr revolutionär, sondern evolutionär. Früher versuchten wir, den Kontakt zwischen den Menschen in den Gebieten unter unserer effektiven Jurisdiktion und denen auf dem Festland zu beschränken. Heute unterstützen wir ihn und schließen nicht einmal mehr die Möglichkeit eines zukünftigen Kontakts von Regierung zu Regierung aus.
International haben wir unseren Streit mit Festlandchina über die Frage der "Vertretung Chinas" beiseite gelegt. Wir bleiben bei der Ansicht, daß der konkreteste Schritt, den die internationale Gemeinschaft tun könnte, um den Tatsachen gerecht zu werden, daß China geteilt ist und von getrennten autonomen Regierungen regiert wird, der wäre, sicherzustellen, daß beide Seiten in zufriedenstellender Weise vertreten sind, nicht nur in den Vereinten Nationen, sondern in allen internationalen Organisationen. Nur dann können beide Seiten damit beginnen, Lösungen für die Fragen zu finden, die sie trennen. Aus diesem Grund müssen Taiwan und Festlandchina den de fakto Zustand der geteilten Herrschaft anerkennen, sich nicht den Status als gleichwertige politische Einheiten absprechen und aktiv für günstige Bedingungen für Chinas spätere Wiedervereinigung sorgen. Auf diese Weise können sich beide Seiten allmählich auf eine nationale Vereinigung zubewegen, die auf Demokratie, Freiheit und Wohlstand gegründet ist.
Wir haben uns stets bemüht, uns auf die grundlegenden Unterschiede zu konzentrieren, die zwischen beiden Seiten darüber bestehen, wie die nationale Wiedervereinigung zu erreichen sei. Ich persönlich bin seit einiger Zeit der Meinung, daß Taipei und Peking in der Frage des "Nationalismus" oder min-tsu chu-i, die Peking bei der Diskussion dieses Problems immer anführt, auf einer Linie liegen. Der chinesische Ausdruck min-tsu chu-i ruft das Gefühl einer gemeinsamen ethnischen Identität hervor, und fast alle Chinesen in Taiwan führen ihre Abkunft an irgendeinem Punkt der Vergangenheit auf das Festland zurück. Min-tsu chu-i ist auch ein Teil von Dr. Sun Yat-sens Drei Prinzipien des Volkes, die ein Konzept enthalten, das noch enger mit der Frage der nationalen Wiedervereinigung verbunden ist, nämlich min-ch'üan chu-i. Dieser Ausdruck wird manchmal als "Rechte des Volkes" wiedergegeben, ist meiner Ansicht nach jedoch eher eine Art der Definition von "Demokratie". Mit anderen Worten, was heute beim Weg zur nationalen Wiedervereinigung wirklich zählt, sind die Differenzen über die gewaltige Kluft zwischen den politischen Systemen, mit denen unsere beiden Gesellschaften zur Zeit operieren, nicht die Frage einer gemeinsamen ethnischen Identifikation. Besser als die unnötigen Debatten in der internationalen Arena, ob eine bestimmte Handlung ein Ausdruck von "ein China, ein Taiwan", "zwei Chinas" oder einer "Unabhängigkeit Taiwans" ist, wäre es, sich der wirklichen Frage zuzuwenden, die beide Seiten lösen müssen: Wie kann man eine friedliche nationale Wiedervereinigung unter den Prinzipien von Demokratie, Freiheit und Wohlstand voranbringen?
Hindernisse beim Wiedervereinigungsprozeß
Viele von den Hindernissen, die einer friedlichen Wiedervereinigung entgegenstehen, beruhen auf dem Zögern Pekings, von überholten Standpunkten aus der Vergangenheit Abstand zu nehmen. So entbehrt etwa Pekings Haltung, eine zunehmende internationale Anerkennung Taiwans würde die Stimmung für eine "Unabhängigkeit Taiwans" fördern, jeder Grundlage. Eine "Unabhängigkeit Taiwans" widerspricht explizit der Politik der Republik China. Die Regierung der Republik China tritt für eine "Ein China"-Politik ein, während sie gleichzeitig die unleugbare Tatsache betont, daß dieses "eine China" zur Zeit geteilt ist und seit mehr als vierzig Jahren von getrennten autonomen Regierungen regiert wird. Daher können weder die Republik China noch die VR China derzeit beanspruchen, die gesamte chinesische Nation zu vertreten.
Peking steht ebenfalls auf dem Standpunkt "ein China", aber ihre Version betrachtet die VR China als die einzige repräsentative Regierung Chinas und Taiwan - als einen Teil Chinas - als Teil der VR China. Der Anspruch der VR China auf die Regierungshoheit über Taiwan entbehrt jedoch jeder Grundlage; sie hat kein Recht, die Menschen in Taiwan zu vertreten. Die chinesischen Kommunisten versuchen heute, durch trügerische Rhetorik das zu erreichen, was sie 1949 nicht durch Waffengewalt erreichen konnten. Auch wenn es wahr ist, daß Bevölkerung und Territorium, die die Regierung der Republik China nach ihrer Verlegung nach Taiwan im Jahr 1949 noch tatsächlich unter ihrer Verwaltung hatte, deutlich weniger waren, blieb die Republik China doch eine unabhängige, souveräne politische Einheit, eine Einheit, die in den darauffolgenden Jahren außergewöhnliche politische und wirtschaftliche Erfolge verzeichnen konnte. Wie die historischen Fakten und das internationale Recht beweisen, hat die VR China niemals die Verwaltungshoheit über Taiwan ausgeübt. Sie hat daher kein Recht, unsere 21 Millionen Bürger in irgendeiner internationalen Organisation oder Aktivität zu vertreten.
Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Stärke der Republik China ist es nur natürlich, daß unsere Bevölkerung einen internationalen Status verlangt, der mit der Rolle Taiwans in der Welt im Einklang steht. Das Ergebnis von Pekings Bemühungen, die Republik China in der internationalen Gemeinschaft zu behindern und zu isolieren, besteht darin, daß sich unsere Bürger, obwohl sie in aller Welt als Touristen und Geschäftsleute willkommen sind, peinlichen und umständlichen Prozeduren unterziehen müssen, um Visa zu erhalten. Unsere Athletenteams dürfen bei internationalen Wettbewerben nicht einmal den Namen ihres Landes auf ihren Uniformen tragen. Und trotz der stetigen Beteuerungen unserer Bereitschaft und unbestreitbaren finanziellen Möglichkeit zu helfen, bleibt es der Republik China verwehrt, solch unpolitischen Organisationen wie der WHO, der UNESCO oder sogar dem internationalen Roten Kreuz beizutreten.
Peking verpaßt auch weiterhin Gelegenheiten, aus den positiven Impulsen der Beziehungen über die Taiwan-Straße Nutzen zu ziehen. Veraltete Vorstellungen wie die Formel des Festlands "ein Land - zwei Systeme" lassen sich für die Lösung der Wiedervereinigungsfrage nicht anwenden. Das "eine Land", auf das Peking für diese Übergangszeit besteht, wäre vermutlich die VR China, so daß das System letztlich die kommunistische Autokratie würde. Pekings Vorschlag läuft also darauf hinaus, die Republik China auf den Status einer Provinzregierung zu reduzieren und die Menschen in Taiwan dazu zu zwingen, die kommunistische Herrschaft zu akzeptieren und die Demokratie, Freiheit und Prosperität aufzugeben, die sie heute genießen. In früheren Jahren haben die Machthaber auf dem Festland wiederholt eine "friedliche Wiedervereinigung" gefordert, sich aber gleichzeitig geweigert, auf die Anwendung von Gewalt zu ihrer Durchsetzung zu verzichten. Durch die ständige Bedrohung Taiwans verfolgen die Machthaber auf dem Festland eine Politik, die die psychologische Kluft zwischen beiden Seiten nur vertieft. Dies kann kaum dazu beitragen, den Wiedervereinigungsprozeß zu erleichtern.
Wie lassen sich die Beziehungen verbessern?
Erstens: Wenn es den Führern in Peking mit der Wiedervereinigung ernst ist, müssen sie eine Strategie verfolgen, die das Verständnis zwischen beiden Seiten fördert. Dazu sollte auch der Versuch zählen, die Gründe für Taiwans soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung zu verstehen. Der Wille des Volkes, der sich in einer freien, vielfältigen demokratischen Gesellschaft ausdrückt, spielt bei der Festlegung der zukünftigen Entwicklung der Insel eine immer bedeutendere Rolle. Daher ist jede Maßnahme, die die Beziehungen über die Taiwan-Straße betrifft und vom Willen der Bevölkerung abweicht, in Taiwan inakzeptabel. Die Machthaber auf dem Festland können die Meinung der Menschen in Taiwan einfach nicht ignorieren. Wenn es den politischen Führern in Festlandchina gelingt, demokratische Politik und die Herrschaft des Gesetzes mit mehr Eifer zu verfolgen, so daß dadurch eine gerechte und offene Gesellschaft entsteht, werden sie mit Sicherheit dazu beitragen, beide Seiten näher zusammenzubringen. Und nur so werden sie im Einklang mit den Kardinalprinzipien des Nationalismus handeln, den sie so sehr befürworten.
Zweitens: Die Beziehungen zwischen beiden Seiten können verbessert werden, indem man den "parallelen Nutzen" zum gemeinsamen Ziel erklärt. Mit anderen Worten, beide Seiten sollten sich um einen "Gewinn-Gewinn"-Ansatz bemühen. Die Menschen in Taiwan wissen, daß die Wiedervereinigung derzeit vor allem wegen der zu großen Unterschiede zwischen den politischen und wirtschaftlichen Systemen sowie im Lebensstandard unmöglich gemacht wird, und nicht wegen "fremder Einmischung" oder "den Aufruf zur Unabhängigkeit Taiwans durch Menschen in Taiwan", wie Peking vorgibt. In den vergangenen Jahren hat Taipei stets seine Bereitschaft erklärt, dem chinesischen Festland mit Taiwans wirtschaftlicher Stärke beizustehen. Obwohl die Entwicklung der Insel nicht ohne Probleme verlief, kann nichtsdestotrotz ein Großteil dieser Erfahrungen für das Festland von beträchtlichem Nutzen sein.
Drittens: Beide Seiten müssen den Austausch intensivieren, um so die Idee des parallelen Nutzens in Geschäft, Handel und Investition zu fördern. Im Februar 1995 habe ich in meinem Geschäftsbericht vor dem Parlament der Republik China darauf hingewiesen, daß die Beziehungen zwischen Taiwan und dem Festland sich vorübergehend auf Handels- und Wirtschaftsfragen konzentrieren sollten, damit beide Seiten in den Genuß der Vorteile der Marktwirtschaft kommen. Die Regierung der Republik China hat im Einklang mit dieser Politik die Beschränkungen für Handel mit und Investitionen auf dem Festland deutlich gelockert und vor kurzem einen Plan zur Einrichtung von Off-shore-Umschlagzentren vorgelegt, durch den ein Frachttransport direkt über die Taiwan-Straße ermöglicht werden soll. Wir haben diesen Plan erarbeitet, um schließlich die Einrichtung von Post-, Handels- und Verkehrsverbindungen über die Taiwan-Straße möglich zu machen. Soeben wurde ein Vertrag geschlossen, der Flüge zwischen Taiwan und Macao erlaubt, die zum Teil nach einem Stopover in Macao und einem Wechsel der Flugnummer auch in bestimmte Städte auf dem chinesischen Festland weitergeführt werden könnten.
Wir unterstützen ferner den intensiven Austausch in Kunst, Kultur, Bildung, Literatur, Wissenschaft und Technologie und hoffen, daß der Austausch in der Zukunft nicht auf einfache Besuche oder Konferenzen beschränkt bleibt, sondern auch langfristige gemeinsame Forschungsprojekte, technologische Seminare und akademische Austauschprogramme umfassen wird. Die Regierung der Republik China hat bereits die Bestimmungen für die Reisen ihrer Beamten auf das chinesische Festland gelockert und die Einreisebestimmungen für KP-Mitglieder und Beamte der VR China erleichtert.
Viertens: Wir müssen pragmatischere Gesprächsforen etablieren. Nach den ersten SEF-ARATS-Gesprächen 1993 bildeten die beiden Organisationen einen Kommunikationskanal, über den man Probleme im Zusammenhang mit dem Austausch zwischen beiden Seiten bereden konnte. Obwohl es anfangs einige Schwierigkeiten gab, weil man sich über Fragen wie die Fischereistreitigkeiten nicht leicht einigen konnte, war dies ein Schritt in die richtige Richtung. Ich glaube immer noch, daß es im Interesse beider Seiten liegt, unsere politischen Differenzen zu minimieren und unseren Dialog so bald wie möglich wieder aufzunehmen.
All diese Vorschläge werden im Geist der Kooperation gemacht, sie sind getragen von dem Wunsch nach mehr Zuversicht und Vertrauen. Sie entsprechen in jeder Hinsicht den Richtlinien für die nationale Wiedervereinigung, die die Schaffung eines Klimas von Vernunft, Frieden, Gleichheit und Gegenseitigkeit verlangen, in dem beide Seiten gemeinsam der Sache der nationalen Wiedervereinigung dienen können. Auch wenn die Beziehungen zwischen beiden Seiten sich aufgrund der jüngsten Rückschläge abgekühlt haben, sind wir doch zuversichtlich, daß dies nur ein vorübergehender Zustand sein wird und daß der Frieden unser gemeinsames Ziel bleibt. In den vergangenen Jahren wurden in den bilateralen Beziehungen stetige Fortschritte erzielt, und vor allem der wirtschaftliche Elan dürfte kaum verlorengehen. Doch wir müssen unser Augenmerk auch auf andere Fragen richten: größere militärische Transparenz, verstärktes Verständnis für politische Prozesse auf beiden Seiten, Intensivierung des kulturellen Austauschs und breitere Berichterstattung in den Massenmedien über die Veränderungen, die in unseren beiden Gesellschaften vor sich gehen.
Auch in den kommenden Jahren werden die Spannungen zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße sich gelegentlich, ebenso wie jetzt gerade, vermeintlich zur Krise ausweiten. In solchen Zeiten müssen beide Seiten den Willen haben, für beide vorteilhafte Lösungen zu finden und die Mittel schaffen, sie durchzuführen. Jeder Erfolg wird beide Seiten näher an unser gemeinsames Ziel bringen: Eine friedliche Wiedervereinigung Chinas.
(Deutsch von Dr. Stefan Rummel)