16.07.2025

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Die neue Nationalversammlung

01.03.1996
Jason C. Hu (Mitte), Direktor des Regierungsinformationsamts, war einer der vielen prominenten Kandidaten, die von der KMT ins Ren­nen um einen Sitz in der Nationalversammlung geschickt wurden. Landesweit gewann er von allen gewählten Kandidaten die meisten Stimmen.

Etwas im Schatten der Präsidentenwahl stand die am gleichen Tag abgehaltene Wahl der 334 Mitglieder der Dritten Nationalversammlung. Die Regierungspartei Kuomintang (KMT) mußte bei dieser Wahl herbe Verluste hinnehmen, während die Opposition zulegen konnte.

Obwohl die KMT aus der Wahl zur Dritten Nationalversammlung am 23. März eigentlich als Sieger hervorgegangen ist, reicht ihre Mehrheit nicht aus, um über Verfassungänderungen zu bestimmen. Die Zugewinne der Oppositionsparteien legen nahe, daß in Zukunft für Verfassungsreformen Fraktionsverhandlungen nötig sein werden.

Der Stimmenanteil der KMT in Höhe von 49,7 Prozent brachte 183 der 334 Sitze in der Nationalversammlung, einem der zwei parlamentarischen Organe in der Republik China. Von den 183 KMT-Mandaten wurden 129 per Mehrheitswahl in den Wahlkreisen ermittelt. Die restlichen 54 setzen sich aus im Verhältnis zum Stimmenanteil verteilten Sondersitzen zusammen, davon 43 für landesweite (das Festland eingeschlossen) Repräsentanten und 11 für die Vertretung der Überseechinesen.

Die KMT hat im Gegensatz zu ihrem Ergebnis bei den Wahlen zur Zweiten Nationalversammlung im Dezember 1991 beträchtliche Einbußen hinnehmen müssen. Damals gewann die Regierungspartei 71 Prozent der Stimmen und stellte damit 254 der 325 Mitglieder, was mehr als die für die Kontrolle über Verfassungsänderungen nötige Dreiviertel-Mehrheit bedeutete.

Die Opposition wurde von der Demokratisch Progressiven Partei (DPP) angeführt. Die DPP konnte starke Gewinne verzeichnen und die Anzahl ihrer Sitze von 66 im Jahr 1991 auf 99 in diesem Jahr erhöhen. Ihr Stimmenanteil verbesserte sich von vor fünf Jahren erreichten 23,9 Prozent auf 29,9 Prozent. Von den 99 Mandaten der DPP sind 6 in den Wahlkreisen ermittelt worden, 25 sind landesweite Sitze und neun für die Vertretung der Überseechinesen.

Für die im August 1993 gegründete Neue Partei war die diesjährige Wahl ein erfolgreicher erster Anlauf. Sie gewann 46 Sitze, davon 31 für Wahlkreise, 12 landesweite und drei überseechinesische. 13,7 Prozent der Wähler stimmten für sie. Des weiteren werden fünf parteilose Kandidaten in die Dritte Nationalversammlung einziehen, und der noch verbleibende Sitz ging an einen Vertreter der erst Anfang dieses Jahres gegründeten Grünen Partei.

Die KMT-Führung zeigte sich, auch wenn die Partei ihre Dreiviertel-Mehrheit verloren hat, mit dem Resultat zufrieden. Der Generalsekretär der Regierungspartei, Hsu Shui-teh, sagte, der fast 50prozentige Stimmenanteil sei hoch genug, um als Zustimmung der Bevölkerung für die von der KMT dominierten Nationalversammlung seit 1991 durchgeführten Verfassungsreformen angesehen zu werden.

Die Strategie der KMT, prominente Mitglieder ins Rennen zu schicken, scheint sich ausgezahlt zu haben. Von den drei nominierten hochrangigen Regierungsvertretern und fünf leitenden Beamten, die für die KMT in den Wahlkreisen angetreten waren, wurden bis auf einen alle gewählt. Vier dieser Gewinner konnten in ihren Wahlkreisen die höchsten Stimmenanteile verbuchen. Einer von ihnen, der Generaldirektor des Regierungsinformationsamts Jason C. Hu, gewann in der zentraltaiwaneischen Stadt Taichung mit 78 498 Stimmen das höchste Ergebnis aller in die Nationalversammlung gewählten Kandidaten.

Obwohl sie die Anzahl ihrer Sitze um 50 Prozent erhöhen konnte, verzichtete die DPP-Führung darauf, sich als Sieger dieser Wahl zu bezeichnen. Der Generalsekretär der größten Oppositionspartei, Chiou I-jen, sagte, die Leistung seiner Partei sei akzeptabel gewesen, wenn man bedenke, daß sie trotz des aufgrund der relativ kleinen Wahlkreise verschärften Wettbewerbs einen gleichmäßigen Stimmenanteil von 30 Prozent halten konnte.

Die 46 Sitze der Neuen Partei bedeuteten im Vergleich zu den Parlamentswahlen vom letzten Dezember eine leichte Erhöhung. Als einen Sieg bezeichnete der Generalsekretär der Neuen Partei, Jaw Shau-kong, den Wahlausgang. Die Kandidaten dieser noch jungen Partei gewannen in den traditionellen KMT-Hochburgen auf den Inseln Kinmen und Matsu, den militärischen Außenposten der Republik China vor der Südostküste Festlandchinas.

Beobachter meinen, daß Verfassungsänderungen jetzt mehr Verhandlungen zwischen den Parteien erfordern würden, da in der neuen Nationalversammlung nicht mehr eine einzelne Partei vorherrschend sei. Die Verfassung der Republik China schreibt vor, daß für Änderungen eine Dreiviertel-Mehrheit der Nationalversammlung erforderlich ist, die mit einer Abstimmungsbeteiligung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder beschlußfähig ist.

Doch die Beobachter mahnten auch, daß Kompromisse schwer zu erreichen sein würden, da die drei großen Parteien absolut unterschiedlicher Ansicht über Verfassungsreformen seien: Die KMT möchte nur geringfügige Zusatzartikel wie die Angleichung der Legislaturperiode für das Parlament an die der Nationalversammlung und die Amtszeit des Präsidenten, die DPP möchte die Nationalversammlung ganz abschaffen, und die Neue Partei möchte die ursprüngliche Verfassung wiederherstellen.

Auch bleibt abzuwarten, ob die KMT nach der offiziellen Vereidigung der Mitglieder am 20. Mai mit Erfolg ihren bevorzugten Kandidaten für den Sprecher der Nationalversammlung, Außenminister Fredrick Chien, durchsetzen können wird. Zeitungsberichten zufolge könnte Chien es schwer haben, gewählt zu werden, da er zuvor nur wenig Kontakt zu den Mitgliedern der Nationalversammlung gepflegt hat. Chien war die Nummer eins auf der Liste seiner Partei für einen der nach dem Verhältnisprinzip verteilten Sitze.

In der Presse hieß es weiter, daß die Oppositionsparteien möglicherweise zusammenarbeiten könnten, um den Sprecherposten für einen Kandidaten aus ihren Reihen zu gewinnen, wie im Februar, als der Sprecher für den Legislativ-Yüan zu wählen war und Shih Ming-teh von der DPP aufgrund einer einzigen Stimme scheiterte.

(Deutsch von Christiane Gesell)

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