Die Tao-Ureinwohner von der Orchideeninsel wollen ihre Kultur bewahren, indem sie traditionelle Zeremonien im Zusammenhang mit Fischerei, Bootsweihe und Ernte betonen.
Während im Sommer jeden Tag Bootsladungen voll Touristen zur Grünen Insel(綠島) strömen, um sich dort zu erholen, machen sich Touristen zur Orchideeninsel (Lanyu蘭嶼) auf, weil sie die Ureinwohnerkultur erleben und einen Blick auf jahrhundertealte Traditionen und Zeremonien erhaschen wollen. Für die auf der Insel lebende ethnische Gruppe der Tao sollen mit diesen Zeremonien aber nicht nur Touristen unterhalten werden, sie sind vielmehr eine Lebensweise und ein Mittel zur Sicherung des kulturellen Überlebens. Besonders Zeremonien im Zusammenhang mit Fischfang, Bootsbau und Ernte unterstreichen das Durchhaltevermögen des Stammes.
Die Orchideeninsel liegt im Pazifischen Ozean, 91 Kilometer südöstlich der taiwanischen Hafenstadt Taitung und 75 Kilometer südlich der Grünen Insel, und hat eine Fläche von 46 Quadratkilometern. In vielerlei Hinsicht ist die Insel eine Übergangszone, wo die Menschen, das Klima sowie die Tier- und Pflanzenwelt der tropischen Philippinen sich mit denen des subtropischen Taiwan vermischen. Die Ureinwohner von Lanyu werden in westlichen Sprachen und Mandarinchinesisch manchmal als "Yami" bezeichnet, sie selbst nennen sich "Tao", was in ihrer Sprache "Mensch" oder "Person" bedeutet. Die Tao wanderten vor gut 800 Jahren von der nur 110 Kilometer weiter südlich gelegenen Batan-Insel im Norden der Philippinen aus. Ebenso wie auf den Philippinen herrscht auch auf der Orchideeninsel ein tropisches Klima mit reichlich Niederschlägen, so dass die Insel überwiegend mit tropischer Vegetation bedeckt ist. 1946 wurde die Insel von der Regierung der Republik China nach einer der einheimischen Pflanzen, der Schmetterlingsorchidee, in Orchideeninsel umbenannt, zuvor hatte die Insel den Namen Hongtouyu(紅頭嶼) getragen. Auf Lanyu lebende Tiere besitzen genetische Merkmale von Tieren, die man in Taiwan findet, und ebenso von philippinischen Arten.
Bemühungen zur Bewahrung der Tao-Lebensweise gab es schon unter der japanischen Kolonialherrschaft (1895-1945), als die Insel von den Japanern zum anthropologischen Forschungsgebiet für Ureinwohnerkultur erklärt wurde. Besuche von Personen der allgemeinen Öffentlichkeit wurden von den Japanern verboten, und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges behielt die Regierung der Republik China dieses Verbot bis 1967 bei. Gut 40 Jahre nach der Aufhebung des Verbots sind viele Traditionen der Tao bis heute erhalten. Infolgedessen können Besucher der Orchideeninsel einen Einblick in einen Lebensstil gewinnen, der sich von dem auf der Insel Taiwan erheblich unterscheidet.
Der Lockruf der fliegenden Fische
Die Tao sind die einzigen Ureinwohner im Taiwangebiet, die aufs Meer hinausfahren, und es ist keine Überraschung, dass Fisch in der Stammeskultur eine zentrale Rolle spielt. Der Wert eines Tao-Mannes bemisst sich zum Beispiel nach seiner Fähigkeit, seine Familie durch Fischfang zu ernähren. Zwar fangen die Tao viele Arten von Fisch, doch die fliegenden Fische schätzen sie am meisten. Die Saison der fliegenden Fische fängt offiziell jedes Jahr Ende Februar oder Anfang März an, wenn der Stamm eine Zeremonie abhält, sie zu ihrer Insel zu rufen. Am Tag der Zeremonie erheben sich die Tao-Männer im Morgengrauen und begeben sich zum Ufer, wo nach einer rituellen Schlachtung eines Huhnes einer der Stammesältesten mit den Fingern Blut auf einige der runden Steine streicht, die am Strand liegen. Aufs Meer blickend, deklamiert er: "Wir rufen euch zu, den fliegenden Fischen des Südens, zu uns zu kommen wie abgeschossene Pfeile, denn wir haben Hühner- und Schweinefleisch, um euch zu begrüßen. Fliegende Fische! Kehrt schnell zu uns zurück!" Jeder Bootsführer hebt dann fünf der mit Blut bestrichenen Steine auf und nimmt sie als Teil der zeremoniellen Bitte um einen reichen Fang nach Hause.
Irgendwann im März jedes Jahres ändern die reichen Gewässer der Kuroshio-Strömung ihren Kurs in Richtung Orchideeninsel und führen die fliegenden Fische mit sich. Nach ihrer Ankunft fangen die Tao-Männer an, Tag und Nacht zu fischen, und ein großer Teil ihres Fangs wird mit Salz konserviert. Die fliegenden Fische ziehen im Juni oder Juli weiter, und am 15. Tag des achten Mondkalendermonats (gewöhnlich im September) veranstalten die Tao eine Zeremonie, um zu signalisieren, dass frische fliegende Fische nicht mehr gefangen oder gegessen werden dürfen, während der Verzehr von getrockneten und gesalzenen Fischen im Winter gestattet ist. Die Schwanzflossen der größten fliegenden Fische werden am Ufer aufgehängt, was das Ende der Saison symbolisiert, und nach dem Abschluss der Zeremonie werden alle nicht gegessenen frischen fliegenden Fische entsorgt.
Treibende Symbole
Die Tradition der Tao will es, dass jeder Mann des Stammes vor seinem Tod ein eigenes Boot gebaut haben muss. Während die meisten Familien Boote besitzen, in denen eine bis drei Personen Platz finden, kommen die Dörfer zusammen, um größere Fahrzeuge für etwa 12 Personen zu bauen. Mit ihrem hohen geschwungenen Bug und Heck sind diese Kanus das bekannteste Symbol für die Tao-Kultur.
Lange bevor ein Boot gebaut wird, erhebt eine Person oder ein Klan Anspruch auf einen geeigneten Baum, aus dem die erforderlichen 21 bis 27 Holzplanken gezimmert werden. Der Bootsbau wird komplett von Hand mit den gleichen einfachen Werkzeugen unternommen, die seit Generationen in Gebrauch sind. Die Planken werden mit Holzzapfen verbunden und mit dem Harz des Barok-Baumes versiegelt. Für den letzten Schliff erhalten die Boote kunstvolle Schnitzereien und Zierembleme, die weiß, rot und schwarz bemalt werden -- die Farben der fliegenden Fische, welche eine der Hauptnahrungsquellen des Stammes darstellen.
Eine gute Zeit für einen Besuch auf der Orchideeninsel ist der Frühling, wenn farbenprächtige Zeremonien für den Stapellauf neuer Fischerboote abgehalten werden. Kurz vor diesem wichtigen jährlichen Ritual fangen Frauen an, achteckige Hüte aus Holz und Halsketten aus Achatperlen zu tragen. Am Vorabend des Stapellaufs singen die Gastgeberfamilie und die Gäste, im Falle eines größeren Bootes das ganze Dorf, die ganze Nacht hindurch. Am folgenden Festtag schlachtet man Schweine als Opfergabe und bietet das Fleisch allen Anwesenden an.
Die Einweihung des neuen Boots an sich verläuft gleichfalls zeremoniell. Junge Männer in Lendenschurzen umkreisen das fragliche Kanu, führen Rituale gegen böse Geister durch und werfen das Boot mehrmals in die Luft. Die Zeremonie gilt erst als abgeschlossen, wenn das Boot zu Wasser gelassen wurde und man sich davon überzeugt hat, dass es schwimmfähig ist.
Ebenso wie die ursprüngliche Heimat der Tao auf den Philippinen ist auch Lanyu eine tropische Insel mit reichlichen Niederschlägen.
Zusammen arbeiten
Die Tao-Gesellschaft kennt keine klar abgegrenzten Klassenunterscheidungen. Es gibt zum Beispiel keinen Häuptling, nur die Dorfältesten, und es gehört zum guten Ton, für den gegenseitigen Nutzen der Allgemeinheit zusammenzuarbeiten. Wenn etwa ein Mitglied der Tao beschließt, ein Haus zu bauen, sieht die Tradition es vor, dass Freunde und Verwandte einspringen sollen, um mit ihrer Arbeitskraft und Erfahrung zu helfen. Diese Sitte ist bis heute lebendig in zwei Dörfern an der Ostküste, die den traditionellen Baustil aufrechterhalten, bei dem die Häuser teilweise unterirdisch angelegt sind. Beim Bauen wird die Grube mit Steinen verkleidet, wodurch die Häuser im Winter warm und im Sommer kühl sind, außerdem bieten sie Schutz vor den Taifunen, die über die Orchideeninsel hinwegbrausen. Für die Häuser selbst werden Holzplanken verbaut, und sie haben steile Dächer, die nur wenig über die ebene Erde hinausragen.
Die meisten traditionellen Häuser haben an einer Seite eine kleine Werkstatt, an der anderen Seite eine erhöhte und überdachte Plattform, von der aus man einen klaren Blick aufs Meer hat und wo man sich vom Wind kühlen lassen kann, ein Ort zum Entspannen, Essen, Rauchen, Betelnusskauen und Schwatzen mit Nachbarn.
Korallenstein-Mauern grenzen diese Häuser von Schweineställen und Nasstaro-Feldern ab, für die man einen stetigen Zustrom von Wasser braucht. Flache Steine, die ins Gras und andere ebene Flächen eingebettet wurden, bieten Fußwege. Der Bau dieser traditionellen Heimstätten ist eine recht häufige Angelegenheit, denn die Gebräuche der Tao schreiben vor, dass nach dem Ableben der Eltern eines Stammesmitglieds das Haus der Familie abgerissen werden muss. Der ältere Sohn der Familie erbt das verwertbare Baumaterial des ehemaligen Hauses und ergänzt es mit Bauholz aus den Wäldern, um ein neues Haus zu errichten. Während die Männer überwiegend für den Bau von Häusern verantwortlich sind, obliegt es den Frauen, neue Felder in der Nähe des neuen Hauses zu pflügen, damit nach Vollendung des Hauses Taro angebaut werden kann.
Ende der sechziger Jahre startete die Regierung der Republik China ein Programm, um den Standard des Häuserbestandes auf der Orchideeninsel zu "verbessern". Es wurde angeordnet, konventionelle Betonhäuser hochzuziehen und die Tao dorthin umzusiedeln. Viele der Stammesältesten erhoben Einspruch und bestanden darauf, in ihre traditionellen Häuser zurückzuziehen. Eine weitere Schwierigkeit ergab sich, weil der für die neuen Häuser verwendete Beton mit schlechtem salzhaltigen Sand vom Meeresufer vermischt wurde, mit dem Ergebnis, dass die neuen Häuser schon nach ein paar Jahren zu verfallen begannen. Dennoch wurde das Programm bis 1976 fortgesetzt und viele der Häuser im alten Stil zerstört. Der "Fortschritt" hat heute dazu geführt, dass Betonhäuser zum vorherrschenden Baustil in vier der sechs Dörfer der Insel geworden sind.
Erntefest
Neben Fischerei leben die Tao von der Landwirtschaft, eines der Haupt-Anbauprodukte ist Hirse. Zwar wird heute weniger Hirse gepflanzt als früher, aber in den Traditionen des Stammes hat sie immer noch einen wichtigen Platz. In der Vergangenheit führte jede Familie im Frühsommer über eine Woche ihre eigene Erntefeier in kleinem Rahmen durch, um den Göttern für eine gute Ernte zu danken und für eine weitere reiche Ernte im kommenden Jahr zu beten. Heute finden anstelle dieser Familien-Zeremonien größere Veranstaltungen statt, die von jedem Dorf organisiert werden und auf einen bis zwei sorgfältig ausgesuchte glückverheißende Tage verkürzt wurden. Allerdings gibt es diese Zeremonien nicht mehr jedes Jahr, und die Entscheidung, ob es in dem betreffenden Jahr eine geben soll, wird in den Monaten Anfang des Jahres getroffen. Wenn man beschließt, eine solche Zeremonie durchzuführen, benachrichtigen die Dorfältesten die Familien mit dem Hinweis, dass sie Hirse anbauen sollen. Die Erntezeremonie findet nach Einbringen der Ernte statt, gewöhnlich im Juni.
Andere Anbaupflanzen wie Nasstaro, Yams, Obst und Gemüse werden etwa zur gleichen Zeit wie Hirse geerntet, und während die Tao beim Erntefest auch für diese Produkte danken, steht Hirse beim Hirsestampftanz im Mittelpunkt. Bei diesem Tanz machen Kinder, Erwachsene und Alte mit, und die Beteiligung jeder größeren Altersgruppe wird dabei als wesentlich angesehen, damit gewährleistet ist, dass die Tradition an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Bei dem Tanz selbst hält jeder Teilnehmer einen hölzernen Stößel, singt und tanzt um einen Mörser herum, und abwechselnd beugt man sich vor und stampft die Hirse im Mörser.
Die bekannteste Zeremonie im Rahmen des Erntefests ist der Haartanz der Tao-Frauen, bei dem sie anmutig ihre langen Haare schwingen, um damit ihre Zuneigung für ihre Ehemänner und Familien auszudrücken. In der Vergangenheit schrieb die Sitte der Tao vor, dass die Frauen den Tanz nicht am Tag durchführen sollten, deswegen tanzten sie bei Mondschein, in der Regel am Strand. Heute findet der Tanz aber als Teil des Erntefestes am Tag statt. Der Tanz beginnt, indem die Frauen in einer Reihe stehen und ihr Haar lösen. Sie fangen an zu singen und wiegen sich sanft, haken sich dann unter und beugen sich tief vor, bis ihr Haar den Boden berührt. In dieser Haltung schwingen sie ihre Haare vor sich von einer Seite zur anderen, beugen anschließend die Knie und schleudern ihre Haare schnell nach hinten, was in dem Moment so aussieht, als ob ihre Haare zu Berge stünden. Diese Bewegung wird mehrmals wiederholt.
Die Tao waren unter der japanischen Kolonialherrschaft und später unter der Regierung der Republik China vom Druck der Außenwelt isoliert. Gut 40 Jahre nach der Aufhebung des Reiseverbots zur Orchideeninsel ist die Bewahrung der Tao-Traditionen heute jedoch gefährdet, nicht anders als die Traditionen vieler Ureinwohnervölker auf der ganzen Welt. Als Reaktion darauf unternimmt der Stamm konzentrierte Anstrengungen, wichtige Traditionen beizubehalten wie die im Zusammenhang mit fliegenden Fischen, Bootsweihe, Häuserbau und Ernte. Diese Traditionen scheinen auszudrücken, wir sind noch da, und wir sind so.
(Deutsch von Tilman Aretz)