Chen Wen-chung hat sich dem Weihrauch geweiht, und zwar so sehr, dass er ein vielseitiges Zentrum rund um das Thema gegründet hat.
Jahrelang reisten Touristen zum Städtchen Singang im Landkreis Chiayi, um etwas über Taiwans religiösen Hintergrund zu erfahren, und wurden dabei von den über 70 Tempeln aller Größen angezogen, die man in der Gegend finden kann, obwohl der Ort selbst nicht mehr als 35 000 Einwohner hat. Einer von Singangs eindrucksvollsten Sakralbauten ist der Fongtien-Tempel, der überwiegend der Meeresgöttin Matsu(媽祖) geweiht ist. Der Anfang des 19. Jahrhunderts gegründete Tempel ist fast zu einem Synonym für Singang geworden und lockt Matsu-Gläubige in großen Scharen an. Doch seit Anfang 2007 bietet der Ort potenziellen Touristen einen weiteren Anreiz für einen Besuch -- den “Incense Artistic Culture Garden” (Weihrauchkunst-Kulturgarten), eine Mischung aus Museum, Gästehaus, Fabrik und Restaurant.
“Singang ist ein heiliger Ort, wo Geschäfte gedeihen, die Räucherstäbchen, Räucherpapier und Götterfigürchen herstellen und verkaufen”, sagt Chen Wen-chung, geboren in Singang und Gründer des Weihrauchzentrums, und erläutert den kulturellen Hintergrund der jüngsten Attraktion seiner Heimatstadt.
Der 45-jährige, kräftig gebaute Chen mit Bürstenschnitt verdiente sich seine Sporen in der Weihrauchkultur als Lehrling zur Herstellung von Räucherspiralen in Kaohsiung, nicht lange nach seiner Entlassung aus Taiwans Marineinfanteriekorps als Twen. Nach drei Monaten Lehrzeit begann er mit der Herstellung von Räucherwerk und machte dann vor rund 20 Jahren mehrere Räucherwarenläden in Singang auf. “Das Geschäft der Räucherwerkherstellung erreichte seinen Höhepunkt, kurz bevor ich in das Gewerbe einstieg”, meint Chen rückblickend. “Alle Leute dachten nur an Lotterien und rannten ständig zu Tempeln, um nach Glück bei Geldangelegenheiten zu flehen.”
Wie andere traditionelle Gewerbe in Taiwan erfuhr aber auch die Räucherwerkproduktion einen allmählichen Niedergang. Das Lotteriefieber begann nachzulassen, die Gesellschaft war mit der Zeit weniger religiös geworden, und es suchten nicht mehr so viele Menschen Tempel zur Andacht auf. Die Flaute hing außerdem stark mit Räucherwerk-Billigimporten aus China zusammen, die Anfang der neunziger Jahre auf dem Markt auftauchten. “Als die Produktion von Räucherwerk hier sank, wurde mein Einkommen unbeständig”, klagt Tu Chi-chia, der 27 Jahre lang immer wieder mal Räucherwerk herstellte. “Viele Arbeitskräfte stiegen aus, obwohl sie über jahrzehntelange Erfahrung in dem Gewerbe verfügten.” Tu arbeitet heute in Chens Räucherwerkzentrum, wo Besucher ihm und zwei anderen Mitarbeitern zuschauen können, wie sie die Fertigung von Räucherstäbchen vorführen.
Ein Neubeginn
Chens Entscheidung, das Gewerbe mit Fremdenverkehr zu verbinden, bescherte nicht nur Tu eine Zukunft, sondern markierte auch einen Neuanfang in Chens beruflicher Laufbahn. Das Zentrum mit einer Fläche von 10 000 Quadratmetern umfasst neben Unterkünften einen Bereich, wo die Besucher einige der Pflanzen sehen können, die Rohmaterialien für Räucherwerk liefern. Die Räume im Gästehaus sind mit Weihrauchmotiven geschmückt, so dass jeder Raum nach einem Stoff duftet, aus dem Räucherwerk gemacht werden kann, etwa Sandelholz oder Fenchel.
Überall in dem Zentrum findet man “Weihrauchlampen” mit Lampenschirmen aus Räucherstäbchen. Das Design der Weihrauchlampen wurde mit einem von 12 Preisen belohnt, die 2007 im Rahmen des ersten Designwettbewerbs “One Town One Product” Design Awards von der Verwaltung kleiner und mittlerer Unternehmen im Wirtschaftsministerium vergeben wurden, um die Entwicklung und Innovation lokaler Spezialitätenprodukte zu fördern. “Zwei Tempel haben bereits solche Lampen bestellt”, freut sich Chen.
Die Hauptattraktion des Zentrums ist indes das Museum über die Weihrauchkultur. “Daten für diese Halle zu sammeln war die zeitraubendste Aufgabe, als ich die Vorbereitungsarbeit für das Zentrum leistete”, behauptet Chen und fügt hinzu, dass es zweifellos das einzige Weihrauchmuseum in Taiwan ist, vielleicht das einzige auf der ganzen Welt. Es ist eine von über 200 “Kulturhallen”, die der Rat für Kulturangelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA) -- eine Behörde im Ministeriumsrang -- bezuschusst, um lokale Besonderheiten in jeder Stadt Taiwans zu fördern. Seit Beginn des Programms im Jahre 2002 stellte der CCA 2,4 Milliarden NT$ (51 Millionen Euro) für die Entwicklung dieser Hallen bereit.
In Chens Museum können die Besucher etwas über die buddhistischen Anfänge von Weihrauch erfahren. Die Geschichte besagt, dass vor 2500 Jahren, als Buddha in Indien predigte, seine Anhänger sich in dem heißen Klima des Subkontinents oft wegen ihres Schweißgeruches schämten. Um das Problem zu lösen, griffen manche von ihnen nach Stücken duftenden Holzes und verbrannten sie. Der Rauch überdeckte nicht nur den üblen Geruch, sondern verminderte auch die durch die Hitze verursachte Schläfrigkeit, so dass die Gläubigen Buddhas Philosophie leichter verstehen konnten. Im Laufe der Zeit entstand bei den Andächtigen eine Tradition, ihren Respekt vor Buddha zu zeigen, indem sie Räucherwerk verbrannten.
“Wenn man sich die Einzelheiten auf Am Flussufer zum Qingming-Fest genau anschaut, kann man Läden sehen, in denen Weihrauch verkauft wird”, bemerkt Chen und zeigt auf eine Nachbildung eines berühmten Tuschegemäldes im Foyer, welches das Stadtleben während der chinesischen Qing-Dynastie (1644-1911) darstellt. In China wird Weihrauch heute noch häufig bei religiösen Zeremonien verwendet, sowohl bei den Buddhisten als auch den Taoisten.
Friedliches Nebeneinander
Aspekte der beiden Religionen sind zuweilen in taiwanischen Tempeln nebeneinander vorhanden, auch wenn sie sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden. Buddhismus entstand auf dem indischen Subkontinent, Taoismus dagegen in China. Zwar haben beide Religionen ungefähr eine gleich lange Geschichte, doch bei Taoismus gilt die Andacht volkstümlichen Gottheiten wie Matsu, die von Menschen, die an Chinas Südostküste leben, und ethnisch chinesischen Gruppen in Südostasien verehrt wird. Über 400 Tempel in Taiwan sind vor allem Matsu geweiht, darunter auch der Fongtien-Tempel in Singang und der berühmte Chaotian-Tempel in Beigang (Landkreis Yunlin), beide in zehn Autominuten von Chens Zentrum aus zu erreichen.
Die Gebäude, in denen Buddhisten und Taoisten Andacht halten, nennt man auf Deutsch “Tempel” , im Mandarin-Chinesischen werden für die heiligen Stätten der beiden Religionen jedoch unterschiedliche Bezeichnungen verwendet -- für buddhistische Tempel si(寺), für taoistische Tempel gong(宮)oder miao(廟). “Im Allgemeinen verwenden Buddhisten Räucherwerk von besserer Qualität als die Taoisten”, weiß Chen. “Wenn Buddhisten Räucherwerk benutzen, hat Qualität bei ihnen Vorrang vor Quantität.”
Manchmal benutzen Buddhisten beim Beten gar keinen Weihrauch, Verehrer taoistischer Gottheiten beten in der Regel mit drei Räucherstäbchen in den Händen, um damit ihren Respekt vor Menschen, Erde und Himmel zu bezeugen. Nach dem Gebet wird ein Räucherstäbchen in die Mitte des Räucherbeckens gesteckt, das zweite an die rechte Seite neben den Figuren der taoistischen Gottheiten, und das dritte auf die linke Seite neben den gleichen Figuren.
In der chinesischen Mythologie gibt es die Geschichte einer Göttin, die Räucherwerk verbrannte, um ihren Vater zu retten. Gemäß der Legende versuchte einstmals ein Mädchen, ihren kranken Vater zu behandeln, indem sie ihm Kräutersuppe einflößte. Als sie feststellte, dass ihr Vater die Suppe nicht runterbekam, beschloss das Mädchen, die Heilkräuter stattdessen zu verbrennen und den Vater den Rauch inhalieren zu lassen. Chen sagt, in der Geschichte erlangte der Vater bald wundersamerweise seine Gesundheit voll zurück, und die Tochter wird seitdem von Räucherwerkherstellern als Göttin der Neun Himmel verehrt.
In der Tat spielen viele der Bestandteile, mit denen Räucherwerk gemacht wird, in der chinesischen Kräuterheilkunde ebenfalls eine Rolle. Chen verweist auf einen Ausstellungsraum mit zahlreichen Glasbehältern voller Rohmaterialien chinesischer Medizin, etwa Muskatnuss, Zimt oder Nelken. Nach Chens Worten kann man sie auch mahlen und anschließend mit Adlerholz- oder Sandelholz-Pulver (die beide gleichermaßen Heilkräfte besitzen) vermengen, um Räucherwerk herzustellen. Von allen Materialien für die Produktion von Räucherwerk ist Adlerholz am teuersten, gefolgt von Sandelholz. Logischerweise kann Räucherwerk mit einem hohen Adlerholz-Anteil die höchsten Preise erzielen. Weder Adlerholz noch Sandelholz gedeihen in Taiwan, daher wird Adlerholz überwiegend aus Indochina eingeführt, während Sandelholz aus Indien, Indonesien oder Australien importiert wird.
Zur Herstellung von Räucherstäbchen macht man zunächst dünne Bambusstreifen, taucht diese in Wasser und rührt sie dann in Pulver aus gemahlener Rinde des Nanmu-Baumes. Die Kombination aus Wasser und Nanmu-Pulver sorgt dafür, dass das Räucherwerk-Pulver auf Kräutergrundlage leicht am feuchten Bambus haftet. Das in Chens Fabrik hergestellte Räucherwerk kostet zumeist 400 NT$ (8,51 Euro) je Kilo, doch Erzeugnisse aus reinem Adlerholz-Räucherpulver bester Qualität können bis zu 80-mal so viel kosten.
Hochwertiges Adlerholz, das für seine Seltenheit und seinen angenehmen Duft bekannt ist, hatte einen besonderen Platz in den Herzen chinesischer Weihrauchfreunde der altertümlichen Zeit, so Chen. Das Museum hat einen Ausstellungsraum eingerichtet, in dem Schmuckausstattung aus der Song-Dynastie (960-1279) -- der Zeit, während welcher der Brauch sich in den gesellschaftlichen Eliten des alten China durchzusetzen begann -- zu sehen ist.
Japan kann ebenfalls auf eine lange Geschichte des Gebrauchs von Räucherwerk zurückblicken. Bei einer traditionellen Zeremonie namens kodo香道 (Weg des Duftes) -- ähnlich wie sado茶道 (Weg des Tees) und kado花道 (Weg der Blumen) -- würdigen die Menschen den Duft von Räucherwerk als Teil einer formalen Veranstaltung, die festen Regeln folgt.
Entsprechend plant Chen jetzt, in dem Restaurant des Zentrums Räucherwerk anzubieten, um den Appetit der Gäste vor dem Essen anzuregen. Diese neue Idee könnte der Museumsbesucherin Huang Man gefallen, die aus Neugier mit Verwandten aus Taipeh zu Chens Museum in Singang fuhr. “Ich habe noch nie die Rohmaterialien gesehen, aus denen Räucherstäbchen gemacht werden”, bekennt sie. “Durch den Anblick dieser Kräuterzutaten fühle ich mich sicher, wenn ich den Weihrauch hier rieche. Ich gehe nicht oft in Tempel, weil ich befürchte, der Weihrauch könnte ungesund sein, aber der Weihrauch hier riecht gut und reizt meine Augen nicht.”
Gesundheitliche Sorgen
Viele Menschen in Taiwan haben aber weiterhin Bedenken, Räucherwerk zu verbrennen. Vor drei Jahren veröffentlichte Gaston Wu, Chemieprofessor und Mitglied der Verbraucherstiftung, einen Bericht, der vor den Gefahren von Weihrauch warnte, der nach seiner Erkenntnis einen hohen Gehalt krebserregender Substanzen enthielt. Die Verbraucherstiftung rät Menschen, beim Gebet lediglich die Handflächen zusammenzulegen anstatt Räucherstäbchen anzuzünden. “Nach dem Erscheinen des Berichts von der Verbraucherstiftung ging der Absatz von Räucherwerk in Taiwan abrupt zurück”, rapportiert Chen vom Duftzentrum. “Es ist jedoch unangemessen, alles über einen Kamm zu scheren. Wenn man Tests mit Räucherwerk schlechter Qualität durchführt, das chemische Komponenten enthält, wird man natürlich feststellen, dass das Zeug für Menschen schädlich ist. Allerdings verkauft nicht jeder Räuchermittelhersteller solche Produkte.”
Ende 2006 beauftragte der Gründer des Weihrauchzentrums Chen Lih-geeng, Professor am Graduierteninstitut für biomedizinische und biopharmazeutische Wissenschaften der National Chiayi University, mit Forschung über diese Angelegenheit. Professor Chen führt eine zweijährige Analyse über die Auswirkungen von Weihrauch auf die Gesundheit des Menschen durch und untersucht auch die Rohmaterialien, die für Räucherwerk verwendet werden.
“Entscheidend ist die Dichte des Weihrauches”, versichert Chen Lih-geeng. Das Experiment der Verbraucherstiftung des Jahres 2005 war durchgeführt worden, indem man viele Räucherstäbchen zusammen auf engem Raum verbrannte, enthüllt der Forscher, wogegen seine Tests am Rauch, der von ein paar Räucherstäbchen in einem größeren Raum erzeugt wurde, zu dem Ergebnis kamen, dass es nur geringe Auswirkungen auf die Gesundheit gebe. “Es ist also in Ordnung, einige wenige Räucherstäbchen zu Hause anzustecken, so wie es normalerweise der Fall ist”, beschwichtigt er. “Vielleicht ist es nicht so gesund, sich in einem Tempel aufzuhalten, wo große Mengen Räucherwerk verbrannt werden. Doch selbst dann sollte es kein Problem sein, wenn man nur kurz dableibt und der Tempel gut belüftet ist.” Der Forscher überprüft die Ergebnisse seiner Experimente regelmäßig mit Chen Hsiu-tao, der jüngeren Schwester von Chen Wen-chung und studierter Biotechnologin, die das wiederum mit ihrem Bruder bespricht.
Chen Wen-chung hatte anfangs erwogen, das Land, auf dem sein Zentrum heute steht, in einen Bauernhof mit biologischem Anbau zu verwandeln. Nach über 20 Jahren als Räucherwerk-Hersteller kam er aber letztendlich zu dem Schluss, dass die Einrichtung des Weihrauchzentrums für ihn bedeutungsvoller wäre. Das Zentrum bot ihm einen Weg, seine jahrelange Erfahrung nutzbar zu machen, die Weihrauchkultur zu fördern und die Verbindungen zu diesem jahrhundertealten Handwerk aufrechtzuerhalten.
(Deutsch von Tilman Aretz)