16.07.2025

Taiwan Today

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Die Straßenhändlerin Frau Yeh

01.05.1998
“Für diesen Job braucht man viel Zeit und Kraft, und mich laugt die Arbeit aus. Dieses ständige Schnippeln und Tragen von schweren Essensbehältern verursacht Schmerzen in meiner Brust, und mein Mitarbeiter hat Problemem mit seinen Händen.”
Ein naßkalter Winterabend. Neben einem hellerleuchteten 24-Stunden-Supermarkt der Kette "7-Eleven" steht ein kleiner Stand, an dem Frau Yeh und ein Mitarbeiter emsig kleine Leckerbissen zubereiten, die Gesichter von duftenden Dampfwolken eingehüllt.

Frau Yeh ist eine freundliche und bescheidene Dame mit einem starken Unabhängigkeitssinn. Vor einem Jahr verließ sie ihren Mann wegen seiner Gewalttätigkeit und seiner hohen Schulden und begann in Taipei ein neues Leben. Ihren vollen Namen möchte sie nicht nennen, weil ihr Mann immer noch nach ihr sucht und nichts Gutes im Schilde führt.

Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal mit dem Verkauf solcher Sachen meinen Lebensunterhalt verdienen müßte. Ich bin Buddhistin und glaube, daß das Verkaufen von Fleisch genauso schlecht ist wie das Töten von Tieren. Es bringt Unglück. Meine Hände und Kleider sind immer naß und fettig, ich komme mir immer klebrig vor, und diese feuchte Umgebung ist schrecklich ungemütlich. Aber das Leben hat mich nun einmal hierher verschlagen -- Schicksal, was soll ich dagegen machen?

Früher war ich Friseurin. Das war eine Tätigkeit in einer sauberen und angenehmen Umgebung, ich hatte hübsche Kleider an und annehmbare Arbeitszeiten. Das alles ist für Straßenhändler völlig anders. Unser Tag fängt in aller Frühe an, wenn wir zum Markt gehen und alles Nötige besorgen, frisches Fleisch und Gemüse und so. Zu Hause verbringen wir dann den ganzen Nachmittag mit waschen, schnippeln und kochen. Es ist eine schwierige und anstrengende Arbeit, weil die verschiedenen Rohmaterialien unterschiedlich zubereitet werden müssen. Manches muß gedämpft oder halbgar gekocht, anderes fritiert werden. Ich renne immer hin und her und kontrolliere die Herde, damit nichts anbrennt.

Wenn alles fertig ist, kommen wir hierher -- die Anfahrt dauert eine halbe Stunde -- und fangen an zu verkaufen. Normalerweise verkaufen wir außer montags täglich von sechs Uhr abends bis ein Uhr morgens. In der letzten Zeit war ich aber immer sehr müde, da haben wir erst um sieben Uhr abends angefangen. Kalt heute, nicht wahr? Selbst an einem kalten und feuchten Abend wie diesem müssen wir hier draußen stehen und kochen.

Eigentlich ist mir das egal. Das Schlimmste an diesen kalten Tagen ist das Geschirrspülen. Nach Verkaufsschluß müssen wir den Stand und alles saubermachen, und von dem eiskalten Wasser werden meine Finger ganz starr. An einem Abend wie heute bleiben die Leute auch lieber zu Hause, als daß sie sich draußen was zu essen holen. Im Sommer ist es freilich nicht besser. Bei der Hitze und dem Dampf aus den Töpfen glaubt man eher in den Töpfen zu stehen als davor. Und auch die Mücken sind sehr lästig.

Für diesen Job braucht man viel Zeit und Kraft, und mich laugt die Arbeit aus. Dieses ständige Schnippeln und Tragen von schweren Essensbehältern verursacht Schmerzen in meiner Brust, und mein Mitarbeiter hat Probleme mit seinen Händen. Ich wache oft vor Brustschmerzen auf, aber mein Mitarbeiter ist noch schlimmer dran. Wegen des Tragens schwerer Lasten mußte er schon zweimal an den Händen operiert werden. Wenn ich nicht solche Schulden hätte, würde ich nicht so hart arbeiten, oder halten Sie mich für blöd?

Eigentlich sind die Schulden die meines Mannes, aber er behandelt mich sehr schlecht. Ich wünschte, ich hätte mir nie dieses Geld von meiner Mutter geliehen, um seine Schulden zu bezahlen. Meine Mutter macht mir da zwar keinen Streß, sie kommt schon zurecht, und ich muß es auch nicht gleich zurückzahlen -- aber das Geld ist ihr Notgroschen für ihren Lebensabend. Ich werde es ihr auf jeden Fall zurückzahlen, sobald ich kann.

Ich rede nicht gern über meine Ehe. Aber wenn andere Leute sich durch meine Geschichte in ihrer Ehe mehr Mühe geben, dann lasse ich sie gerne daran teilhaben. Meine Ehe war tragisch. Immer wenn mein Mann besoffen war oder beim Glückspiel verlor, hat er mich geschlagen. Einmal hätte er mich fast zu Tode geprügelt. Drei meiner Rippen waren gebrochen und meine Milz schwer beschädigt. Der Arzt sagte, wäre ich älter gewesen, wäre ich gestorben.

Als ich im Krankenhaus lag, schnappte sich mein Mann meinen persönlichen Unterschrifts-Stempel und ließ sich die auf meinen Namen eingetragene Wohnung auf sich selbst überschreiben. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war ich zu schwach zum Arbeiten. Mein Mann gab mir pro Monat nur 1000 NT$ (55 DM) für mich, die Kinder und alle Haushaltsausgaben -- das war seine Art, "Wirtschaftssanktionen" zu verhängen. Ohne meine Mutter wären wir verhungert: Sie brachte meinen Kindern zu essen. Sie weinte oft und rief, "du bist so ein gutes Mädchen, warum mußt du so leiden?", und dann schämte ich mich, daß ich ihr so viel Kummer bereitete.

Früher war ich wohl ganz schön dumm. Obwohl mein Mann so schlecht zu mir war, versuchte ich immer noch eine gute Ehefrau zu sein und seine Schulden zu bezahlen. Ich kümmerte mich gut um die Kinder und habe das Haus immer picobello sauber gehalten. Ich klammerte mich an die Hoffnung, daß er mich eines Tages endlich wie einen Menschen behandeln würde, aber er hat mir immer wieder das Herz gebrochen. Darum beschloß ich schließlich, ihn zu verlassen. Meine Kinder fehlen mir sehr. Immer wenn ich an sie denke, zerreißt es mich. Ich würde sie so gerne sehen und für sie sorgen! Aber meinem Mann sind unsere Eheprobleme schnuppe. Keiner kann mir helfen. Ich kann mir noch nicht einmal einen Anwalt leisten. Ich weiß weder ein noch aus.

Trotzdem glaube ich, daß ich mit Buddhas Hilfe einen Ausweg finden werde, so wie damals nach meiner Ankunft in Taipei. Ich war hier fremd und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Die ganze Zeit zermarterte ich mir das Hirn über meine Zukunft. Eines Tages sah ein Freund von mir einen Werbezettel mit einem Mietangebot für den Platz, an dem wir jetzt stehen, und er riet mir, zuzugreifen. Zuerst hielt ich das für eine Schnapsidee, weil sie 15 000 NT$ (830 DM) Miete und zusätzlich 1000 NT$ (55 DM) für Wasser und Strom verlangten, dabei ist das ja nur ein kleiner Platz, etwa drei Quadratmeter. Mein Freund war aber überzeugt, daß es ein idealer Ort sei, weil durch den 24-Stunden-Supermarkt jede Menge Kunden vorbeikämen und der Platz nachts gut beleuchtet und daher sicher sei. Also lieh ich mir das Geld und kam ins Geschäft.

Von einer Verwandten lernte ich die Zubereitung der meisten Speisen. Am Anfang schmeckten sie noch nicht so gut. Am ersten Tag verdienten wir nur 3000 NT$ (165 DM), und ich befürchtete, daß wir nicht lange durchhalten würden. Aber dann hatte ich einen Traum, in dem ich diesen herrlichen Duft roch. Sofort nach dem Aufwachen wetzte ich in die Küche und konnte irgendwie diese Rezepte kreieren. Der Duft lockt viele Passanten an, und das Geschäft läuft jetzt viel besser. Im Vergleich mit unserem ersten Tag hat sich unser Verdienst verdoppelt. Selbst wenn man unsere monatlichen Kosten von 50 000 bis 60 000 NT$ (2700 bis 3300 DM) abzieht, habe ich immer noch genug Geld für die Abzahlung der Schulden übrig. Ich glaube fest daran, daß Buddha dieses Wunder vollbracht hat, und bin zutiefst dankbar dafür.

Der Buddhismus hat mir immer Kraft gegeben. Ich weiß nicht, ob ich ohne den Glauben all diese Leiden ertragen könnte. In meiner Freizeit gehe ich zu einer buddhistischen Gemeinde und lese Sutras. Dank Buddhas Lehre kann ich meinen Geist läutern und finde genug Kraft zum Weitermachen. Früher habe ich mich immer gefragt, warum ich es so schwer habe. Ich habe nie jemandem wehtun wollen. Wenn ich Menschen in Schwierigkeiten sehe, fühle ich mit ihnen und helfe ihnen gerne. Heute weiß ich, daß Buddha mich durch diese Mühsal die Dinge lehren will, die ich in meinen früheren Leben nicht gelernt habe. Das Leiden ist also eine Form der Gnade.

[In diesem Moment kommen eine Frau und ein Schuljunge zu dem Stand. Der Junge zeigt Frau Yeh eine Bescheinigung, und sie sagt: "Gut, such dir was aus, ist umsonst." Die beiden wählen etwas aus und nehmen es mit.]

Die beiden sind mir schon vor einer Weile aufgefallen. Die Frau fragte bei jedem Besuch nach den Preisen der Waren und nahm dann das Billigste. Einmal kam der Junge allein, und ich fragte ihn über seine Familie aus. Er erzählte mir, sein Vater sei tot und die Mutter krank, und sie wohnten bei seinem Onkel. Ein heranwachsender Junge muß viel essen. Ich wußte, wie gern er mal ein paar von meinen anderen Sachen probieren wollte, also gab ich sie ihm billiger. Ich fragte ihn, ob er denn auch fleißig lerne und gute Noten habe. Er sagte ja, und bei der letzten Klassenarbeit sei er der Drittbeste gewesen. Ich sagte ihm, wenn er das beweisen könne, bekäme er von mir was extra. Seitdem läuft das so, und darum hatte er jetzt auch diese Bescheinigung dabei.

Für mich sind alle Kunden Freunde, und die meisten sind auch sehr nett. Wenn gerade viele Kunden da sind und wir alle Hände voll zu tun haben, mopsen manche Leute schon mal einen Spieß oder ein Hühnerherzchen, aber das kümmert mich nicht sehr. Ich möchte, daß alle meine Kunden zufrieden sind. Kunden sind Freunde, und Freunde sind wichtig für mich. Als sich meine Ehe verschlechterte, haben Freunde mir geholfen. Als ich meine Familie verließ und hierherkam, haben mir wieder Freunde ihre Hilfe angeboten, und ich bin ihnen allen sehr dankbar. Freundschaft zählt viel bei mir.

Das hier ist zwar wirklich nicht mein Traumjob, aber ich kann davon leben und meine Schulden bezahlen. Ich will aber nicht den Rest meines Lebens abends auf der Straße Snacks verhökern. Das ist nur eine Etappe. Im Moment jedoch bedeutet "Leben" für mich, daß ich hier stehe, das muß ich akzeptieren. Aber sobald ich meine Schulden beglichen und genug gespart habe, such' ich mir einen bequemeren Job, damit ich mehr Zeit und Energie habe, um meinen Freunden oder sogar anderen Leuten zu helfen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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