03.06.2025

Taiwan Today

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Die Hilfspflegerin Chung Ah-mien

01.05.1998
“Neulinge ohne Arbeitserfahrung müssen eine bis zwei Wochen lang Kurse besuchen, in denen man lernt, wie man Patienten umdreht, füttert, Injektionen verabreicht und so weiter.”
Mit ihrem kurzgeschnittenen Haar, jugendlichen Gesicht und der schlanken Figur sieht Chung Ah-mien viel jünger aus als 43 Jahre. In einem Dreibettzimmer der Kinderstation des Mackay Memorial Hospital in Taipei kümmert sie sich um einen 13jährigen spastisch gelähmten Jungen, der nicht aufrecht sitzen kann und unablässig sabbert.

In den Krankenhäusern Taiwans werden Pflichten wie Füttern, Baden und sonstige Patientenpflege -- manchmal sogar die Verpflegung -- oft von Verwandten oder einer Hilfspflegerin übernommen, die für 12- bis 24-Stunden-Schichten in der Klinik bleibt. Die Arbeit als Hilfspflegerin gilt als öde und unappetitlich, aber Chung scheint es Spaß zu machen. Vor drei Jahren ließ sich ihr Ehemann nach langer Trennung von ihr scheiden und heiratete eine andere Frau. Chung hat das Sorgerecht für zwei Töchter, ihr Ex-Mann für den Sohn.

Ich arbeite seit zwölf Jahren als Hilfspflegerin. Vorher lebten mein damaliger Mann und ich in Fengyuan (Zentraltaiwan), wo ich in einer Ventilatorenfabrik arbeitete. Nachdem wir uns getrennt hatten, zog ich 1984 nach Taipei und mietete mir ein Zimmer. Ich stand immer um vier Uhr morgens auf und arbeitete als Teilzeitkraft für die Stadt, und zwar bis halb sieben morgens als Straßenfegerin [ein Wohlfahrtsjob für bedürftige Bürger]. Um acht Uhr morgens begann meine zweite Arbeit des Tages, nämlich Haushälterin bei einer Familie in Taipei. Das dauerte bis sechs oder acht Uhr abends. Ich mußte drei Etagen des Hauses putzen, das Mittagessen für die Familie und die ihrer Tochter kochen und für alle die Wäsche waschen.

Weil die Haushälterin vor mir ihren Job bei der Familie aufgegeben hatte und Hilfspflegerin im Taipei Veterans General Hospital geworden war, dachte ich über einen ähnlichen Schritt nach. Ich hatte einmal gesehen, wie ein paar Leute -- vielleicht Sozialarbeiter -- auf der Straße einen kranken Obdachlosen versorgten. Das machte mich neugierig, und außerdem bewunderte ich ihre Güte. Ich sehnte mich danach, eines Tages anderen Menschen mehr helfen zu können.

Dann las ich die Annonce einer Familie, die eine Hilfspflegerin suchte. Ich nahm den Job an und betreute in 12-Stunden -Schichten einen Schlaganfall-Patienten im Haus seiner Familie für 700 NT$ (38 DM) am Tag. Es ist natürlich auch nicht einfach, sich um einen einzelnen Patienten zu kümmern. Manche sind freundlich, manche nicht -- Glücksache.

Später arbeitete ich für eine Agentur, die Hilfspflegerinnen an die Universitätsklinik Taipei vermittelte. Die Agentur hängt Anzeigen in der Klinik aus, bietet Familien unsere Dienste an und kassiert für die Vermittlung der Stelle einen Anteil des Lohnes der Hilfspflegerin.

Während der Pflege für einen stationären Patienten habe ich kaum Zeit für mich selbst. Wenn ich nachts nicht genug Schlaf bekomme, mache ich nachmittags ein kurzes Nickerchen. Wenn ich mit Freunden schnacken will, benutze ich den öffentlichen Fernsprecher im Flur. Zur Mittagszeit kann ich für eine Weile weg, muß mich jedoch erst im Schwesternzimmer abmelden. So ist das Dasein einer Hilfspflegerin, und ich habe mich daran gewöhnt.

Für diesen Job braucht man eigentlich keine besonderen Qualifikationsnachweise, aber die Agentur schreibt die Absolvierung gewisser Kurse vor. Neulinge ohne Arbeitserfahrung müssen eine bis zwei Wochen lang Kurse besuchen, in denen man lernt, wie man Patienten umdreht, füttert, Injektionen verabreicht und so weiter. Geübt wird sowas mit Plastikpuppen. Der Kurs kostet nichts, aber hinterher geben wir der Agentur normalerweise einen Anteil von unserem Lohn.

Jeder Patient ist anders. Ich weiß vorher nie, welche Probleme mich erwarten, so daß ich zwischen den einzelnen Aufträgen sehr unter Druck stehe. In der Nacht vor der Übernahme eines neuen Patienten kann ich oft nicht schlafen. Nach der Entlassung meines Patienten aus dem Krankenhaus ruft mich die Agentur an und bietet mir einen neuen Fall an. Den lehne ich in der Regel nicht ab, denn sonst würde die Agentur denken, ich wolle nicht arbeiten, und würde mich bei meiner nächsten Anfrage um Arbeit einfach übergehen. Manchmal verlangt eine Familie jedoch zuviel, oder der Patient ist zu wählerisch, und sowas ist sehr anstrengend. In solchen Fällen bitte ich die Familie, über die Agentur eine andere Pflegerin zu suchen, aber das hängt von ihrem guten Willen ab. Manche Familien haben einfach kein Verständnis und lassen mich nicht gehen. Das deprimiert mich immer sehr.

Meistens erfahre ich von der Agentur vorher keine Details über den nächsten Fall, weder Alter, Geschlecht oder Krankheit des Patienten. Ich suche mir die Patienten auch nicht selber aus, weil ich nicht will, daß die Agentur mich für arbeitsscheu hält. Selbst wenn ich mich total ausgelaugt fühle, arbeite ich noch eine Weile weiter und bitte dann die Agentur um Ablösung.

Ich habe schon in vielen verschiedenen Stationen gearbeitet, darunter auch Chirurgie und Kinderstation. Der Junge hier, um den ich mich derzeit kümmere, macht mir keine besonderen Probleme. Ich muß ihn nur füttern, seine Windeln wechseln, ihn baden und sein Gesicht sauberhalten. Manche der älteren Patienten sind natürlich schon schwieriger. Entweder ächzen sie die ganze Nacht oder wollen nicht auf den Lokus, verweigern auf der anderen Seite aber auch Windeln.

Meine beiden Töchter besuchen jetzt das Gymnasium und sind sehr vernünftig. Wenn ich mich ganztags um einen Patienten im Krankenhaus kümmere, holen sie sich normalerweise ihr Essen von Imbißständen oder kochen sich selbst einfache Mahlzeiten zu Hause. Wenn sie Zeit haben, kommen sie auf einen Plausch zu mir in die Station.

In diesem Job arbeiten nur wenige Männer. Als ich in den Universitätskliniken gearbeitet habe, gab es nur einen einzigen männlichen Pfleger. In meiner jetzigen Agentur gibt es mehrere, alles Filipinos. Inzwischen arbeiten auch viele Frauen von den Philippinen in dieser Agentur. Die kriegen das gleiche Honorar wie wir, nämlich 1100 NT$ (61 DM) für eine 12-Stunden -Schicht. Das berührt natürlich auch in gewisser Weise unsere Jobchancen. Von unserem Gehalt behält die Agentur pro Tag 150 NT$ (8,30 DM) ein.

Männliche Patienten behandle ich normalerweise wie einen Vater oder Bruder. Einmal hatte ich aber schlechte Erfahrungen mit einem etwa 70jährigen Vater eines Arztes. Immer wenn ich ihn badete, ihn im Rollstuhl durch die Gegend schob oder Medikamente verabreichte, fing er an, an mir rumzufummeln. Daraufhin ließ ich die Tür des Krankenzimmers immer weit offen. Ich beschwerte mich bei seinem Sohn, aber der weigerte sich zu glauben, daß sein Vater so ein Typ war. Tatsächlich hatte mich die frühere Hilfspflegerin des Alten gewarnt, aber ich hatte sie nicht ernst genommen. Es war sehr schwer für mich, denn der Kerl durfte ja nicht runterfallen, aber gleichzeitig mußte ich mir auch seine Hände vom Leib halten.

Solche Patienten habe ich glücklicherweise nicht oft. Ich weiß natürlich, daß ich einen unsympathischen Patienten auch ablehnen kann. Wenn aber gerade keine andere Hilfspflegekraft verfügbar ist, drängt mich die Agentur, den Fall doch zu übernehmen. Im allgemeinen arbeite ich am liebsten in Zwei- oder Dreibettzimmern, denn da wird man nicht so leicht belästigt. Wenn ich ausschließlich für Frauen und Kinder arbeiten wollte, müßte ich manchmal lange auf Patienten warten, und ich brauche den Job.

Ich hatte auch sehr liebe Patienten. Kurz bevor ich mit der Pflege dieses Jungen hier anfing, betreute ich einen älteren Herrn um die siebzig. In den ganzen zwei Monaten hat er mich nachts nie aufgeweckt. Er benutzte das tragbare Urinal immer selbständig und bedeckte es mit einer Zeitung, so daß ich es am nächsten Morgen reinigen konnte. Beim Gedanken daran bin ich so voller Dankbarkeit, daß immer für ihn da sein werde, wenn er mich noch einmal brauchen sollte.

In meiner Freizeit erledige ich meine eigenen Haushaltsangelegenheiten und höre mir dabei Cassetten mit buddhistischen Sprechgesängen an. Ich gehe auch gerne in den Teebergen bei Mucha (Südtaipei) oder am Ufer des Chingmei-Flusses in der Nähe meiner Wohnung spazieren. Die Wohnung habe ich mir vor zwei Jahren gekauft, und wenn ich den Bankkredit zurückgezahlt habe, möchte ich nur noch tagsüber arbeiten. Von den 24-Stunden-Schichten habe ich genug. Bei solch langen Arbeitszeiten leidet man auf die Dauer an chronischer Erschöpfung.

Eine Hilfspflegerin muß zäh und geduldig sein. Wenn es mir zuviel wird, bitte ich um Ablösung und bleibe zu Hause, bis ich mich besser fühle. Das dauert manchmal zehn bis zwanzig Tage. Danach arbeite ich weiter wie gehabt.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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