“Ich besuche Tempel, weil ich hoffe, damit mein Schicksal zu verbessern”, bekennt Yu Chun-po aus Taipeh, der letztes Jahr zwei Mal in einen Tempel ging, als sein Leben nicht gut verlief. “Ich weiß nicht, ob es buddhistische oder taoistische Tempel waren. Ist mir eigentlich auch egal, das spielt keine Rolle.” Yu ist nicht der Einzige, der Schwierigkeiten beim Unterscheiden der beiden Religionen hat. “ Allgemein machen die Menschen hier keinen Unterschied zwischen Buddhismus und Taoismus”, weiß Huang Ching-sheng, Leiter der Sektion für Religionsfragen in der Abteilung für Verwaltungsangelegenheiten des Innenministeriums der Republik China. “Manche Tempel wie der Lungshan-Tempel in Taipeh haben auf ihren Altären sogar Gottheiten von beiden Religionen.”
Auch wegen der langen Geschichte des Taoismus hatte diese Religion vermutlich mehr Einfluss auf chinesische Gesellschaften als sonst eine andere Religion. Die von Chang Tao-ling(張道陵) geführte Bewegung datiert zurück bis in die Östliche Han-Dynastie (25-220 n. Chr.) und ist die älteste von Chinesen geschaffene Religion. Im Laufe der Zeit begannen viele Menschen, Gottheiten zu verehren, ohne zu wissen, ob sie überhaupt zur Familie taoistischer Gottheiten gehörten. Bei den verschiedenen Göttern gibt es außerdem oft Überschneidungen, weil viele von ihnen auch zu einer Volksreligion gehören. Die Grenzen sind so unscharf, dass manche Gläubige sich eher als Anhänger eines bestimmten Gottes betrachten und weniger als Taoisten, und manche Menschen halten sich (fälschlicherweise) für Buddhisten, nur weil sie Tempel besuchen und mit Räucherstäbchen Andacht halten.
Die Konfusion hat ihren Ursprung in der mangelnden Organisation des Taoismus. “Im Vergleich dazu sind buddhistische Organisationen aktiver und haben mehr Präsenz in den Massenmedien, deswegen ist den Taiwanern der Einfluss des Taoismus nicht so bewusst”, bemerkt Lee Fong-mao, Wissenschaftler am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica. Vielleicht auch wegen der pantheistischen Tendenzen waren im Jahr 2000 über 8500 taoistische Tempel in Taiwan gemeldet, aber nur 4000 buddhistische. “Die Zahl der taoistischen Gottheiten nimmt weiter zu, weil ständig neue kleine und große Götter dieser Kategorie hinzugefügt werden”, doziert Lee. “Die meisten von ihnen werden wegen ihrer Beiträge zur Gesellschaft zu Göttern erklärt.” Matsu(媽祖) zum Beispiel lebte von 960 bis 988 auf der küstennahen Insel Meizhou (Provinz Fujian) und ist als die Schutzpatronin der Seeleute vielleicht die am meisten verehrte Gottheit Taiwans. Ebenfalls beliebt ist Kuan Yu (關羽,160-219), ein berühmter Krieger aus der Zeit der Drei Reiche (221-280).
Eine andere verbreitete Religion in Taiwan ist I-kuan Tao(一貫道), die Religion der Einen Einheit. Sie entstand während der Qing-Dynastie (1644-1911) in der nordostchinesischen Provinz Shandong und wurde nach der Befreiung Taiwans vom japanischen Kolonialjoch 1945 auf der Insel eingeführt. Nach den Worten von Hsiao Chia-chen, stellvertretender Generalsekretär des I-kuan Tao-Verbandes der Republik China, hat I-kuan Tao einige seiner Grundprinzipien vom Konfuzianismus, Buddhismus, Taoismus, Christentum und Islam abgeleitet. “Gute Gedanken sollten für alle Menschen da sein, egal welchen Glaubens”, fordert er. Heute hat I-kuan Tao in Taiwan rund 800 000 Anhänger.
Im religiösen Umfeld der Insel spielt auch das Christentum keine unwesentliche Rolle. Die Presbyterianische Kirche war schon vor 1949 auf Taiwan vertreten, als die Christen von den Kommunisten vom Festland vertrieben wurden, berichtet Chen Chi-rong, Vorsitzender der Religionsabteilung der Aletheia University in Tansui, Landkreis Taipeh. “Zahlreiche christliche Priester verschiedener Konfessionen kamen damals vom ganzen Festland nach Taiwan, und so wurde die Insel plötzlich eine Heimstätte vieler christlicher Glaubensrichtungen. Das war schon eine ungewöhnliche Situation.” Aus verschiedenen Gründen wie Finanzschwierigkeiten verschwanden einige von ihnen später wieder. Nach Angaben des Innenministeriums leben heute fast 900 000 Christen auf Taiwan, etwa 8,3 Prozent der religiös gläubigen Bevölkerung. Von ihnen sind 593 000 Protestanten und 304 000 Katholiken.

Sicherlich ist das Christentum in Taiwan lange nicht so verbreitet wie im Westen. “Das größte Hindernis für die christliche Mission ist, dass die Gläubigen keine Rituale zur Ahnenverehrung vollziehen dürfen”, analysiert Chen. “Der Ahnenkult hat für die Chinesen große Bedeutung, wird von den Christen aber als heidnischer Brauch abgelehnt.” Während die katholische Kirche ihren Schäfchen die Durchführung solcher Rituale gestattet, erachtet die protestantische Kirche diese Tradition immer noch als tabu, auch wenn in den letzten Jahren eine Diskussion darüber begonnen hat. “Das Christentum ist auch deswegen schwer mit der hiesigen Kultur in Einklang zu bringen, weil es als prophetische Religion gilt”, verrät Chang Chun-shen, katholischer Priester am Priesterseminar der katholischen Fu-jen University in Taipeh. “Die Gläubigen müssen Gottes Wort annehmen und ihm folgen. Sie wollen aber eher die nötige Weisheit entwickeln, um im Alltagsleben zurechtzukommen.”
Nach Changs Ansicht versuchen die Christen ihre Religion weniger prophetisch und dafür attraktiver zu machen. Dabei könnten sie sich auch nach blühenden protestantischen Konfessionen wie der Brot des Lebens”-Kirche (靈糧堂)richten. “Deren Anhänger sind eher bereit, in die Kirche zu gehen, als Anhänger traditioneller Konfessionen einschließlich Katholiken”, meint er. Chen Chi-rong von der Aletheia University hat diesen Trend ebenfalls schon bemerkt. Nach seinen Worten sind manche relativ neue Kirchen unabhängiger und haben eine größere Anziehungskraft auf die junge Generation. “Anders als bei den traditionellen Kirchen sind ihre Gemeindeveranstaltungen voller Leben”, enthüllt er. “Beim Singen der Kirchenlieder haben sie Live-Musik.” Um mit den heutigen Trends Schritt zu halten, folgte die Presbyterianische Kirche diesem Beispiel und ist weiterhin die größte protestantische Konfession der Insel. Zu den 420 000 Mitgliedern gehört auch der frühere Staatspräsident Lee Teng-hui(李登輝).
Wie jede Demokratie ist auch die Republik China stolz auf ihre Religionsfreiheit, ein Grundrecht aller ihrer Bürger. Bisher sind bei der Abteilung für Verwaltungsangelegenheiten des Innenministeriums 17 Religionen gemeldet. Tai wan war allerdings nicht immer ein Tummelplatz für religiöse Entwicklung. Während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) versuchte die Kolonialverwaltung, den Taoismus systematisch zu unterdrücken, weil er als ein Ausdruck von (unerwünschtem) chinesischen Patriotismus angesehen wurde. Zur Vermeidung von Verfolgung tarnten viele taoistische Tempel sich als buddhistische Andachtsstätten und führten auch bestimmte buddhistische Zeremonien durch, um den Schein zu wahren. Nach 1945 kehrten diese Tempel zu ihren echten taoistischen Praktiken zurück. Während des Bürgerkrieges zwischen chinesischen Nationalisten und Kommunisten auf dem Festland (1945-1949) flüchteten zahlreiche festlandchinesische taoistische Priester nach Taiwan, unter ihnen Chang En-pu(張恩溥). Er gründete 1950 eine taoistische Gemeinschaft, und seitdem ist der Taoismus auf Taiwan eine organisierte Religion.
Ein jüngeres Beispiel religiöser Unterdrückung findet sich in der Geschichte von I-kuan Tao. Wie viele religiös Gläubige floh auch eine Gruppe von I-kuan Tao-Anhängern um 1949 vom Festland nach Taiwan. Indes war damals, unmittelbar nach der Niederlage im Bürgerkrieg, unter der autoritären Herrschaft Chiang Kai-sheks (蔣介石,1887-1975) die Angst vor kommunistischer Infiltration groß, und die KMT-Regierung schöpfte Verdacht gegenüber der Sekte, weil ihre Rituale unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. 1953 wurden alle I-kuan Tao-Aktivitäten offiziell verboten. Die Regierung und die von ihr kontrollierten Medien entfesselten eine Schmierenkampagne gegen die Gruppe und diffamierten sie als böse und unmoralisch. Es wurde auch fälschlicherweise über die Religionsgemeinschaft behauptet, die Anhänger müssten ihre Andachten nackt halten. Wegen Teilnahme an einer I-kuan Tao-Veranstaltung wurde Hsiao Chia-chen in den siebziger Jahren fünf Tage lang inhaftiert.

Matsu, die Schutzgöttin der Seeleute, ist eine der am meisten verehrten Göttinnen Taiwans. Ihre Anhänger würden sich selbst aber wahrscheinlich nicht als Taoisten bezeichnen.
“Je härter die Verfolgung, desto entschlossener war ich, an meinem Glauben festzuhalten”, berichtet Hsiao und fügt hinzu, dass I-kuan Tao trotz der repressiven Atmosphäre überleben konnte. Führungspersönlichkeiten, die die Religion erhalten wollten, predigten im Ausland. Nach dem Beginn der Liberalisierung hob die Regierung 1987 das Verbot gegen I-kuan Tao auf, und im gleichen Jahr endete auch das Kriegsrecht in der Republik China. “I-kuan Tao ist viele Jahre lang unterdrückt worden, aber ich hege keinen Groll gegen die Regierung”, erklärt Hsiao. Interessanterweise betrachten nach seinen Worten andere neue Religionen I-kuan Tao als eine Art Pionier, weil sie von der Regierung unterdrückt wurde, bevor die Gesellschaft sie akzeptierte.
Um für den Betrieb religiöser Gruppen -- auch im Hinblick auf das Finanzgebaren -- einen klaren gesetzlichen Rahmen zu bieten, lud die Regierung Führungspersönlichkeiten der wichtigsten Religionen in Taiwan zur Mitarbeit am Entwurf eines Gesetzes für Religionsorganisationen ein, das im Juni vollendet und veröffentlicht wurde. Der Entwurf umfasst 33 Artikel, einer von ihnen enthält die Klausel, dass die Regierung die Registrierung einer religiösen Gruppe annullieren kann, wenn diese in schwerwiegende gesetzwidrige Aktivitäten verwickelt ist wie Glücksspiel, Gewalt oder Pornografie. Zusätzlich muss eine religiöse Gruppe vorab die Erlaubnis der Regierung einholen, wenn sie einen bestimmten Betrag beweglichen Eigentums an eine andere Partei oder Firma übertragen will. In der Vergangenheit war nur die Übertragung von Immobilien und Grundbesitz meldepflichtig. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen stehen auch die Verwaltungsbemühungen, die Sektion für Religionsfragen in der Abteilung für Verwaltungsangelegenheiten im Innenministerium zu einer eigenen Abteilung auszubauen. Dieser Vorschlag wurde bereits in erster Lesung vom Parlament der Republik China gebilligt.
Insgesamt genießen religiöse Gruppen in Taiwans Öffentlichkeit ein positives Image. Der offensichtlichste Ausdruck ihrer Nächstenliebe sind vielleicht ihre verschiedenen Organisationen für soziale Wohlfahrt. In dieser Hinsicht haben die katholische und die protestantische Kirche Beeindruckendes vorzuweisen. Im Jahr 2000 unterhielten sie 26 Krankenhäuser, also die Hälfte aller von religiösen Einrichtungen in Taiwan betriebenen Hospitäler. Es gibt auch 6 Reha-Zentren und 10 Institutionen für Behinderte, alle von Christen geleitet. Außerdem hat die katholische Kirche hier mehr Kindergärten (199), Zentren für geistig Behinderte (21) und Altenpflegeheime (10) als jede andere religiöse Gruppe.
I-kuan Tao hat bis jetzt 21 Krankenhäuser eingerichtet, im Vergleich mit den Bemühungen anderer buddhistischer und taoistischer Gruppen eine eindrucksvolle Leistung. “Bei der Einrichtung von Krankenhäusern und anderer Wohlfahrtseinrichtungen sind die Christen aktiver”, lobt Hsieh Ching-kuei, stellvertretender Direktor der Abteilung für Religionsfragen der Stiftung Tzu-chi(慈濟), einer 1966 gegründeten karitativen buddhistischen Organisation. Bei den Buddhisten geht es aber auch voran. 1986 wurde im Osten Taiwans das Hualien Tzu-chi General Hospital eröffnet, das erste buddhistische Krankenhaus der Insel. 14 Jahre später folgte im westtaiwanischen Chiayi die Eröffnung von Tzu-chis zweiter Klinik. Die Stiftung will in naher Zukunft im Norden und in Zentraltaiwan ein drittes und viertes Krankenhaus bauen. Tzu-chi gründete auch die ersten beiden buddhistischen Colleges der Insel, 1989 eins für Kranken- und Altenpflege und 1994 eins für Medizin. Diese Institutionen wurden inzwischen zur Technischen Hochschule Tzu-chi und zur Tzu-chi University aufgewertet.

Im Gegensatz zu anderen buddhistischen Gruppen ist Tzu-chi sehr bei Wohltätigkeitsarbeit im In- und Ausland engagiert. “Tzu-chi bietet den Taiwanern eine Möglichkeit zum Ausdruck des Mitgefühls, denn die Stiftung ist sehr zuverlässig”, wirbt Hsieh Ching-kuei. Diese Zuverlässigkeit wurde von der Bevölkerung besonders nach dem verheerenden Erdbeben am 21. September 1999 in Zentraltaiwan zur Kenntnis genommen. Die Gruppe sammelte eine kolossale Summe an Spendengeldern, und gemeinsam mit vielen anderen religiösen Gruppen bot Tzu-chi den überlebenden Erdbebenopfern nicht nur materielle Güter, sondern auch spirituelle Hilfe an. Die Spendenflut und die effiziente Verteilung der Hilfsgüter waren ein klares Beispiel dafür, wie eine religiöse Gruppe eine Schlüsselrolle in der Gesellschaft spielen kann.
Für ihre wohltätige Hilfsarbeit hat die Stiftung Tzu-chi in den letzten zehn Jahren viel internationales Lob geerntet. Ein Teil dieser Anerkennung beflügelte auch eine Art buddhistischer Bewegung auf der ganzen Welt -- die Stiftung hat in den letzten 12 Jahren über 130 Niederlassungen in 34 Ländern eröffnet. Die Beliebtheit des Buddhismus außerhalb der Insel wuchs auch unter der Leitung von Meister Hsing Yun(星雲), dem Gründer von Fo-guang Shan(佛光山), einer bedeutenden religiösen Gruppe in Taiwan. 1988 wurde der große Hsi-lai-Tempel in Los Angeles fertig gestellt, und 1995 eröffnete Fo-guang Shan in Sydney den größten Tempel der Südhalbkugel. Fo-guang Shan ist auch in Amsterdam vertreten, wo vergangenes Jahr Europas erster Tempel im chinesischen Stil gebaut wurde.
Die früher verfolgte Glaubensgemeinschaft I-kuan Tao, die ihr internationales Hauptquartier 1996 in Los Angeles aufschlug, betreibt überwiegend in überseechinesischen Gemeinden aktive Missionierungsarbeit. “I-kuan Tao passt zu diesen Menschen, weil sie zur Bewahrung chinesischer Kultur und Traditionen beiträgt”, charakterisiert Hsiao Chia-chen. Nach seinen Worten fördert I-kuan Tao nachdrücklich traditionelle chinesische Werte wie kindlicher Gehorsam und Treue, und die Anhänger rezitieren Passagen aus bestimmten bekannten Büchern wie den Gesprächen des Konfuzius(論語). “Sobald wir auf dem chinesischen Festland unbeschränkt für I-kuan Tao werben können, werden wir dort bestimmt schnell wachsen”, glaubt er. “Festlandchina muss die kulturelle Lücke füllen, die die Kulturrevolution (1966-1976) hinterlassen hat.”
Anders als auf dem chinesischen Festland sind in Taiwan zahlreiche Religionen lebendig, und einige von ihnen wurden mit Erfolg in alle Welt verbreitet. Und anders als in manchen Ländern herrscht auf der Insel eine religiöse Toleranz, die zu der Harmonie zwischen den verschiedenen Gruppen beiträgt. “Jede Religion kann sich um die Stärkung ihrer Kongregation bemühen und gleichzeitig gut mit den anderen Gruppen auskommen”, freut sich Huang Ching-sheng vom Innenministerium. Manchmal sind die Unterschiede zwischen den Religionen sogar für die Gläubigen schwer erkennbar, wie bei Buddhismus und Taoismus. Und in einer Hinsicht gibt es vielleicht sogar überhaupt keinen Unterschied zwischen diesen beiden und allen Religionen, solange die Anhänger Trost in ihrem Glauben finden.