Taiwans Ureinwohner haben keine eigene Schrift, daher waren die dekorativen Muster ihrer farbenprächtigen Trachten ein wichtiges Mittel für die Erhaltung und Weitergabe ihrer Stammestraditionen. Nach einem Niedergang der Webkunst ab den sechziger Jahren tragen neueste Bemühungen um die Wiederbelebung der alten Handwerkskünste ihre Früchte.
In der westlichen Küstenebene, hoch im Bergland des Zentralmassivs, an der gebirgigen Ostküste, überall dort errichteten Taiwans Ureinwohner austronesischer Abstammung in üppig von der Natur gesegneten Landschaften ihre Stammesgesellschaften. Sie glaubten, dass der Wind Farbe herbeibliese, dass der Rauch Nachrichten trüge und dass die Sonne jeden Abend den Himmel färbte, damit die Menschen vor der Sonnenruhe noch nach Hause eilen konnten. Die Geister der Ahnen betrachteten sie als ihre ewigen Schutzgötter, die sie zu allen Zeiten beobachteten. Männliche Ureinwohner wollten Krieger werden und glaubten, ein tapferes Herz verliehe einem Mann Stolz und Würde. Die im Haushalt und bei der Landarbeit tüchtigen Stammesfrauen waren beim Weben und Nähen besonders versiert.
Keiner der Ureinwohnerstämme Taiwans entwickelte ein Schriftsystem zur Aufzeichnung der Ereignisse, und vielleicht war das auch nicht notwendig, denn das Leben brachte keine großen Veränderungen. Von Geburt an musikalisch und künstlerisch begabt, überlieferten die Ureinwohner ihr Erbe durch Musik, Rituale und Geschichtenerzählen -- und natürlich durch die Muster ihrer handgewebten Gewänder.
Legenden von ihrer Folklore bildeten den Kern des Ureinwohner-Weltbildes und den Hauptbezugspunkt für ihre Kunstwerke. Mit der Kleiderherstellung befriedigten sie zunächst ein Grundbedürfnis ihrer Familien, doch mit Nähen, Sticken und Weben übertrugen sie die alten Geschichten ihres Stammes in fesselnde Bilder zum Schmücken von Kleidern und Kopfbedeckung. Ohne sich dessen bewusst zu sein, machten die Frauen ihre Arbeit zu einer Methode, das Kulturerbe der Ureinwohner zu bewahren.
Dieses Erbe hielt sich auch mit dem Erscheinen neuer Materialien. Dank fortschrittlicherer landwirtschaftlicher Techniken konnten viele Ureinwohnerstämme Baumrinde und Leder bei der Kleiderherstellung größtenteils durch Ramiefasern ersetzen. Zwar entwickelte jeder Stamm eigene Motive für die erzählerischen Muster auf ihren Trachten, aber gemeinsam hatten sie geometrische Schlichtheit und Symmetrie mit farbenfrohen Mustern in rot, gelb, grün, schwarz und weiß. Anstatt Knöpfe verwendeten die Ureinwohner Bänder zum Zubinden ihrer einfach geschnittenen, gut gewebten und rechtwinklig gemusterten Kleidungsstücke.

Die Puyuma bevorzugen auf ihren Trachten die Eleganz von Kreuzstich und mehrlagigen Karomustern.
Diese Gemeinsamkeiten bei individuellen Unterschieden spiegeln den Einfluss der Stämme aufeinander wider, der sich aus ihrer räumlichen Nähe ergab. Die heute offiziell anerkannten zehn Stämme -- Ami阿美 , Atayal泰雅, Bunun布農, Paiwan排灣, Puyuma卑南, Rukai魯凱, Saisiyat賽夏, Thao邵, Tsou曹 und Yami雅美, dazu noch acht Untergruppen, die man heute zur Kategorie der Flachland -Ureinwohnerstämme (pingpu) zusammenfasst -- hatten jeweils eine reife Stammesgesellschaft und schufen damit eine verblüffende kulturelle Vielfalt auf einer Insel mit nur 36 000 Quadratkilometern Fläche (vgl. Baden-Württemberg: 35 751 Quadratkilometer). Jeder Stamm führte zu unterschiedlichen Zeiten des Jahres seine eigenen Rituale durch. An rituellen Festtagen legten die Stammesangehörigen ihre formellen Trachten an, und zur Feier der Ernte oder Ehrerbietung den Ahnen gegenüber wurde gesungen, getrunken und getanzt.
Unter den Stämmen gab es nur bei den Rukai und den Paiwan einen Erbadel, was die Entwicklung anspruchsvollerer Muster bei Kleidern und Accessoires zur Folge hatte. Die blaublütigen Paiwanfrauen hatten zur Perfektionierung ihrer Nähkunst mehr Zeit als das gewöhnliche Volk, und ihre Meisterwerke wurden zu einem Kennzeichen ihrer sozialen Schicht. Der Legende nach war der Gründerhäuptling in Wirklichkeit eine Schlange in Menschengestalt -- und zwar eine hochgiftige Viper mit dem anschaulichen chinesischen Namen "Hundert-Schritt-Schlange" (百步蛇, Agkistrodon acutus, deutsche Bezeichnung "Chinesische Nasenotter")-- und war in einer irdenen Schale als Ausgeburt einer Träne zur Welt gekommen, die von der Sonne herabfiel. [Anm. d. Übers.: Die Chinesische Nasenotter wird in Taiwan für so giftig gehalten, dass man nach allgemein verbreiteter Auffassung ihren Biss zeitlich nur so lange überleben könne, wie man für das Zurücklegen einer Entfernung von hundert Schritten brauchen würde.] Bei Sonnenaufgang am Tag der Geburt des Gründerhäuptlings als Schlange erschienen zwei Vipern, um das Neugeborene zu bewachen. Wegen dieser Legende betrachteten die Paiwan Schlangen als ihre Beschützer und verwendeten sie als dekoratives Element auf ihren Gewändern. Der Kopf der Chinesischen Nasenotter und das dreieckige Muster auf der Haut waren ebenfalls beliebte Motive. Als anderes häufiges Ornament wurden Muscheln abgebildet, ein Symbol für Geld.
Die Atayal wiederum betrachteten die Chinesische Nasenotter zwar als guten Freund, aber nicht als göttlich. Das Muster auf der Schlangenhaut hatte ihrer Auffassung nach einen anderen Ursprung: Sie hielten es für ein Abbild der Augen der Ahnengeister. Die Atayal tätowierten ihre Gesichter mit Schlangenmustern, damit die Ahnengeister sie bei der Begrüßung an der Regenbogenbrücke im Himmel von den anderen Menschen unterscheiden konnten. Kleider der Atayal haben daher häufig Streifen (wie der Regenbogen) und Perlenornamente. Die Puyuma bevorzugten die Eleganz des Kreuzstiches, gemeinsam mit einer mehrlagigen Diamantform. Es kam ihnen darauf an, dass Kleidung die Altersgruppe ihres Trägers ausdrückte und damit seinen Platz in der Gesellschaft. Junge Leute sollten einfach leben und sich schlicht kleiden, bis sie ins heiratsfähige Alter kamen.
"Die traditionellen Kostüme der Ureinwohner sind deswegen so kostbar, weil sie den kulturellen Hintergrund und die Gesellschaftsstruktur der Menschen ausdrücken", erklärt Saalih Lee, Leiterin der Erziehungs- und Ausstellungsabteilung im Nationalen Palastmuseum und Autorin mehrerer Bücher über die traditionellen Gewänder der Ureinwohner Taiwans. "Es ist faszinierend zu sehen, wie die Ureinwohner ihre Traditionen so lange und so gut bewahren konnten. Eine gute Erklärung mag sein, dass sie wahrhaftig wissen, wie man ein gutes Leben führt und wie man Ästhetik und künstlerisches Schaffen in das tägliche Leben integriert."

Dank moderner Computertechnologie sind Ureinwohnerprodukte heute erschwinglicher, doch auf der anderen Seite fehlt der Massenware auch die Authenzität von echtem Kunsthandwerk.
In ihren Büchern vertritt Lee die These, dass die traditionellen Trachten der Ureinwohner viel über die Struktur und Gebräuche der Stammesgesellschaften enthüllen. Die Gewänder hatten die Funktion, die soziale Schicht des Trägers zu zeigen und jede ihrer persönlichen Großtaten festzuhalten. Sie spiegelten auch soziale Normen wider, etwa das Beharren der Atayal darauf, dass Frauen erst die Webkunst erlernen sollten, bevor sie heiraten und sich das Gesicht tätowieren lassen durften. Zusätzlich folgte der Ablauf der Kleiderherstellung einer strengen Arbeitsteilung, bei der die Männer die Werkzeuge herstellten und beim Pflücken und Vorbehandeln der Ramiefaser halfen, doch es war ihnen streng verboten, die Webstühle zu berühren oder auch nur daran vorbeizugehen, wenn die Frauen daran arbeiteten. Die Trachten zeigen auch das Ausmaß des kulturellen Austausches mit den anderen Bevölkerungsgruppen, der schon an den verwendeten Materialien erkennbar ist, und sie sind auffällige Schaustücke von Stammesästhetik und künstlerischer Entwicklung. Zu guter Letzt repräsentieren sie auch ein Stück der Ureinwohneridentität, was besonders insofern immer stärker von Bedeutung ist, als die Traditionen heute anfälliger sind für den Druck sozialen und politischen Wandels.
Die Ureinwohnergesellschaften in Taiwan waren lange Zeit ungestört gewesen, bis die Zahl han-chinesischer Siedler vom Festland im 17. Jahrhundert zuzunehmen begann. Die Sinisierung ging indes langsam vor sich. Nach der Abtretung Taiwans an Japan im Jahre 1895 versuchten die Ureinwohner gegen die Bemühungen der neuen Kolonialherren, Kontrolle auszuüben, Widerstand zu leisten, und machten häufig Aufstände. Doch weder diese Kämpfe noch die 50-jährige japanische Besatzung der Insel konnten ihre Traditionen ernsthaft bedrohen. Die Ureinwohner lernten zwar Japanisch, gaben aber ihre Stammessprachen nicht auf. Im Laufe der Jahrhunderte waren die alten Geschichten unzählige Male weitererzählt worden und rührten immer noch die Herzen der Stammesmitglieder, und die geschickten Hände der Mütter und Ehefrauen webten stets Gewänder für ihre Familien. Viele japanische Gelehrte, die während der Kolonialzeit zum Studium der Ureinwohnerkulturen herkamen, schleppten große Mengen handgemachter Trachten mit heim, die sie den Dorfbewohnern abgekauft oder weggenommen hatten.
Nach dem Rückzug der Regierung Chiang Kai-sheks (蔣介石,1887-1975) nach Taiwan begann für die Ureinwohner eine Zeit der verstärkten Assimilierung und Abwanderung in die städtischen Ballungsgebiete. In dem halben Jahrhundert seit Beginn dieser Zeit haben die meisten Ureinwohner viel von der Lebensart und Kultur ihrer chinesischen Nachbarn übernommen. "Die Praxis traditioneller Ureinwohnerrituale kam zwischen den sechziger und achtziger Jahren fast zum Erliegen", bedauert Sun Ta-chuan (in seiner gebürtigen Puyuma-Sprache "Pa'labang" genannt), Philosophieprofessor an der Soochow Univer sity in Taipeh. "Dieser Schnitt führte zu dem Verlust einer riesigen Menge traditioneller Trachten. Viele gingen an private Sammler, ein paar wurden in die Sammlungen von Museen aufgenommen. Noch mehr sind spurlos verschwunden." Da immer mehr alte Stammesfrauen mit Fertigkeiten in der Trachtenherstellung sterben, ist die Bewahrung dieses entscheidenden Teils des Ureinwohner-Kulturerbes besonders dringlich geworden. "Die gründlichen Studien [über Ureinwohnerkunst] von japanischen Gelehrten während der Kolonialzeit stellen eine viel größere Leistung dar als alles, was wir in den letzten fünfzig Jahren geschafft haben", räumt Sun ein. "Wenn wir einen Forschungsmechanismus unter der Koordination der betreffenden Regierungsbehörden, akademischen Institutionen und Museen einrichten könnten, dann wären wir vielleicht zur Rekonstruierung der materiellen Kultur der Ureinwohner des letzten Jahrhunderts oder noch länger in der Lage."
Im Laufe der letzten zehn Jahre ist in Taiwan infolge des zunehmenden Respekts vor gesellschaftlicher Vielfalt ein neues Interesse an der Ureinwohnerkultur erwacht. Ureinwohnermusik und Sänger haben ein großes Publikum, und Ah-Mei, die derzeit beliebteste Popsängerin der Szene, ist eine gebürtige Puyuma. Immer mehr Ureinwohnerfrauen besinnen sich auf die Webkunst und Nadelarbeit, auch wenn manche alten Fertigkeiten mit früheren Generationen ausgestorben sind. Saalih Lee schätzt, dass es auf der ganzen Insel etwa 400 bis 500 Ureinwohner-Kunstateliers gibt. "Fast alle in diesen Ateliers produzierten künstlerischen Kreationen von Alltagsgegenständen verwenden von traditionellen Ureinwohnertrachten entlehnte Muster", verrät sie. "Daraus ist eine Kulturbewegung der Ureinwohner insgesamt entstanden. Die Ureinwohner müssen nicht mehr länger für Menschenrechte kämpfen, weil sie diese schon in vollem Umfang genießen. Ihre Zukunftssorgen hängen mit den wirtschaftlichen und kulturellen Aussichten zusammen."

Ein Paiwan-Bräutigam im Hochzeitsgewand. Die adligen Stammesfrauen verbesserten ihre Nähkünste als Merkmal ihres sozialen Status.
Die Kommissionen für Ureinwohnerfragen in mehreren Kreisverwaltungen führen in 23 Ureinwohnergemeinden Webkunst-Schulungsprogramme durch, und diese Programme finden bei jungen Ureinwohnern zunehmenden Anklang. Laut Chang Hsien-sheng, dem Leiter der Kulturabteilung im Rat für Ureinwohnerangelegenheiten der Zentralregierung der Republik China, gab seine Behörde vergangenes Jahr mindestens 8 Millionen NT$ (266 000 Euro) aus, um für traditionelles Kunsthandwerk zu werben und verschiedene von privaten Kunstateliers durchgeführte Schulungsprogramme zu fördern. Durch den vertrauteren Umgang mit modernen Geschäftspraktiken finden immer mehr Ureinwohner Wege, die typischen Bilder ihrer Stämme kommerziell zu nutzen. Motive aus alten Legenden erscheinen jetzt auf einer breiten Palette von Produkten wie Kleider, Handtaschen, Handyhüllen, Ohr-Anhänger, Kissen und viele andere.
Computertechnologie hat Massenproduktion und Vermarktung viel leichter gemacht, womit man die Kosten senken konnte, gleichzeitig freilich auch die Authenzität einbüßte. Vollkommen von Hand gefertigte Kleider und Kunsthandwerk sind oft alles andere als billig. Ein handgemachtes Paiwan-Hochzeitskleid beispielsweise kostet nach Auskunft von Lin Shih -chih, Manager des Ureinwohner-Kulturparks im südtaiwanischen Pingtung, mindestens 150 000 NT$ (5000 Euro). Produkte mit Verzierungen, die mit Hilfe von Computern hergestellt wurden, sind da schon erschwinglicher, aber Lin tut diese maschinengefertigten Stücke als "gefühllos" ab. In puncto Profitpotenzial ist der Mangel an individuellem Flair bei den Produkten eher nebensächlich. Sun Ta-chuan sieht diesen Trend nicht vollkommen negativ. "Kommerzielle Möglichkeiten erzeugen eine große Motivation für die Bewahrung von Traditionen, die sonst im Museum landen würden", bemerkt er. "Künstlerische Kreationen, die nützlich sind und ins tägliche Leben integriert werden, bedeuten eine würdige Fortsetzung der Traditionen. Wir sollten uns darum kümmern, wie man den Markt für diese Produkte aufbaut und stabilisiert."
Die neuen Muster beruhen auf antiken Vorbildern, haben aber eine moderne Note. "Diese Kunstateliers sind äußerst innovativ", lobt Saalih Lee. "In ihren Arbeiten verwenden sie unkonventionelle Farbschemata und Muster, widersprechen mit diesen Änderungen aber nicht der Tradition. Der beste Weg zur Förderung der Kultur ist eine gelebte Kultur." Sun Ta -chuan stimmt ihr zu, empfiehlt aber dringend eine sorgfältige Aufzeichnung aller beim Innovationsprozess vorgenommenen Umformungen. "Der Zweck der Aufzeichnung der Veränderungen und der dahinter stehenden Konzepte besteht in der Anlegung einer Spur, mit der unsere Nachfolger den Weg zum Original zurückverfolgen können. Auf diese Weise können wir einen Kontrast und einen Dialog zwischen Tradition und Moderne herstellen, und wir erreichen außerdem die Bewahrung der Kultur und gleichzeitig eine dynamische Entwicklung."
Sun bereitet den Start eines ehrgeizigen neuen Projektes vor, das allerdings noch finanziert werden will -- die Katalogisierung aller verstreuten Sammlungen traditioneller Ureinwohnertrachten in Taiwan und Japan sowie den anschließenden Druck eines umfassenden Führers mit Fotos. Er befürwortet auch die Idee der Erforschung und Aufzeichnung jedes Aspekts traditionellen Kunsthandwerks, vom Ramieanbau bis zur Fertigstellung eines Kleidungsstücks, und die Erkenntnisse sollen all denjenigen zugänglich sein, die in entsprechenden Bereichen geschäftlich aktiv sind. Sun schlägt zudem für die dauerhafte Bewahrung echter traditioneller Kunsthandwerksarbeit die Organisierung eines Systems von Lehre und Lizenzvergabe vor. Dazu müsste man die Regierung um finanzielle Unterstützung bitten, etwa Zuschüsse für den Erwerb von Land zur Bepflanzung und für Hilfe zum Entwurf einer Kultur-Leitpolitik.
Diese praktischen Vorschläge basieren auf einer philosophischen Grundlage. "Viele Träumer wie ich sehnen sich nach einem kultivierten Leben", behauptet Sun. "Aber nur eine dramatische Verbesserung der allgemeinen kulturellen Entwicklung Taiwans wird uns dieser Traumwelt näher bringen." Die ununterdrückbare Vitalität, dank der die Ureinwohnertraditionen lebendig und frisch bleiben konnten, ist auf dieser Reise eine wichtige Antriebskraft.
(Deutsch von Tilman Aretz)