In Taiwan haben es immer mehr Männer und Frauen mit dem Heiraten nicht so eilig, dafür steigt die Scheidungsrate. Was hat sich bei den Einstellungen der Menschen gegenüber der Ehe und ihren Erwartungen daran im Vergleich zu früheren Generationen geändert?
Im Oktober letzten Jahres berief ein Abgeordneter des Parlaments der Republik China eine Pressekonferenz ein, um auf das nach seinen Worten "schwere gesellschaftliche Problem" aufmerksam zu machen, das in der Zahl 5571 erkennbar geworden sei -- so hoch war nämlich die Zahl der in Taiwan im August des gleichen Jahres geschiedenen Ehen. Noch nie zuvor waren in Taiwan in einem einzigen Monat so viele Ehen geschieden worden. Etwa zur gleichen Zeit bestätigte eine andere Statistik über 1500 gemeldete Fälle von ehelicher Gewalt in der Stadt Taipeh von Januar bis September 2001: eine Zunahme von 520 Fällen (also über 50 Prozent) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Beide Nachrichten über Familienangelegenheiten wurden von den Medien im Zusammenhang mit Taiwans jüngster Wirtschaftskrise behandelt. Typische Schlagzeilen lauteten "Scheidungsrate steigt mit der Arbeitslosigkeit" oder "Ehemänner verlieren den Job und dann die Beherrschung gegenüber ihren Ehefrauen". Fachleute wie Cherish Lu machen dagegen geltend, dass die Auswirkungen der Wirtschaftsmisere zwar viele Ehen zusätzlich belasten, insgesamt jedoch überbewertet werden. "Die grundlegenden Ursachen für familiäres Unglück sind in der Familie selbst zu suchen", betont die Eheberaterin im Beratungs- und Therapiezentrum Mercy Sex Counseling and Therapy Center . Der scharfe Anstieg der gemeldeten Fälle von Gewalt gegen den Ehepartner kann auch mit dem neuen Gesetz zusammenhängen, nach dem solche Fälle nun statistisch erfasst werden müssen.
Als Psychologin beharrt Lu darauf, dass die Ursachen für zerrüttete Ehen eingehend analysiert werden müssen, bevor man zu einem Urteil kommen darf. Die meisten Paare in ihrer Sprechstunde klagen darüber, sexuell nicht zusammenzupassen, aber "wenn man die Beziehung zwischen den Eheleuten einmal genauer untersucht, dann stellt sich sehr häufig heraus, dass die Frage der Sexualität nur ein Vorwand für ihren Versuch ist, Hilfe zu suchen". Christine Chuang, stellvertretende Geschäftsführerin bei einer weiteren Familienberatungsorganisation namens Focus on the Chinese Family, Taiwan (FCFT), hat ähnliche Beobachtungen gemacht. "Früher habe ich Seitensprünge als den Ehekiller Nummer eins betrachtet, doch dann wurde mir klar, dass erst eine Kluft zwischen zwei Personen Raum für eine dritte Person schafft", interpretiert sie. "Eben diese Kluft ist in der Regel für das Scheitern einer ehelichen Beziehung verantwortlich."
Manchmal wird die emotionale Distanz durch physische Distanz noch verschlimmert. "Viele Ehemänner sind in den letzten Jahren zum Arbeiten aufs chinesische Festland gegangen und haben ihre Frauen in Taiwan gelassen", enthüllt Chuang. "Unter solchen Umständen kann eine Ehe schwer geprüft werden, und oft ergibt sich daraus Untreue." Taiwan ist eines der wenigen säkularen Länder, in dem Ehebruch strafbar ist, und ein betrogener Ehepartner kann beide am Ehebruch beteiligten Parteien vor Gericht zerren. Viele Fachleute für rechtliche und gesellschaftliche Angelegenheiten fordern die Abschaffung dieser strafrechtlichen Bestimmung und brandmarken sie als anachronistischen Versuch, die Moral durch Rechtsvorschriften zu regulieren.

Die Schwierigkeiten bei der Bewahrung einer tadellosen und lang andauernden Beziehung -- eventuell auch mit tolerierten Fehlern -- haben dazu geführt, dass immer mehr moderne Männer und Frauen vor dem Gang zum Standesamt zurückschrecken, und wenn sie es doch tun, ist Scheidung nicht mehr so ein Tabu wie früher. Laut Statistiken des Innenministeriums fiel die Zahl der Männer, die zum ersten Mal heirateten, von 6,27 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre im Jahre 1981 auf 4,65 Prozent im Jahre 2000, und bei Frauen fiel die entsprechende Zahl im gleichen Zeitraum von 9,19 auf 6,37 Prozent. Gleichzeitig stieg das Heiratsalter bei ersten Ehen bei Männern von 27,1 Jahren auf 29,2 Jahre und bei Frauen von 23,6 auf 25,7 Jahre. Der Anteil geschiedener Personen an der Bevölkerung über 15 Jahre hat sich in diesen zwei Jahrzehnten beinahe vervierfacht, von 1,1 auf 4,2 Prozent.
Von Januar bis September vergangenen Jahres schoben sich jeden Monat durchschnittlich 13 336 Paare die Eheringe auf die Finger. Im Januar, zur Zeit des glückverheißenden Chinesischen Neujahrsfestes, gaben sich sogar 19 320 Paare das Ja -Wort, während im "Geistermonat" September nur 6363 Paare den Ehebund schlossen. Zusätzlich zu solchen Ehesitten haben andere Traditionen direkte Auswirkungen auf die Ehe. "Für die Chinesen geht es beim Heiraten eindeutig nicht nur um Ehemann und Ehefrau, sondern auch um ihre jeweiligen Familien", weiß Chang Szu-chia, Professorin für Sozialpsychologie an der Shih-hsin University in Taipeh. "Bei Eheproblemen setzt sich jede Familie für ihr eigenes Mitglied ein, was die Dinge noch komplizierter und schwerer lösbar macht."
Traditionell übernimmt die Familie des Ehemannes eine dominante Rolle, und normalerweise verlässt die Braut ihr Elternhaus und lebt bei der Familie ihres Mannes. Die stachelige Beziehung zwischen Ehefrau und Schwiegermutter ist seit langem ein gordischer Knoten für chinesische Paare. "Wenn Frauen gelernt haben, ihren Schwiegermüttern zu gehorchen, dann erwarten sie später natürlich ebenso Gehorsam von ihren Schwiegertöchtern", erläutert Prof. Chang. "Die modernen Schwiegertöchter sind indes viel besser gebildet, und ihr Verhalten und ihre Einstellung kollidieren zuweilen mit den Erwartungen der älteren Generation." Wenn der Ehemann oder seine Verwandten -- besonders Schwestern, die selbst Schwiegertöchter sind -- die gestörte Kommunikation nicht bessern können, dann kann die Ehefrau nach Changs Worten "unglaublich viel zu leiden haben". Selbst wenn das Paar sich eine eigene Wohnung sucht, kann die bittere Beziehung zwischen Ehefrau und Schwiegermutter immer noch einen Schatten über die Ehe werfen.

Ein enger Zusammenhalt ist wichtig für jede Familie. In vielen taiwanischen Familien ergaben sich Spannungen, weil der Ehemann zum Arbeiten aufs chinesische Festland ging. (Chang Su-ching)
Im Hinblick auf die Struktur des Ehelebens hat die moderne Gesellschaft beiden Geschlechtern mehr Optionen gebracht. In früheren Generationen waren die Familienrollen relativ eng definiert: Der Ehemann schaffte die Kohlen ran, während die Ehefrau das Haus hütete und die Kinder aufzog. Heute gehen immer mehr Ehefrauen arbeiten und verdienen ihr eigenes Geld. Außerdem leben mehr Paare ohne Trauschein zusammen, und DINK-Familien (DINK = double income, no kids, zu Deutsch: doppeltes Einkommen, keine Kinder) werden allmählich ebenfalls häufiger in dieser Gesellschaft, bei der traditionell enormes Gewicht auf die Weitergabe des Familiennamens auf einen Sohn gelegt wurde. Besonders in ländlichen Gebieten übt die ältere Generation großen Druck auf junge Paare aus, als Verpflichtung gegenüber den Eltern Nachwuchs in die Welt zu setzen. Nach Ansicht der Eheberaterin Cherish Lu ist Krabbelgemüse für eine glückliche Ehe aber nicht unbedingt notwendig. "Manchmal werden Kinder einfach nur ein Instrument bei dem Versuch, eine Ehe zu verbessern oder zu retten, und das ist keine gesunde Situation", kontempliert sie. Prof. Chang stimmt ihr zu: "Kinderlosigkeit ist dem Eheleben nicht abträglich, wenn sie freiwillig ist."
Eine häufige Ursache für Misstöne in modernen Ehen ist die ungleiche Verteilung der Hausarbeit, wenn beide Ehepartner berufstätig sind. "Zwar leisten Frauen finanzielle Beiträge zur Familie, doch Männer leisten keine entsprechenden Beiträge zur Hausarbeit", geißelt Christine Chuang von der FCFT. Während viele Ehefrauen sich mit dieser Lage als Fortsetzung althergebrachter sozialer Rollen abgefunden haben, sind manche äußerst aufgebracht. Bei den seltenen Fällen des anderen Extrems, wenn Männer Vollzeit-Hausmänner sind und ihre Ehefrauen beruflich Karriere machen, haben diese Männer gesellschaftlich allerhand Unbillen hinzunehmen. Chuang erinnert sich daran, wie einmal ein Mann ratsuchend in ihre Sprechstunde trottete, der seinen Job aufgegeben hatte und sich um die Kinder kümmerte, weil seine Frau viel mehr verdiente als er. "Eigentlich war er mit seinem neuen Leben sehr zufrieden, aber die Kritik von den Nachbarn und Verwandten konnte er nicht mehr aushalten", berichtet sie.
Dieser leidgeprüfte Ehemann war auch ungewöhnlich in seiner Bereitschaft, sich wegen seiner Probleme beraten zu lassen. Die Teilnehmer an den Kursen, Seminaren und Vorträgen der FCFT über Familienfragen sind zu über 90 Prozent weiblich. Wenn Männer Interesse zeigen, dann geht es ihnen vor allem um das Verhältnis zu ihren Kindern. Cherish Lu hat auch das Widerstreben der Männer bemerkt, sich mit der Frage auseinander zu setzen, wie sie mit ihren Frauen auskommen. "Viele Männer, die in mein Büro hereinschneien, betonen ausdrücklich, dass sie nur auf Wunsch ihrer Frau hier sind", erzählt sie. Prof. Chang von der Shih-hsin University hält diese Einstellung unter erwachsenen Männern für verbreitet. "Im Verlauf der Sozialisation lernen Männer, ihre Gefühle zu verbergen und Probleme auf eigene Faust zu lösen, besonders Familienprobleme", begründet sie. "Taiwanische Ehemänner neigen noch mehr als westliche Ehemänner dazu, Familienprobleme als Privatsache zu behandeln, die sich nicht für offene Diskussion eignet."
Diese Neigung hat sogar Auswirkungen auf die Effizienz des Parlaments bei Familienfragen. "Die meisten Parlamentsabgeordneten sind Männer", stellt Prof. Chang fest. "Gesetze über Familienangelegenheiten sind für sie zweitrangig." Immerhin gab es da schon kleine Fortschritte. 1998 wurde das Gesetz für die Verhütung ehelicher Gewalt verabschiedet, woraufhin das Innenministerium der Republik China und Lokalverwaltungen entsprechende Kommissionen mit Ressourcen aus Justiz, Polizei, Gesundheits- und Bildungswesen sowie freiwilligen Helfern einrichteten. Ein Entwurf für ein Gesetz über Familienerziehung wird derzeit im Parlament bearbeitet und soll Grund- und Oberschüler sowie verlobte Paare dazu verpflichten, an mindestens vier Stunden Unterricht über Familienleben teilzunehmen.

Ein Hauptziel des legislativen Engagements für Familienfragen war im Laufe der Jahre das Vierte Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches der Republik China, das eher patriarchalische Ansichten über Familienbeziehungen widerspiegelte. Im Jahre 1994 erklärte der Rat der Obersten Richter Artikel 1089 dieses Gesetzbuches -- laut welchem dem Vater eines Kindes Priorität bei den Elternrechten eingeräumt wurde -- für verfassungswidrig. Zusätzliche bahnbrechende Revisionen gab es 1996, darunter die Abschaffung des automatischen Sorgerechts des Kindsvaters im Falle einer einvernehmlichen Scheidung, oder die Bestimmung, dass beide Eltern gegenüber minderjährigen Kindern die gleichen Rechte und Pflichten haben, oder dass die Gerichte anstatt des Ehemannes bei der Beilegung von ehelichem Zwist das letzte Wort haben sollten. Hinsichtlich der Eigentumsrechte räumte eine Revision des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1985 der verheirateten Frau die vollen Rechte auf das unter ihrem Namen eingetragene Eigentum ein, so dass sie es nicht mehr wie früher ihrem Ehemann ausliefern muss. Ein im vergangenen November von der Exekutive vorbereiteter und nun dem Parlament zur Bearbeitung vorliegender Gesetzentwurf würde die Bedingungen für die Gewährung einer Scheidung lockern: Demnach könnte jeder der Ehepartner Scheidungsklage aus einem bestimmten Grund erheben (bislang darf das nämlich nur die Seite, die in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet), oder wenn das Paar seit fünf Jahren oder länger ununterbrochen getrennt lebt.
Zusätzlich zu weiterer Gesetzgebungsarbeit bemühen sich Regierungsbehörden und private Organisationen gemeinsam darum, Geschiedenen -- vor allem Frauen -- bei der Verbesserung ihres Lebens zu helfen. 1996 arbeitete die Stadtverwaltung Taipeh mit mehreren sozialen Wohlfahrtsorganisationen beim Aufbau eines Servicezentrums für allein erziehende Eltern zusammen, über 90 Prozent der heute dort Hilfe Suchenden sind Frauen. Andere Lokalverwaltungen haben ähnliche Organisationen aufgebaut. "Am wichtigsten bei der Hilfe für unsere Klienten ist die wirksame Umsetzung der Gesetze", definiert Chien Hui-lan, Direktorin des Zentrums in Taipeh. "Besonders sollten gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden, damit die Zahlung von Unterhalt gesichert ist." Das Zahlen von Alimenten kann aufgrund von Gesetzeslücken bisher leicht umgangen werden. Das Zentrum bietet professionelle Rechtsberatung, psychologische Beratung und Telefondienst.
Nach Angaben von Chien sind 60 Prozent ihrer Fälle die Folge von Scheidung. Die steigende Scheidungsrate belegt für manche Menschen die Dringlichkeit zum Nachdenken über die Institution Ehe. "In der Vergangenheit haben die Leute geheiratet, sozusagen um einen Berechtigungsschein für Sex zu bekommen", meint Cherish Lu. "Da man sich aber heute den Sexualpartner frei aussuchen darf, sollte die Ehe neu erfunden werden als Weg, eine wahre Einheit von Körper, Geist und Seele zu erreichen. Wozu sollte man sonst die Umstände einer Heirat auf sich nehmen?"
(Deutsch von Tilman Aretz)