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Mittler zwischen den Welten

01.07.2002
Der Wu-yun-Haupttempel im Dorf Bai-shai Tun (Landkreis Miaoli) ist jedes Frühjahr Schauplatz einer zehntägigen Prozession zu Ehren der Meeresgöttin Matsu.

Wie in vielen asiatischen Ländern bieten auch in Taiwan Schamanen, jene Mittler zwischen der irdischen und der transzendentalen Welt, der Bevölkerung ihre Heilkünste an. Ein solcher Schamane ist Wang Chien-yi, der tagsüber als Schreiner arbeitet, in seiner übrigen Zeit aber als spiritueller Heiler agiert.

Jeden Mittwoch hält Wang Chien-yi(王見義) in dem kleinen Wu-yun-Tempel(五雲宮) in Tucheng, Landkreis Taipeh, seine Séancen ab. Kommen kann jeder, der will, denn der Tempel ist zur Straße hin offen, so dass man auch spontan eintreten oder einfach mit dem Motorroller vorbeifahren und zuschauen kann.

Meist sind es die Nachbarn, die in der Gegend des Tempels wohnen, die sich zu diesen Treffen einfinden: Hausfrauen, die Probleme mit der Wohnung haben und unter einem schlechten feng-shui(風水) leiden, Geschäftsleute, die um ihr Business bangen, prüfungsgestresste Studenten, die die Götter um Beihilfe bitten und einen Blick in die Zukunft werfen wollen, oder um ihre Genesung besorgte Kranke. Die Gemeinde von Wang Chien-yi ist taoistisch-buddhistisch orientiert. Unter den zahlreichen Religionen und Philosophien, die sich in Taiwan finden, sind der Buddhismus und der Taoismus, welche heute meist in enger Verbindung zueinander stehen, sowie die konfuzianische Sittenlehre die bedeutendsten. Die taoistische Lehre gliedert sich in verschiedene Unterbereiche, Körperübungen des Tai-chi(太極) und Qi-gong(氣功), die Philosophie des Yin(陰) und Yang(陽), schamanische Praktiken und Geistanrufungen.

Pünktlich um acht Uhr erscheint Wang Chien-yi mit mehreren Helfern im Tempel. In gewöhnlicher Alltagskleidung beginnt er sein Ritual. Auf dem Altar opfern die Gäste unterdessen den Göttern. Sie bringen Früchte, Räucherstäbchen, gebratene Enten, manchmal Schokolade und Zigaretten. Nur Alkohol ist nicht erwünscht. In einem Gebet, das die Fragenden während des 3-maligen Schwingens von Räucherstäbchen vollziehen, erörtern sie den Geistwesen ihr Anliegen. Sie schreiben ihren Namen, ihr Geburtsdatum nach dem chinesischen Mondkalender und ihr Problem auf ein Blatt Papier und reichen es den Ritualhelfern.

Der Schamane(通靈) steht unterdessen in einem schiffähnlichen Holzgestell, das er gemeinsam mit seinen Helfern durch ein rhythmisches Hin- und Herstoßen bewegt. Durch das Aufeinanderstoßen des Holzes entsteht ein monotoner Klang. Die rhythmischen Erschütterungen und das gleichförmige Geräusch des Holzes bewirken, dass der Schamane in eine tranceähnliche gesteigerte Konzentration gelangt. Es ist ein Befinden zwischen einem schlafähnlichen Zustand und erhöhter Aktivität des Körpers. In diesem Zustand kann der Schamane Verbindung zu verschiedenen Gottheiten, wie etwa zum Erdgott T'u-ti-kung(土地公), zum Medizingott Pao-sheng ta-ti(保生大帝) oder zu anderen aufnehmen und sie im Tempel willkommen heißen.

Wenn einer der Götter sich dem Schamanen ankündigt, wendet sich dieser dem Gesuch des ersten Fragers zu. Dieser stellt sich direkt vor Wang Chien-yi auf und wiederholt dem Schamanen sein Anliegen. In seinem Zustand der Hypersensibilität erspürt der Heiler Körper und Seele der Person. Er versucht mittels eines Energieaustausches Körper und Typus der Person und die Art ihres Leidens zu erforschen. Bevor er sich also der speziellen Frage zuwendet, wirft er, so beschreibt es Wang Chien-yi, einen Blick in Vergangenheit und Zukunft seines Gegenübers. Auf einem neben ihm stehenden Tisch liegt ein Papier bereit, auf welches durch die Bewegungen des Holzgestells, das auf das Papier aufklopft, Botschaften übermittelt werden. Diese Botschaften, die von den anwesenden Göttern stammen, übersetzt der Schamane seinen Klienten. Er gibt ihnen Anweisungen oder Anregungen, wie sie sich verhalten sollen. In schwierigeren Fällen hält er eine besondere Séance für den Patienten ab. Wenn alle Fragen beantwortet sind, wird ein großer Tisch mit Essen aufgebaut, und alle Gäste sind eingeladen, sich an dem Mahl zu beteiligen.

Doch während sich der Schamane Wang Chien-yi in seinen wöchentlichen Sprechstunden ganz modern gibt, zelebriert er an besonderen Festtagen Rituale in traditioneller Form. Solche regelmäßig wiederkehrenden Aktivitäten sind die den Tierkreiszeichen zugeordneten Zeremonien, die zyklisch alle 12 Jahre wiederkehren, sowie die alljährlich stattfindenden Straßenparaden zum Geburtstag einer Gottheit.

Mittler zwischen den Welten

Wer Heilung oder Auskunft von den Geistern sucht, kann sich durch den Schamanen Wang Chien-yi die Botschaften aus der Geisterwelt in Klartext übersetzen lassen.

Während in den konfuzianischen Tempeln in Taiwan nur zum Geburtstag des Konfuzius (孔子,551-479 v. Chr.) am 28. September Zeremonien abgehalten werden, finden in buddhistischen und taoistischen Tempeln häufig Festriten statt. Die buddhistischen Tempel sind eher schlicht und haben weniger pompöse Aktivitäten. In den sehr bunten taoistischen Tempeln werden Feiern mit Paraden, Feuerwerk, Zimbel- und Trommelmusik, Räucherstäbchen, Opfergabentischen für Geister, Zeremonien und Exorzismen zelebriert. Die Tempel pflegen einen engen Kontakt zu Mystizismen und Ritualen. Ihre wichtigsten Gottheiten sind die Meeresgöttin Matsu(媽祖) und Kuan Kung(關公). Weitere Gottheiten, denen in Taiwan eigene Tempel gewidmet sind, können nach animistischer Auffassung auch Steine sein. In Tamsui an der Nordküste Taiwans gibt es einen Tempel, in dem ein Hund angebetet wird. Dieser Hund war seinem Besitzer so treu, dass die Menschen einen Tempel für ihn errichteten. In kleinem Maße haben sich in Taiwan auch noch Einflüsse weiterer Volksreligionen erhalten, wie etwa die Entenei-Religion(鴨蛋教) in der Nähe von Kaohsiung.

Manche der sehr verschiedenartigen Geister- und Götterwesen sind von der Religion in den Glauben eingeführt worden, andere durch die Philosophie. Im Volksglauben vermischen sie sich manchmal. Für die Menschen in Asien ist das ganze Leben animistisch. Die vier Schriftzeichen "Wan wu you ling"(萬物有靈) bedeuten: "Die 10 000 Dinge sind beseelt". Diese traditionelle Ehrung, die bis heute einen wichtigen Stellenwert in der taiwanischen Gesellschaft einnimmt, hat ihre Wurzeln in den taoistischen Philosophien von Lao-tze (老子)und Chuang-tze(莊子). Konfuzius hingegen sprach sich gegen den Geisterglauben aus, doch auch er wagte es nicht, die Existenz von Geistern vollkommen zu verleugnen. Vielmehr warnte er, dass, wenn es Götter und Geister gebe, man ihnen auf keinen Fall zu nahe kommen solle. Ein- bis zweimal im Monat füttern deshalb auch viele Taiwaner ihre Geister und Ahnen zur Besänftigung mit Geistergeld und anderen Gaben. Nur bestimmten Personen wie den Schamanen und den Geisterbeschwörern wird ein näherer Kontakt mit der transzendentalen Welt zugestanden.

Wenn man beispielsweise am Morgen des chinesischen Neujahrstages im Dorf Bai-shai Tun(白沙屯), Landkreis Miaoli, den Tempel der androgynen Gottheit Kuan-yin(觀音) besucht, kann man einem beeindruckenden taoistischen Ritual der Kontaktaufnahme zu Göttern oder auch Geistern des Schamanen Wang Chien-yi beiwohnen. In Trance schafft Wang Raum für während der Zeremonie in ihn fahrende Götter. Die Prozedur schließt auch die oft blutige Geißelung seines Körpers oder ein Reinigungsritual mit ein, in welchem er sich mit lauten Geräuschen übergibt und länger als eine Stunde seinen Magen entleert. Wenn ein Gott Besitz von dem Schamanen ergriffen hat, tut dieser dies durch seltsam grunzende Laute kund, oder er schreibt in speziellen Zeichen Botschaften der Gottheit auf kleine Zettel. Die Ankunft eines Gottes kann sich auch durch ein Stuhlzerbrechen ankündigen.

Meldet sich jedoch anstatt eines Gottes ein Geist bei dem Schamanen zu Wort, so wird dieser nicht im Körper des Schamanen aufgenommen, sondern er wird von Wang Chien-yi in das Innere eines Stuhles gelenkt, um seine Wünsche zu übermitteln. Wenn die Götter Wangs Körper schließlich verlassen haben, bricht der Schamane vor Erschöpfung körperlich zusammen und muss ruhen, um der eigenen Seele wieder Raum zu geben. Unter dem lauten Dröhnen von chinesischen Knallkörpern werden die Götter und Geister in ihre eigene Welt zurückgeleitet.

Im Dorf Bai-Shai Tun gibt es auch einen wichtigen Matsu-Tempel. Hier agiert der Schamane Wang Chien-yi als einer der spirituellen Helfer bei dem zehntägigen Prozessionszug zu Ehren der Meeresgöttin Matsu. Die Frühlingsprozession lockt alljährlich Tausende von Anhängern und Interessierten in den Ort. Der lärmende Menschenzug wandert bei Tag oder bei Nacht von Dorf zu Dorf. Dann -- alles je nach Wunsch der Göttin Matsu -- hält der Menschenzug für Stunden an, bevor er sich weiterbewegt und auch vor Autobahnen nicht Halt macht. Die insbesondere in Küstenorten verehrte Göttin Matsu schützt die Menschen beim Fischen, bei Seereisen und vor Flutkatastrophen. Ihre Statue wird bei der Prozession von acht spirituellen Helfern auf einer Sänfte von einem Matsu-Tempel zu einem anderen getragen.

Neben den Feierlichkeiten für die Götter gibt es auch Andachtstage für die verschiedenen Geister und Ahnen. Im 7. Monat nach dem chinesischen Mondkalender, dem "Geistermonat", der im gregorianischen Kalender meist in den Monat August fällt, öffnen sich die Tore der Zwischenwelten und die Ahnen und hungrigen Geister gehen um. Während des Geistermonats können die Ahnen und die hungrigen Geister für kurze Zeit auf die Erde zurückkommen. In diesem Monat müssen die Menschen sehr vorsichtig und zurückhaltend sein, denn die Geister können die Lebenden belagern und bedrängen. Am 15. Tag des Geistermonats wird in Taiwan das "Fest der hungrigen Geister"(中元普渡) gefeiert, das insbesondere den heimatlosen Geistern und den alleinstehenden Ahnen gewidmet ist. Mit diesem Fest sollen die Geister der Toten, an die niemand mehr denkt, besänftigt werden.

Mittler zwischen den Welten

Die stets von einer großen Menschenmenge bestaunten Tempelzeremonien im Dorf Bai-shai Tun sind eine turbulente, lärmende Angelegenheit mit farbenfrohem Gepränge, prachtvollen Kostümen und reichen Opfergaben.

Der Mensch besteht nach alter Überlieferung aus zwei Teilen, dem Körper und der Seele. Die Seele wiederum setzt sich aus mehreren Hun-(魂) und Po-Seelen(魄) zusammen. Die Po-Seelen sind eine Art von biologischen Seelen, die das physische Prinzip des Lebens verkörpern. Die Hun-Seelen sind die geistigen Seelen. Nach dem Tod eines Menschen steigen die Hun-Seelen in den Himmel, den Regierungsbezirk des Himmelskaisers auf. Dort nehmen sie eine bestimmte Stellung und den sozialen Rang ein, die jener Position, die sie im Leben verkörpert haben, entspricht.

Die Po-Seelen hingegen bleiben, wenn man gestorben ist, noch eine gewisse Zeit, die bis zu drei Jahren dauern kann, im langsam verwesenden Körper zurück. Sie nähren sich während dieser Zwischenperiode von den Ahnenopfern der Angehörigen. Danach werden die Po-Seelen zu Geistwesen oder manche auch zu Göttern. Wenn die Po-Seele hungrig bleibt, kann sie sich zu einem gefährlichen Geist, auf Chinesisch "Guei"(鬼), entwickeln und Krankheiten und geschäftliche Misserfolge auslösen, um sich an den Lebenden zu rächen.

Deshalb dient die alljährliche Festivität der Besänftigung der hungrigen Seelen von Verstorbenen. Das Fest der hungrigen Geister gipfelt in der Zeremonie der Speisung der Geistwesen. Nicht nur taoistische Schamanen wie Wang Chien-yi, sondern auch buddhistische Mönche zelebrieren ein Ritual mit Liturgien, Weihrauch, Früchten und materiellen Geschenken, wie stapelweise Geistergeld oder Goldbarren, Juwelen und Kleidung aus Papier, bis hin zum Auto oder einem Handy aus Pappe. Das Geschehen erreicht seinen Höhepunkt, wenn der Schamane den hungrigen Geistern Kuchenbrötchen und Kerzen entgegenschleudert. Zu diesem Zeitpunkt müssen dann die Geister-Geschenke verbrannt werden, damit sie im jenseitigen Reich empfangen werden können.

Am Ende des Fests der hungrigen Geister werden die toten Seelen mit Lichtern zurück ins Jenseits geleitet. Papierhauslaternen, die von innen beleuchtet sind, werden auf dem Fluss ausgesetzt, um den gefürchteten umherwandernden und heimatlosen Geistern eine Zuflucht zu bieten.

Im Gegensatz zu vielen Schamanen aus anderen Gebieten Asiens, Lateinamerikas oder Afrikas verwenden Wang Chien-yi und die taoistischen Schamanen in Taiwan allgemein keine pharmakologischen Stimulanzen wie Halluzinogene. Auch der häufig gewählte Weg von psychologischen Stimulanzen durch Deprivation, also dem Entzug von Umweltreizen, und durch Dunkelheit gehört nicht zu ihren üblichen Praktiken. Ihre Trance erreichen sie vielmehr durch konzentrative Techniken, monoton rhythmische Stimulationen, durch Klang und Bewegung, durch körperliche Erschöpfung, Torturen und bewusst eingesetzte optische und akustische Reizüberflutungen.

Für ihre Kunden sind die Schamanen Seelsorger, Heiler, Psychologen, feng-shui-Experten und Zeremonienmeister in einer Person. Die Beliebtheit der traditionellen Zeremonien zeigt, dass Moderne und Tradition, Rationalität sowie der Glaube an Geister und Götter im heutigen Taiwan noch immer nebeneinander bestehen und eine harmonische Verbindung zueinander eingehen.



Heike Gässler ist Doktorandin im Fach
Theaterwissenschaften und lebt als
Regisseurin und freie Journalistin in Berlin.
Daneben wirkt sie auch als Organisatorin
für deutsch-asiatischen Kulturaustausch
("Die Kulturnomaden").

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