15.12.2025

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Auferstanden aus Ruinen

01.11.2002
Die Bahnstation Chichi heute. Die Renovierung nach dem Erdbeben mit Originalmaterialien und bautechniken wurde im Februar dieses Jahres abgeschlossen.

Mitten in Taiwan erhob sich das kleine Städtchen Chichi(集集) aus den Trümmern des schweren Erdbebens vom 21. September 1999 und startete ein ehrgeiziges Wiederaufbauprojekt für seinen Bahnhof. Nach umfangreichen Arbeiten fahren nun wieder die Züge, und der Bahnhof wurde neu eröffnet.

Auf der Chichi-Nebenstrecke in Zentraltaiwan keucht eine Diesellok ostwärts, auf der Straße parallel dazu fahren Autos. Auf die grünen Felder der Küstenebene folgen die schroffen Klippen und klaren Gebirgsbäche des Zentralmassivs. Die 29,7 Kilometer lange Chichi-Strecke zwischen Ershui(二水) im Landkreis Changhua(彰化) und Checheng(車埕) im Landkreis Nantou(南投) ist die längste der drei Zubringerstrecken der Insel, die zu der rund um Taiwan verlaufenden Hauptstrecke führen.

Die gesamte Reise von einem Ende zum anderen dauert mit den vier Zwischenstopps rund 45 Minuten, und viele Passagiere steigen etwa auf halbem Wege am Bahnhof Chichi aus, um sich in der kleinen Ortschaft umzuschauen, der die Bahnstrecke ihren Namen verdankt. Der erste, ursprüngliche Bahnhof war eine kleine, schäbige Holzkonstruktion und 1922 zur Fertigstellung der Bahnlinie errichtet worden, doch er wurde aufgrund des zunehmenden Handels in der Gegend 1933 abgerissen und durch ein schöneres Gebäude aus chinesischem Zypressenholz ersetzt -- derzeit übrigens der einzige Bahnhof der Insel aus Zypressenholz.

Die von Bergen umgebene Stadt Chichi ist mit 50 Quadratkilometern flächenmäßig Taiwans kleinste Stadtgemeinde. Gemeldet sind 12 000 Einwohner, von denen aber tatsächlich nur zwei Drittel im Ort leben. Laut den Stadtannalen begannen im Jahre 1771 Einwanderer aus der festlandchinesischen Provinz Fujian mit der landwirtschaftlichen Erschließung der Gegend, und in den folgenden Jahrzehnten wuchs die Bevölkerung.

Schließlich wurde Kampfer zum Quell des lokalen Wohlstandes, der Handel damit erreichte im letzten Viertel des 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Damals waren 13 ausländische Firmen im Geschäft der Kampferextrahierung und des Verkaufs. Chichi war nun die belebteste Stadt des Landkreises Nantou, und zur Befriedigung der Bedürfnisse der Geschäftsleute und Arbeiter wurden dort zahlreiche Hotels, Restaurants und Freudenhäuser eröffnet.

Bananen waren ebenfalls ein einträgliches Geschäft. Liu Ching-sung, Einwohner von Chichi und Hobbyhistoriker, weist darauf hin, dass das Klima, die Höhe und andere Bedingungen der Gegend für den Bananenanbau ideal sind. Während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) wurden Bananen aus Chichi dem japanischen Kaiser als Tribut geschickt. "Die Leute aus der Gegend schleppten ihre Bananen auf der Schulter zu Fuß nach Chichi und verkauften sie dort", erzählt Liu. "Je mehr jemand nach Bananen roch, desto mehr Geld hatte er wahrscheinlich in der Tasche, und desto mehr war er in den Bordellen des Ortes willkommen."

Vor der Fertigstellung der Eisenbahnlinie wurde alle Handelsware von Kulis in den Ort hinein und hinaus getragen. Die Bahnstrecke wurde zwischen 1919 und 1922 von den Japanern angelegt und diente ursprünglich dem Transport von Baumaterial und Ausrüstung zu einem Kraftwerk in Takuan(大觀) nahe dem Sonne-Mond-See(日月潭) hinter Checheng. Nach der Fertigstellung des Kraftwerkes im Jahre 1937 wurden die Gleise zwischen Checheng und Takuan wieder abgebaut. Die Chichi-Strecke erleichterte weiterhin den Verkehr der Gegend und verstärkte wegen der Lage des Ortes in der Mitte der Bahnlinie Chichis Rolle als Handelszentrum.

Die Eisenbahn blieb das Hauptverkehrsmittel für Personen- und Gütertransport, bis 1958 eine Landstraße zwischen der Region und der Westküste gebaut wurde. Die neue Straße mehrte allerdings nicht Chichis Wohlstand. Im Jahre 1970 vernichtete die Panama-Krankheit einen großen Teil der Bananenpflanzen, und die Kampferindustrie erlebte wegen übermäßiger Abholzung und zunehmender Sorge der Menschen um die Umwelt einen Niedergang. Als Ort für Geschäfte verlor Chichi an Bedeutung. Die früher viel befahrene Bahnstrecke begann Verluste einzufahren, und die Eisenbahnverwaltung Taiwan ( Taiwan Railway Administration, TRA) erwog, den Betrieb einzustellen und die Bahnstation abzureißen.

Dieser Plan wurde aus zwei Gründen wieder fallen gelassen -- Widerstand der Anwohner und Fertigstellung eines nahe gelegenen Panzerwartungszentrums, wodurch die Bahnlinie zu einer Strecke der Landesverteidigung wurde. Die Züge rollten auch weiterhin, doch die TRA zog zur Kostensenkung ihr Verwaltungspersonal aus dem Bahnhof ab. Ohne geeignete Verwaltung degenerierte der Bahnhof rasch zu einer Müllhalde und einem Obdachlosenasyl.

Auferstanden aus Ruinen

Völlig aus den Fugen: Das Erdbeben am 21. September 1999 beschädigte nicht nur die Bahnstation, sondern zerstörte auch über zwei Drittel der Gebäude Chichis. (Archivfoto)

Lin Ming-chen, heute Abgeordneter des Kreistages von Nantou, putzte freiwillig zwei Jahre lang die Aborte des Bahnhofes, bevor er 1994 zum Gemeindechef gewählt wurde. Lin, der als Heranwachsender Zeuge des allmählichen Verfalls von Chichi gewesen war, wünschte sich für die Gegend eine neue Blüte. Aus geografischen Gründen war der Ort für industrielle Entwicklung nicht geeignet, und Landwirtschaft hatte keine Zukunft mehr.

Wegen der wunderschönen Naturlandschaft und des reichen Kulturerbes glaubten einige Einwohner jedoch, dass Chichi ein beliebtes Touristenziel würde werden können. "Jahrzehntelang war es bergab gegangen, und wir waren vom Rest der Insel isoliert", berichtet Chen Chi-chuan, Leiter der Fremdenverkehrsabteilung der Stadt. "Wegen dieser Isolation war Chichi -- die Topografie, die Häuser und die Bahnstation -- vor äußeren Einflüssen geschützt, und das ist für die Entwicklung von Interesse bei den Touristen unser größter Vorteil."

Zur Förderung des Fremdenverkehrs maß Lin Ming-chen der Wiederherstellung der wichtigsten Attraktion des Ortes -- des Bahnhofes -- oberste Priorität bei. Die TRA hatte die Verwaltung der Bahnstation 1996 der Gemeindeverwaltung übertragen und ihr erlaubt, ein altes TRA-Lagerhaus neben dem Bahnhof zu renovieren. Aus diesem Lagerhaus wurde ein Museum gemacht, in dem Besucher anhand einer Ausstellung alter Fotografien, Fahrscheine und anderer entsprechender Paraphernalien etwas über die Geschichte des Ortes und der Bahnlinie lernen können.

Andere Sehenswürdigkeiten der Gegend, etwa der 1794 gebaute Kuangsheng-Tempel, die 1882 errichtete Minghsin-Schule, das Forschungszentrum für endemische Arten Taiwans und ein Militär-Freiluftmuseum mit ausrangierten Waffen, kamen gleichfalls auf die Liste der zu fördernden Attraktionen. Dank dieser Mischung kamen mehr Touristen nach Chichi. Der Zustrom schuf Geschäftsmöglichkeiten und veranlasste wiederum abgewanderte Chichi-Bürger zur Rückkehr.

Alles schien auf dem rechten Wege zu sein, als Zentraltaiwan am 21. September 1999 durch ein verheerendes Erdbeben verwüstet wurde. Das Epizentrum der Erdstöße der Stärke 7,6, welche die Region ganze 45 Sekunden lang erschütterten, befand sich direkt unter Chichi. 43 Einwohner des Städtchens kamen ums Leben, und über zwei Drittel der Gebäude des Ortes stürzten ein. Die Bahnstation stand zwar noch, aber einige Dachziegel waren zu Boden gerutscht, Holzsäulen waren zerbrochen, die ganze Konstruktion hatte Schlagseite und wirkte so, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. "Wir betrachteten das Chaos und sagten uns, 'das war's dann, wir haben alles verloren'", erinnert sich Liu Ching-sung, der weniger als zwei Monate vor der Katastrophe nach Chichi zurückgekehrt war und ein Kneipencafé aufgemacht hatte. "Doch weil der Bahnhof sowohl geografisch als auch emotional der Mittelpunkt des Ortes war, fanden wir es falsch, ihn einfach aufzugeben."

Elf Tage nach dem Erdbeben begann mit Hilfe der Yaoshan-Stiftung -- einer privaten Organisation, die bei der Erhaltung historischer Stätten mithilft -- der Wiederaufbau der Station. "Die TRA wollte die Ruine abreißen und einen neuen Bahnhof bauen, was billiger und einfacher gewesen wäre, aber damit wäre der Geist des ganzen Bahnhofes verloren gegangen", meint Liu Ching-sung. "Die Station sollte also genauso wie vorher mit den gleichen Materialien und Techniken nachgebaut werden."

Nachdem man sich dazu entschlossen hatte, bestand die drängendste Aufgabe in der Entfernung der Dachziegel, um das Gewicht auf der Struktur zu vermindern und einen unkontrollierten Einsturz zu verhindern. Erfahrene Handwerker wurden zur Baustelle gerufen. Mit der Hilfe von Anwohnern wurde jeder einzelne Dachziegel nummeriert und dann entfernt. Mit zusätzlichen Balken wurden wacklige Teile der Konstruktion abgestützt.

Ein Einsturz war damit zunächst einmal abgewendet, doch die eigentliche Renovierung hatte noch nicht begonnen. Das Hauptproblem war laut Chen Chi-chuan finanzieller Natur. "Das Renovierungsprojekt mit Originalmaterialien und -methoden erforderte zwei bis drei Mal so viel Geld, wie man für Abriss und Neubau gebraucht hätte", bemerkt er. "Weder die TRA noch die Gemeindeverwaltung hatten so viel Geld, also taten wir, was wir konnten -- wir setzten uns hin und warteten auf milde Gaben."

Finanzieller Beistand kam schließlich aus dem Inland, als die Radiostation Broadcasting Corporation of China (BCC), der Fernsehsender China Television Company und die Zeitung United Daily News(聯合報) für das Projekt gemeinsam 5 Millionen NT$ (147 000 Euro) springen ließen. Der aus Chichi stammende Yeh Hung-ching spendete im Namen seiner Firma, der Phoenixtec Engineering Co., 18 Millionen NT$ (529 000 Euro). Nach Yehs Worten hatte das Renovierungsprojekt nicht nur eine sentimentale Bedeutung für Chichi, sondern bot auch eine gute Gelegenheit zur Aufzeichnung des Restaurierungsvorgangs, um damit die Techniken und das Wissen alter Handwerker zu bewahren.

Auferstanden aus Ruinen

Eingebettet ins Bergland im taiwanischen Zentralmassiv gewährt Chichi dem Besucher einen Blick auf eine altmodischere taiwanische Lebensart.

Ein Jahr nach dem Erdbeben wurde offiziell mit der Restaurierung des Bahnhofes von Chichi begonnen. Noch benutzbare Materialien wurden beim Bau wieder verwendet, Beschädigtes wurde durch identisches neues Material ersetzt. Sogar die Farbe auf den ursprünglichen Zypressenbrettern wurde analysiert, damit die Arbeiter bei dem Projekt die gleiche Farbe verwenden konnten. Ein weiterer interessanter Aspekt bei der Renovierung der Bahnstation war die Verbindung von Wissen und Fertigkeiten traditioneller Handwerker mit digitalen Daten und Computersimulation, welche das Architektur-Institut der National Chiao-tung University in Hsinchu bereitstellte. Jeder Schritt wurde zuerst im Computer simuliert, dann besprochen und angepasst, bevor die Handwerker zu den Werkzeugen griffen.

Nach sechzehn Monaten waren die Renovierungsarbeiten abgeschlossen. Während dieser Zeit reparierte die TRA auch die Gleisabschnitte, die vom Erdbeben stark beschädigt worden waren. Im Februar 2001 wurde der Bahnhof Chichi wieder eröffnet, und wieder einmal trafen Touristen per Eisenbahn ein. Nach den offiziellen Zahlen der Stadt kommen an Feiertagen zwischen 10 000 und 20 000 Besucher nach Chichi. Dann sind nicht nur die Züge überfüllt, sondern der Autoverkehr staut sich auch noch bis in die zehn Kilometer entfernte Nachbarstadt.

Zwar haben die Anwohner von der Restaurierung der Bahnstation und den neu angelockten Touristen profitiert, aber es gibt auch negative Begleiterscheinungen. Straßenhändler blockieren die Bürgersteige, die Straßen sind oft verstopft, und achtlose Touristen werfen ihren Müll überall hin. Obwohl diese Probleme noch nicht gelöst sind, wollen die Bürger Chichis noch mehr Besucher in ihren Ort holen. Das Städtchen muss über seine Zukunft nachdenken, findet Liu Ching-sung: "Das Erdbeben hat viel Aufmerksamkeit auf Chichi gelenkt. Daher kommen die Menschen aus Neugierde hierher und wollen sehen, wie es jetzt aussieht. Wir müssen aber einen Weg finden, dass diese Leute auch öfter mal wieder kommen."

Chen Chi-chuan räumt ein, dass die meisten Touristen, die Chichi besichtigen, nur ein paar Stunden in der Nähe des renovierten Bahnhofes verbringen. "Nur die Restaurants und Geschäfte in Bahnhofsnähe verdienen an den Touristen", meint er. "Man könnte also sagen, dass lediglich eine Minderheit profitiert, während die Mehrheit sich mit den Verkehrsstauungen und dem Chaos abfinden muss." Zur Lösung dieses Problems fördert die Gemeindeverwaltung weitere Sehenswürdigkeiten und versucht zur Unterstützung der lokalen Landwirtschaft auch den Agrar-Tourismus zu entwickeln, wobei man sich gegen Gebühr sein eigenes Obst pflücken darf.

Manche Einwohner halten es indes für ebenso wichtig, die Besucher über den kulturellen Charakter von Chichi aufzuklären, also welche Rolle die Bahnstation in der Vergangenheit spielte und was sie für die Bürger bedeutet. Liu Ching-sung erläutert, dass der Bahnhof nicht einfach nur eine Haltestelle für Züge ist, sondern auch ein Spielplatz, Treffpunkt und der Mittelpunkt des Stadtlebens, und daher hat der Ort für die Anwohner eine besondere emotionale Bedeutung. "Je mehr die Touristen über den Bahnhof oder andere Sehenswürdigkeiten erfahren, desto höher wird ihre Wertschätzung dafür", versichert er. "Wenn wir mit diesem Wissen irgendwie ihre Herzen rühren können, dann kommen sie vielleicht öfters mal wieder."

Um dieses gewisse Etwas besser zu vermitteln, hat Liu eine Gruppe von Stadtführern ausgebildet, die nun mit zahlreichen Geschichten und historischen Details über ihre Heimatstadt gewappnet sind. An einer bestimmten Stelle teilen sie den Besuchern immer mit, dass "chichi" eigentlich "sich versammeln" bedeutet. Der Ort war einstmals ein Treffpunkt für Kampferhändler und Bananenbauern. Heute reisen die Menschen mit dem Zug an und steigen an der wieder aufgebauten Station Chichi aus, einem Symbol für den Geist der Stadt und -- natürlich -- dem Hauptversammlungsort.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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