Für Taiwans bedrängtes Bambusgewerbe finden Wissenschaftler neue Hoffnung.
Seit über einem Jahrhundert war der einzige Ort, an dem Hightech und Bambus in Taiwan miteinander in Berührung kamen, die Grundschule, wo gelehrt wird, dass Thomas Alva Edisons (1847-1931) historischer Durchbruch beim Leiten von elektrischem Strom im Jahre 1879 durch die Verwendung eines Kohlefadens erfolgte, der aus dieser Pflanze gewonnen worden war. In den letzten Jahren besteht im modernen Taiwan indes immer weniger Bedarf an aus Bambus gefertigen traditionellen Artikeln wie Möbeln, Kunsthandwerk und Baugerüsten, weswegen Bauern sich für ihren Lebensunterhalt mehr und mehr auf Bambussprossen und blätter, die als Kochzutaten dienen, verlassen mussten.
In der alten Literatur steht Bambus als Symbol für Feinheit und Bescheidenheit, da er im Wind nachgibt, ebenso wie der "edle Gelehrte" der konfuzianischen Tradition sich an seine Gesellschaft anpasst. In der Vergangenheit war Bambus außerdem in fast allen Bereichen des alltäglichen Lebens in Taiwan zu finden, auch in den Speisen der Mahlzeiten und dem Tisch, auf dem sie serviert wurden. Das änderte sich jedoch mit dem Auftauchen von Massenprodukten, und das Problem wurde durch die zunehmende Herstellung von Bambuswaren in China und Indien erschwert.
Ein schweres Erdbeben am 21. September 1999 in Zentraltaiwan verwüstete einen großen Teil der zentraltaiwanischen Bambusproduktion, und Taiwans Beitritt zur Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) im Januar 2002 erleichterte die Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte, wodurch noch mehr Bauern im Stich gelassen wurden.
Nun trat der Landwirtschaftsrat der Republik China (Council of Agriculture, COA) auf den Plan, der im Juli 2002 das Forschungsinstitut für industrielle Technologie (Industrial Technology Research Institute, ITRI) -- ein Forschungs- und Nachwuchszentrum für Taiwans Hightech-Industrie -- mit der Förderung von Bambustechnologie und ihrer Anwendung beauftragte. In weniger als zwei Jahren konnte das ITRI-Forschungsteam erfolgreich eine neue Branche mit aufregenden Aussichten heranzüchten. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Teams und die technologischen Durchbrüche legen den Schluss nahe, dass im Falle von Bambus das, was man mit bloßem Auge sehen kann, weit weniger ist, als man nach menschlichem Ermessen bekommen könnte.
"Jeder Teil der Pflanze kann ökologisch und ökonomisch etwas zu unserem Leben beitragen", behauptet Chen Wen-chi, Projektmanager der ITRI-Abteilung für Materialien und Systemdesign und für das Bambusprojekt des COA verantwortlich. Edisons verkohlter Bambus zum Beispiel -- Bambuskohle, die bei Temperaturen von über 1000oC weiter verarbeitet wurde, strahlt Ferninfrarot aus, was gut für die Gesundheit sein soll. Wenn sie in Wasser erhitzt wird, werden Mineralien wie Ka lium, Magnesium und Eisen frei, die den Geschmack von Speisen verbessern und durch die Zersetzung von Chlor und anderen Verunreinigungen Wasser säubern.
Darüber hinaus ist Bambuskohle viel poröser und saugfähiger als gewöhnliche Holzkohle, eignet sich daher hervorragend als Filter, kann bei der Regulierung von Feuchtigkeit von Nutzen sein, reinigt die Luft, eliminiert statische Elektrizität und ist auch bei der Speicherung von Wärme wirkungsvoller. Außerdem hat Edison schon vor über einem Jahrhundert gezeigt, dass Bambuskohle elektrischen Strom bei relativ geringer Hitzeentwicklung leitet, und Chen macht darauf aufmerksam, dass Bambuskohle nicht nur gut gegen elektromagnetische Wellen abschirmt, sondern in Faserform negative Ionen enthält, die gut für die Gesundheit sind.
Kurz gesagt, die kommerziellen Möglichkeiten für Bambus kommen erst allmählich zum Vorschein, und darunter sind auch medizinische Anwendungen. Chens Team beispielsweise arbeitet mit der Universitätsklinik der National Taiwan University in Taipeh zusammen, um zu erforschen, wie Bambus die Wirkung von Medikamenten verlängern könnte. Gleichzeitig beginnen die Taiwaner, die mit Bambus ihren Lebensunterhalt verdienen, die Auswirkungen der Durchbrüche des COA zu spüren. Mit Erdmeilern können Taiwans Bambusbauern hochwertige Bambuskohle erzeugen, welche verarbeitende Betriebe in Technologien auf höherem Niveau, die Chens Team entwickelte, verwenden können. Das Ergebnis ist eine Vielzahl neuer Produkte, die bereits auf den Markt gebracht wurden, darunter Shampoos, Duschgels, Seife, Zahncreme, anti-bakterielle Lotions, Krüge und Hautpflegeprodukte wie Gesichtsreinigungscreme und Gesichtsmasken-Creme -- allesamt aus Bambus gemacht.
Die Liste von Produkten ist schier unbegrenzt, wenn man Chen glaubt. Mit Kohlegranulat kann man Kissen stopfen, in Beutelchen gefüllt in der ganzen Wohnung aufhängen, um die Luft zu entfeuchten und den Duft zu verbessern, auch kann man daraus Fasern machen für Gesichts-Feuchtigkeitsmasken und Einkaufstaschen für Lebensmittel und Obst. Zusätzlich hat die Firma Paiho Limited Co., die seit vielen Jahren im Auftrag internationaler Sportkleidungsmarken Waren produziert, ein Bambusgarn entwickelt. Mit Patenten auf beiden Seiten der Taiwanstraße und in den USA ist die Firma entschlossen, eine Serie mit über 20 Artikeln zu lancieren, darunter Schals, Mützen und Socken, die sich bei Tests der Wärmeeigenschaften durchweg als wirksamer herausstellten als andere Produkte.

Technologie soll Taiwans Bambusbauern neue Horizonte erschließen.
Laut Chen war Japan früher bei der Suche nach neuen Verwendungsmöglichkeiten für Bambuskohle führend, doch der Vorsprung verringert sich jetzt. "Wir fingen damit an, ihre Hilfsmittel zu benutzen und uns auf ihre früheren Erkenntnisse zu beziehen, aber auf der Grundlage unserer Fortschritte würde ich an diesem Punkt sagen, dass wir heute technologisch mit ihnen gleichauf liegen."
In Taiwan bedecken Bambuspflanzungen laut COA eine Gesamtfläche von 150 000 Hektar. Von den gut 100 Arten, die auf der Insel gedeihen, sind über 40 weit verbreitet, und sechs gelten als wirtschaftlich wertvoll. Bambus reift in lediglich vier Jahren, dann sollte man ihn abschneiden, bevor er seinen wirtschaftlichen Nutzen verliert. Je mehr er gestutzt wird, desto besser wächst er nach, und je besser er wächst, desto mehr trägt er zum Schutz des Wassers und des Bodens bei. Nach Chens Worten sind Taiwans Bambuspflanzungen eine Quelle unbegrenzten Nachschubs und besitzen das Potenzial, sogar schließlich der elektronischen Hightech-Industrie Konkurrenz zu machen.
Von der augenscheinlich vielversprechenden Zukunft ermutigt schwebt dem COA dank der Hilfe von Bambustechnologie eine ökologisch gesundere Umwelt vor. "Wir hoffen, dass Bambus langfristig eine Rolle beim Schutz des Wassers und des Bodens spielen kann und die Ökologie für das Aquakultur- und Viehzuchtgewerbe verbessert", erklärt Huang Miao-hsiu, Sektionschefin im Forstamt Taiwan unter dem COA, das sich dafür einsetzt, Nutzholz durch Bambus zu ersetzen, wo immer das möglich ist. Abholzung ist seit 1991 verboten, und Taiwan hängt nun größtenteils von importiertem Nutzholz ab. Bambus könnte nach Huangs Ansicht zu dieser Abhängigkeit eine billige Alternative bieten.
Für Huang ist das COA-Programm nur ein Anfang, doch es gewinnt schneller an Schwung, als man erwartet hatte. In ersten Schätzungen hatte man den Wert des Marktes auf 100 Millionen NT$ (2,439 Millionen Euro) taxiert, doch diese Zahl erscheint Huang heute zu vorsichtig. "Wir sind aufs Neue beeindruckt von der Dynamik unserer kleineren und mittleren Unternehmen", freut sie sich. "Mit unseren Finanzierungshilfen fördern wir nur die grundlegende Forschung, dann helfen wir dabei, die dort gewonnenen technologischen Erkenntnisse an die Unternehmen weiterzugeben. Für alles andere sind sie vollkommen auf sich selbst gestellt, doch bei der Entwicklung neuer Produkte und dem Aufbau von Vermarktungskanälen verlieren sie keine Zeit."
Laut Tony Tseng, Forschungs- und Entwicklungsmanager bei der Firma Paiho, die seit Oktober letzten Jahres mit dem ITRI zusammenarbeitet und als erstes Unternehmen Bambuskohle in der industriellen Produktion verwendete, wurde all dies durch das Programm des COA möglich. "Das Programm hat eine Richtung aufgezeigt, mit der wir uns hoffentlich von China und Korea unterscheiden können", sagt er. "Wir haben unsere Bambusgarnprodukte in Frankreich und Italien ausgestellt, und die Resonanz und das große Interesse der Kundschaft haben uns ein sehr gutes Gefühl gegeben." Nach Tsengs Angaben hat die Firma auch Pläne, mit der Einrichtung eigener Niederlassungen auf die Märkte in Europa und in den USA vorzudringen.

Geräucherter Bambus ist als Baumaterial außerordentlich stark und haltbar.
Ein wichtiges Kriterium bei der Vermarktung ist das Vorhandensein von Standards, und für den Aufbau eines Zertifizierungssystems mit globalen Standards für das neue Gewerbe haben einheimische Hersteller den Entwicklungsverband der Öko-Karbonbranche gegründet, der eng mit dem ITRI und dem COA zusammenarbeitet.
"Sobald das Zertifizierungssystem vollendet ist, können die Mitglieder einen 'Pass' zum Vordringen auf neue Märkte beantragen, so dass die Verbraucher sich keine Sorgen machen müssen", wirbt Chen, dessen Team dafür sorgt, dass die Herstellungsverfahren vom Anfang bis zum Ende sicher sind, indem es den Erhitzungsprozess mit in den Meilern installierten computerisierten Sensoren beaufsichtigt und kontrolliert.
Das Team experimentiert heute mit einem Zusatz-Heizsystem, welches das Temperaturniveau in den Meilern schneller steigern soll, um die Produktionszeit für Kohle zu verkürzen und die Wirkung der Hitze auf die Kohle zu verbessern. Und in den Laboratorien des ITRI, wo moderne Heizausrüstung am Werk ist, versucht man mit den Experimenten weiterhin, quasi aus Bambus Gold zu machen. Der Wettlauf zwischen Taiwan und Japan ist in vollem Gange.
Taiwans schwache Stelle ist nach Huangs Erkenntnissen die Verpackung. "Die Hersteller brauchen eine Weile, um die Bedeutung von Verpackung und Vermarktung zu erkennen", räumt sie ein und merkt an, dass die wenigen Firmen, die auf den Rat des COA gehört haben und ihre Verpackung verbesserten, ihre Verkaufszahlen um bis zu 100 Prozent steigern konnten. Huang findet, dass mehr Bauern diesen Wandel mitmachen müssen, wenn Bambus die Erwartungen erfüllen soll.
"Es ist höchste Zeit, dass das Bambusgewerbe in Gang kommt, weil das Umweltbewusstsein der Menschen immer stärker wird", fordert sie. Chen stimmt ihr zu und meint, es sei nur eine Frage der Zeit, bis man eine Explosion der Beliebtheit von Bambusprodukten erleben werde. "Früher wären Bauern nie auf die Idee gekommen, aus ihren Anbauprodukten Zahnpasta herzustellen", vergleicht er. "Heute können sie die Nachfrage kaum befriedigen."
(Deutsch von Tilman Aretz)