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Bis an die Grenzen

28.12.2005
Ein Gleitschirmflieger segelt über die Landschaft bei Wanli an Taiwans Nordküste. (Foto: Huang Chung-hsin)

Extremsportarten gewinnen in Taiwan an Boden und tragen die Menschen über die Grenzen ihrer Erwartungen hinaus.

In ihrer Kindheit träumte Candice Liu davon, wie ein Vogel über die Erde zu gleiten, und der Gedanke machte sie euphorisch. Als sie vor vier Jahren in Wanli an Taiwans Nordküste Urlaub machte, fing ihr Blick ein herrliches Schauspiel ein -- verschiedenfarbige Gleitschirm-Baldachine, die majestätisch über einen nahe gelegenen Hügel segelten. Gleitschirmfliegen hatte sie nie zuvor gesehen, und sie fand, dass diese menschlichen Drachen wie wunderschöne, am Himmel schwebende Riesenquallen aussahen. Sie fuhr den Hügel hinauf und suchte nach der Ursache ihrer Erregung, und so entdeckte sie Menschen, die den gleichen Traum wie sie träumten, und dazu den Startplatz der Gleitschirmflieger. Liu schloss sich ihnen auf der Stelle an. "Ich liebe dieses Gefühl, selbst zu fliegen", schwärmt sie.

Liu gehört zu der steigenden Zahl von Taiwanern, die es zu neuen Herausforderungen und Extremsportarten hinzieht. Das Wort "extrem" wird zwar zur Beschreibung dieser Sportarten verwendet, doch der Begriff ist nicht klar definiert. Auf jeden Fall umfasst der Begriff Herausforderungen und bedeutet außerdem eindeutig etwas anderes als Golf oder Badminton. Das Wort kommt bei fast jeder Sportart zur Anwendung, die auf den ersten Blick wie eine gefährliche Schnapsidee anmutet -- an einer Plastikplane hängend über der Erde fliegen; sich von Klippen hinabstürzen, wobei lediglich ein elastisches Band den Tod in letzter Sekunde abwendet; wie eine menschliche Fliege an einem Abgrund klettern; oder in einer riesigen künstlichen Schale auf Fahrrädern, Inline-Rollschuhen oder Skateboards halsbrecherische Kapriolen vollführen.

Extremsportarten wurden erstmals im größeren Maßstab im Jahre 1995 öffentlich vorgestellt, als bei den vom Sportkanal ESPN initiierten "X Games" Teilnehmer in 27 Disziplinen von neun Klassen ihr Glück versuchten, von Bungee-Springen über Skateboardfahren zu Felsklettern. Diese "Sportarten" waren früher die Hobbys von verrückten Kids und Draufgängern, doch wie Candice Liu gezeigt hat, haben sie mit der Überwindung von Furcht und der Befriedigung der Phantasie auch etwas Segensreiches zu bieten. Heute fährt Liu etwa vier Mal die Woche nach Wanli, um selbst in die Luft zu gehen oder um Peter Liu zu helfen, dem Lehrer des Gleitschirmklubs, der ihr den Sport beigebracht hatte. Es überrascht nicht, dass man zum Gleitschirmfliegen ein wenig Anleitung benötigt, und Liu und andere unterweisen die Fliegeranwärter vor dem Abheben. Um Gleitschirmflieger zu werden, muss man dem Schüler beibringen, wie man startet, wie man den Schirm in der Luft kontrolliert und wie man grazil wie eine Möwe landet. Gleitschirmflieger müssen zudem den Himmel aufmerksam beobachten und lernen, wie man den Wind interpretiert und raues Wetter voraussieht. Man kann sich seine eigene Ausrüstung kaufen, was mindestens 120 000 NT$ (3000 Euro) kostet, oder man leiht sie sich für eine Tagesgebühr von rund 1000 NT$ (25 Euro).

Die Arbeit als Gleitschirmlehrerin gibt Candice Liu Zeit, ihren Traum auszukosten und ihn mit anderen zu teilen. Heute ist ein mit bunten Gleitschirmen getupfter Himmel mit alten Hasen und neuen Schülern in der Luft ein normaler Anblick über Wanlis Landschaft, doch den meisten Menschen ist der Sport weiterhin unbekannt. Das Extreme daran ist einer der Hauptgründe, warum die einen es lieben und die anderen die Finger davon lassen. Für manche ist der Adrenalinstoß beim Gleitschirmfliegen und anderen Extremsportarten an sich schon lohnenswert, doch für die meisten Menschen ist der Gedanke, Hunderte von Metern über dem Boden zu hängen und eine Katastrophe nur durch das Zerren an Leinen zur Kontrolle der Bewegungen eines Schirmes zu verhindern, eher eine Horrorvorstellung als Spaß. "Es gibt gewisse Risiken, aber wenn man sich an die Sicherheitsvorschriften hält, ist es wirklich ziemlich sicher", behauptet Candice Liu. "Alle Unfälle sind die Folge menschlichen Versagens." Sarkastisch fügt sie hinzu, dass bei Taiwans dichter Bewaldung die Baumwipfel eine weiche Landung gewährleisten, wenn mal was schief geht. "Eine Bruchlandung auf Bäumen ist selten lebensbedrohlich", schnarrt sie.

Vielleicht ist es gerade diese kecke, tollkühne Einstellung, durch welche diese Sportarten heute in Mode gekommen sind. Dabei sind Extremsportarten keine neue Erfindung. Felsklettern war bereits beliebt, lange bevor es als extrem bezeichnet wurde. Bungee-Springen wurde zuerst auf der kleinen Insel Pentecoast im pazifischen Vanuatu-Archipel praktiziert, und zwar schon vor Jahrhunderten in Form des rituellen Lianenspringens. Die moderne Version entstand in Neuseeland auf Initiative von A. J. Hackett, der 1987 vom Pariser Eiffelturm sprang und damit der neuen Sportart Publicity bescherte. Sie hat sich seitdem weltweit ausgebreitet.

In Taiwan haben Ausländer sowie Einheimische, die im Ausland auf Extremsportarten aufmerksam wurden, für die Verbreitung des Interesses an diesen ungewöhnlichen Hobbys gesorgt. So wurde etwa Bungee-Springen in Taiwan im Jahre 1991 von dem US-Amerikaner Cortney Smith eingeführt, der einen Klub gegründet hatte und dort den Einheimischen den Sport beibrachte. Seitdem haben über 30 000 Taiwaner den Nervenkitzel des freien Falls erlebt, meist an mehreren Stellen in Nordtaiwan. Als Meg Luo im August dieses Jahres zum ersten Mal sprang, fand sie die Erfahrung sowohl nervenzerfetzend als auch aufregend. "Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich beim Sprung den tiefsten Punkt erreichte", berichtet sie. "Vielleicht, weil ich die ganze Sache so schnell wie möglich hinter mir haben wollte." So wie die meisten Anfänger hatte auch Luo den Sprung mit dem Bungee-Seil um ihre Hüfte gebunden unternommen, und als es vorbei war, wollte sie es gleich noch einmal machen. "Ich konnte einfach nicht genug bekommen", erzählt sie. Das nächste Mal möchte sie mit dem Bungee -Seil um ihr Fußgelenk springen und dabei der Gefahr kopfüber ins Auge sehen.

Früher wurde Sport in Taiwan als unnötige Ablenkung von der Arbeit oder dem Studium betrachtet, doch der wachsende Wohlstand im Land förderte ein Interesse an Freizeitaktivitäten, und heute dringen die sportlich Gesinnten an die Grenzen der Körperertüchtigung vor.

Von allen Extremsportarten ist B3 -- diese Abkürzung steht für drei im Englischen mit "B" beginnende Sportarten: boarding (Skateboardfahren), blading (Inlineskaten) und bicycling (Radfahren) -- heute wohl am beliebtesten, und B3 steht im Mittelpunkt des Interesses des Extremsportverbandes Chinese Taipei. Chiang Chih-ming, der Direktor der Organisation, ist seit Jahren ein begeisterter Inlineskater. Die kurvigen Rampen, auf denen B3-Enthusiasten ihre Kunststücke vollführen, sah er zuerst im Fernsehen. Nie hatte Skateboardfahren größeren Spaß verheißen. Chiang besuchte später Bangkok und hatte dort die Gelegenheit, professionelle B3-Einrichtungen auszuprobieren. Auf diesen Konstruktionen können Skateboardfahrer, Radler und Rollschuhfahrer ihren Schwung behalten, indem sie gekrümmte Seitenwände -- die so gebaut wurden, dass die Fahrer auf begrenztem Raum hohe Geschwindigkeiten erreichen können -- hoch und runter fahren und tollkühne Tricks vorführen, dank denen das Zuschauen so großen Spaß macht. Chiang wollte auch für Taiwan eine solche Anlage, und vor allem seinen Bemühungen ist es zu verdanken, dass im Jahr 2000 die ersten professionellen B3-Anlagen der Insel der Öffentlichkeit übergeben werden konnten. Im Jahr darauf wurde der Extremsportverband Chinese Taipei gegründet, und seitdem sind die Leute in extremer Bewegung.

Bis an die Grenzen

Bungee-Springen wurde im Jahre 1991 in Taiwan eingeführt. (Foto: Huang Chung-hsin)

Viele Sportler kommen wegen der Möglichkeiten zu kreativer Selbstentfaltung und persönlichem Stil zu B3, und das erklärt seine Beliebtheit bei jungen Leuten unter 25, welche die Zuschauer gerne mit selbst erdachten Kunststückchen beeindrucken. "Diese Sportarten sind recht kreativ", urteilt Chiang. "Ihre technische Schwierigkeit ändert sich laufend, daher findet man immer wieder neu gestaltete Anlagen, um die Bedürfnisse der Sportler zu erfüllen."

Heute gibt es in Taiwan 29 B3-Anlagen, und Chiang schreibt ihnen das wachsende Interesse an dem Sport zu. "Diese Stätten sind Magneten für die B3-Fans", versichert er. "Sie tragen zur steigenden Beliebtheit des Sports bei, weil man sich dort die Extremsportler in action anschauen kann." Nach der Fertigstellung des ersten B3-Sportparks konnte Taiwan im Jahre 2002 seinen ersten internationalen B3-Wettkampf ausrichten.

Felsklettern hat in Taiwan eine noch längere Geschichte. Vor zwanzig Jahren veranstaltete der Alpenverein Chinese Taipei, Taiwans führender Förderer und Organisator von Kletterveranstaltungen, an Taiwans erstem künstlichen senkrechten Hindernisparcours Wettbewerbe für einheimische Bergsteiger. 1998 erhielt Felsklettern in Taiwan Auftrieb durch den siebten Asiatischen Sportkletter-Wettbewerb, die erste internationale Kletterveranstaltung, die in Taiwan stattfand. Der Felskletterlehrer Mark Ma nimmt an, dass sich die Zahl der künstlichen Kletterwände an öffentlichen Plätzen wie Parks und Schulen nach dem Wettbewerb verdreifachte, und schätzt ihre Zahl jetzt auf über 300.

Ma glaubt, dass das wachsende Interesse an Sportarten im Grenzbereich das Bedürfnis widerspiegelt, sich Abwechslung von der Arbeitswelt zu verschaffen und Dampf abzulassen. Nach seinen Worten sind viele der Leute, die für Kletterunterricht zu ihm kommen, Geschäftsleute und Technik-Fans mit stressigen Jobs. "Sie brauchen etwas Aufregung, um sich von der täglichen Tretmühle zu befreien", findet er.

Ein Teil dieser Befreiung für Kletterer besteht darin, dass sie Dinge tun, die sie sich früher nicht zugetraut hätten. "Früher hatte ich gedacht, Felsklettern wäre zu schwer für mich, aber jetzt weiß ich, dass ich es kann", freut sich Ano Law, der einmal die Woche mit seiner Frau klettern geht. "Seit ich mit dem Sport angefangen habe, habe ich ein neues Verständnis meines Körpers."

Für solchen Nutzen haben Eltern jedoch oft kein Verständnis, da sie "extrem" als riesiges Gefahrensignal betrachten. "Sie befürchten, dass ihre Kinder sich bei Extremsportarten verletzen könnten", weiß Chiang. "Das Etikett 'extrem' kann für die Entwicklung einer Sportart ein Nachteil sein."

Obwohl die Extremsportarten an Boden gewinnen, werden sie wohl nicht die Beliebtheit von Basketball oder Fußball erreichen. Zum einen sind sie allgemein vom Wesen her sehr individualistisch, indem eine einzelne Person gegen ihre Furcht kämpft. Nach Mas Beobachtung sind manchmal sogar geprüfte Lehrer viel mehr an ihren eigenen Leistungen interessiert als an der Verbreitung des Sports. Ma weist darauf hin, dass es Hunderte Felskletterlehrer mit Lizenz gibt, doch nur wenige von ihnen unterrichten auch. "Viele besorgen sich die Lizenz vor allem deswegen, um ein Erfolgsgefühl zu bekommen", kritisiert er. "Am Unterrichten haben die kein Interesse."

Chiang Chih-ming merkt an, dass die Extremsportarten noch recht jung sind, und so sind auch die meisten Sportler, die für den Extremsportverband Chinese Taipei und die 10 Niederlassungen im Land arbeiten, eher jüngere Semester. "Sie sind zu jung, um eine ernsthafte Einstellung zum Aspekt Werbung zu haben, und interessieren sich mehr für den Nervenkitzel des Sports."

Trotzdem nimmt das Interesse zu. So wurde zum Beispiel B3 ins Programm der ersten Asien-Hallenspiele aufgenommen, eine größere Sportveranstaltung im November 2005 in Bangkok. Chiang rührt auch beim Nationalrat für körperliche Fitness und Sport für die Aufnahme von B3 in Taiwans Nationalspiele die Werbetrommel, und letztes Jahr Anfang August fand im südosttaiwanischen Taitung die erste "Taiwan Open"-Meisterschaft für Gleitschirmflieger statt. Die Veranstaltung lockte 110 Athleten an, davon über 80 aus dem Ausland, gegenüber rund 20 im Jahre 2004. Im Laufe des letzten Jahres hat der Luftsportverband Chinese Taipei auch mehr Büros eröffnet, um für Gleitschirmfliegen zu werben, und die Paragliding-Freunde hoffen, dass ihre Disziplin in die nächsten World Games aufgenommen wird, die 2009 in der südtaiwanischen Hafenmetropole Kaohsiung veranstaltet werden. Felsklettern haben die Organisatoren der World Games bereits in die Wettkampfliste aufgenommen.

Wie die Extremsportarten in Mode kommen, so hat es den Anschein, dass "extrem" langsam von der breiten Masse angenommen wird. "Man kann nicht erwarten, dass der Wind immer günstig ist, wenn man starten will", philosophiert die Gleitschirmfliegerin Candice Liu, die aufs weite Meer unter der Flugstätte Wanli blickt. "Doch wenn man lange genug wartet, wird man früher oder später mit außerordentlich gutem Wind belohnt. Und der trägt einen zu Höhenflügen."

(Deutsch von Tilman Aretz)

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