15.12.2025

Taiwan Today

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Verkörperte Zeichen fließen im Raum

28.08.2006

Im Mai zeigte das taiwanische Tanztheater "Cloud Gate" seine Trilogie Cursive auf den Berliner Festspielen.

Nach der chinesischen Weltsicht verläuft alles Leben in Zyklen und Kreisen. In den traditionellen Qi-Lehren wird der Kreislauf des Qis(氣) betont. Auch für Lin Hwai-mins(林懷民) künstlerischen Prozess hat sich ein Kreis wieder geschlossen. In seinem dreiteiligen Choreographiezyklus Cursive, Cursive II und Wild Cursive ergründet der Choreograph Bewegung und Qi-Fluss der Kalligraphie. Und obgleich jedes Werk eine eigene Note und einen unterschiedlichen Ansatzpunkt der Kalligraphie vermittelt, schließt sich die Trilogie zu einer runden Einheit und verbindet sich zu einem großen gemeinsamen Atem. Lin Hwai-min, der seine Künstlerkarriere nicht nur als Choreograph, sondern auch als Autor begann, kommt mit der Cursive-Trilogie wieder zur Kunst des Schreibens zurück, jedoch mit einer neuen, körperlichen Handschrift. Und damit bringt er die von der Qi-Kraft durchdrungene chinesische Schreibkunst wieder zu ihrer Ursprungsquelle zurück, nämlich der Bewegung, dem Tanz.

Neue Wege der choreographischen Gestaltung

Als dreiteilige Choreographieserie erlebte Cursive gerade in Berlin seine Europapremiere, nachdem sie zuvor bisher nur in Hongkong in dieser Gesamtform zur Aufführung gekommen war.

Das Berliner Publikum feierte diese Arbeit mit tosendem Applaus. Und in der Tat stellt Lin Hwai-mins Ansatz, ebenso wie der anderer Choreographen in Taiwan -- man denke etwa an Liu Shaw-lu(劉紹爐) oder Lin Hsiu-wei(林秀偉) -- eine neue Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes dar, die einen eigenen, stark kulturell geprägten Weg verfolgt. Formsprachen und Inhalte dieser Choreographien beziehen sich auf ein Jahrtausende altes asiatisches Kulturgut. Die zeitgenössischen Tänzer versuchen sich auf dieses Kulturgut mit seiner spirituellen Komponente und seiner kontinuierlich verfeinerten Qi-Disziplin immer weiter einzulassen und es zu durchdringen. Das Cloud Gate Dance Theatre (Yun-men wu-chi雲門舞集) hat bereits seit Anfang der neunziger Jahre die Qi-Kraft mittels Techniken des T'ai Chi(太極) für die Bühnenkunst erforscht und in Stücken wie Songs of the Wanderers, Adagietto, Nirwana und Moon Water auf die Bühne gebracht.

Wenn sich Lin Hwai-min in der Cursive-Trilogie nun der Kalligraphie zuwendet, dann geht er damit noch einen Schritt weiter, denn in der chinesischen Schrifttradition und Ästhetik hat der Qi-Fluss eine wesentliche Bedeutung auf den Schaffensprozess des Künstlers und die Bildqualität seines Werkes. Der Kalligraphiestil der Kursivschrift, den Lin Hwai-min als Inspirationsquelle seiner Trilogie nutzt, ist eine alte Schriftform. Sie entstand nach der früheren Siegelschrift bereits in der Zeit der östlichen Han-Dynastie (25-220 n. Chr.) und gelangte während der östlichen Jin-Dynastie (317-420 n. Chr.) zur Vollendung. Dieser Stil, der als eine besonders fließende, leichte und elegante Schreibart gilt, wird schnell und spontan geschrieben.

Das Atmen der Bewegungsform

Frühe chinesische Kunstästhetiken, die meist auch in einem engen Bezug zum Daoismus stehen, benennen diese Werkqualität als shen yun(神韻), also den geistigen Rhythmus, und in späterer Zeit als qi yun(氣韻), den Atemrhythmus. Wenn sich in der Malerei oder der Kalligraphie eine hohe Qi-Kraft im Werk ausdrückt, dann spricht man also vom "Qi-yun" eines Bildes. Qi-yun ist der Lebensmoment des Künstlers, in welchem er seinen Geist und seine Seele sprechen lässt und diese Kraft in die Gestaltung einbringt. Das Qi der Umwelt und das Qi des Künstlers verbinden sich dabei zu einer Einheit, die sich in das künstlerische Werk einschreibt.

Wenn Cursive I von der Entstehung der Schriftzeichen handelt und der Qi-Fluss der Zeichen in körperliche Bewegung zurückverwandelt wird, so können wir erleben, dass die chinesische Schrift, die ja als Symbolsprache konkrete Lebensbilder in sich eingespeichert hat, wieder zu ihrem Ursprung des Lebendigen und Körperlichen zurückfindet. Die Tänzer folgen in ihren Bewegungen dem Atemfluss alter kalligraphischer Meisterwerke und versuchen die Essenz jener Bilder mit dem menschlichen Körper einzufangen und erneut zu artikulieren. Sie begeben sich hierbei auf die Suche nach dem essentiellen Geist und der Bedeutung von Form und Inhalt der Kalligraphie. Sie versuchen das Wesen dieses gestalteten Gedankens in den Körperausdruck zu transformieren. Die abstrakt wirkenden kalligraphischen Vorlagen alter Meister, die mittels Diaprojektionen als Hintergrund dienen, zeigen dabei eine einfache Struktur von schnell geschriebenen fließenden Linien und ineinanderlaufenden Strichen. Die Besonderheit der Kalligraphie und ihrer Übersetzung in Tanzbewegung lässt sich am besten mit einem chinesischen Sprichwort über die Kursivschrift ausdrücken: "Die Schrift endet, doch die Bedeutung geht weiter; der Pinsel wurde niedergelegt, doch die Kraft ist unendlich."

Schattierungen der Leere

In Cursive II folgt die Choreographie einem anderen Weg und verwandelt den Körper in Formsprache und Zeichen in einem leeren und vielleicht auch sakralen Raum. Die Variante von transparent wirkenden helleren Tuschebildern sowie das leere weiße Reispapier dienten für diesen Part als Vorlage. Es scheint, als vollzöge sich hier ein Übergang von der Fülle, die noch in der ersten Choreographie vorherrscht, hin zur Leere in dieser zweiten Sequenz. Lin Hwai-min beschreibt: "Ich war schon immer fasziniert von der Art, wie Tinte auf einem Reispapier fließt. Zart breitet sie sich aus und erzeugt dabei die unterschiedlichsten Schattierungen von tiefem Schwarz bis zu nebligem Weiß. Ich hoffe, diese reichhaltige Dynamik der tanzenden Zeichen in der Kalligraphie und die gelassene und doch intensive Kraft des leeren Raums auf dem weißen Papier vermitteln zu können."

Wenn man in der Kalligraphie einen langen kräftigen Pinselstrich in einem Atemzug zur linken Papierseite ziehen möchte, so wird man diese Bewegung zunächst mit einem kleinen Strich in die Gegenrichtung beginnen. Der dynamische sichtbare Strich stellt dabei die Yang-Komponente, der fast unauffällige kleine Anfangsstrich die Yin-Komponente der Bewegungsführung dar. Auch die Körperbewegung der Tänzer umfasst das Yin(陰) und das Yang(陽), ähnlich wie in der Schrift. Die polaren Elemente bedingen dabei einander. In jedem Yang ist bereits das Yin enthalten und umgekehrt. Während Yang die lichte, aktive, dynamische, männliche, harte, nach außen hin sichtbare Form gestaltet, beschreibt Yin das Verborgene und gilt als dunkles, passives, ruhendes, weibliches und weiches Prinzip. Vor der langsam kraftvollen Bewegung eines Tänzers mit weich ausgebreiteten Armen biegt und windet sich eine zierliche Tänzerin dynamisch und schnell. Der ruhenden Körperkraft einerseits wird auf der anderen Seite eine fragile unbeständige Bewegung gegenübergestellt. Auch werden im Tanz zurückgenommene passive Formen von aktiven, nach außen sich ausdehnenden Bewegungen abgewechselt. Die Umkehrung ist darin schon wieder angelegt.

Die Bildelemente im Hintergrund zeigen Porzellanstrukturen aus der Song-Dynastie (960-1279), die mit ihrer Maserung und hauchfeinen Rissen von helleren zu allmählich dunkler werdenden Schattierungen übergehen. Sie bringen damit das Verstreichen der Zeit zum Ausdruck, ganz so, wie sich eine Kalligraphie über Epochen hinweg allmählich in Farbe und Charakter verändert.

Ausbrechende Schriftzeichen

In der letzten Folge von Wild Cursive gibt Lin Hwai-min dann der freien und unbedacht-leidenschaftlichen Form des Kalligraphierens Raum. Eine Schriftform der Kursivschrift wird als Kuang Cao(狂草), als wilder, verrückter Kursivstil bezeichnet. Sie wurde von dem Mönch Huai Su(懷素) im 8. Jahrhundert n. Chr. praktiziert und gilt als schwer leserlich, ausdrucksstark, impulsiv. Die chaotischen und ungezügelten Elemente dieser Schrift haben Lin Hwai-min schon im ersten Bild von Wild Cursive beeinflusst, das dem Zuschauer mit Öffnen des Vorhangs entgegenschlägt: ein wirres dynamisches Urchaos der Bewegung, ungestüm, ursprünglich, ungezähmt. In der Übersetzung dieses Kalligraphiestils in Bewegung fließen in dieser dritten Sequenz des wild cursive auch stärker als in den vorhergehenden Teilen die markig-sehnigen und kraftstrotzend-kämpferischen Bewegungen der chinesischen Kampfkünste (wushu孫過庭) mit ein. Immer wieder wandelt sich die Bewegung vom quecksilbrigen Durcheinander zur geordneten Zen-Ruhe. Der klare geschlossene Gleichklang der Bewegung wirkt wie angehaltene Zeit, bis er wieder ganz unerwartet in ein freies, stürmisches Bewegungsspiel übergeht.

In einem Traktat zur Schriftkunst beschreibt der bedeutende Kalligraph Sun Kuo-t'ing 687 n. Chr. seine Erfahrungen mit Kursivschrift und berichtet über die ungeheure Vitalität und Lebendigkeit, die in einer mit Qi-Kraft geschriebenen Sprache möglich wird. Und es scheint gerade so, als habe Lin Hwai-min diese Erfahrungen des Kalligraphierens von Sun Kuo-t'ing im Tanz auf die Bühne gebracht: "Wenn man auf diese Weise die Schriftkunst studiert, achte man vor allem auf die Unterschiede zwischen hängender Nadel und tropfendem Tau, auf die Wunder von rollendem Donner und stürzenden Felsen, auf die Bewegung von Wildgänsen im Flug und Tieren auf der Flucht, auf die Gestalt von tanzenden Phönixen und erschreckten Schlangen, auf die Macht steiler Felswände und abfallender Gipfel, auf die Formen des Verweilens am Abgrund und des sich Anklammerns an vertrocknete Wurzeln, die manchmal schwer sind wie zusammengeballte Wolken, manchmal leicht wie Zikadenflügel. Wenn man den Pinsel bewegt, fließen Quellen hervor, wenn man ihn anhält, liegen Gebirge ruhig da. Sind die Linien zart und fein, dann gleichen sie dem Neumond, der sich vom Horizont erhebt, sind sie aber klar verteilt, so ähneln sie dem Heer der Sterne, die in der Milchstraße aufgereiht sind. Dann stimmt die Schrift überein mit dem wunderbaren Sein der Natur: ein Zustand, der sich nicht erzwingen lässt."*

Bei Lin Hwai-mins Sprache der Qi-Kunst, die sich einerseits in der Kalligraphie zeigt und von dieser in die Körpersprache des Tanzes übertragen wird, andererseits aber auch durch Lin Hwai-mins Techniken des T'ai Chi Daoyin(太極導引), einer von T'ai Chi -Meister Hsiung Wei(熊衛) entwickelten Kampfkunstmethode, ist also das Spontane und Natürliche, das Geschehenlassen ein wesentlicher Grundzug. Dieses Prinzip des Geschehenlassens wird von Meister Hsiung Wei insbesondere durch die formlose Kunst der Qi-Lehre übermittelt. Doch auch durch die Formkunst von Kalligraphie-Meister Huang Wei-jong(黃緯中) und durch die Bewegungslehre von wushu-Meister Adam Chi Hsu(徐紀) erschloss sich im Arbeitsprozess und in der Improvisation ein ungeahntes freies Bewegungsrepertoire. Nichtsdestotrotz sind Lin Hwai-mins Stücke in strenger Form choreogra-phiert und festgelegt. Und dieses Ineinanderfließen und Nebeneinander- und Zusammenbestehenkönnen von Form und Formlosigkeit, Absicht und Absichtslosigkeit scheint eine anspruchsvolle Aufgabe der choreographischen und der tänzerischen Gestaltung zu sein. Sie kommt einer Gratwanderung gleich, der sich Lin Hwai-min und sein Ensemble immer wieder neu stellen und die sie in immer neuen Dimensionen erforschen und gestalten.

Den Qi-Fluss einer Bewegung als Zuschauer mit nachzuvollziehen zu dürfen ist ein Genuss. Die Bewegung wird nicht aktiv ausgeführt, sondern von der Qi-Kraft schwebend getragen und in ruhiger Weichheit in kreisenden Formen und Schwingungen durch den Raum gezogen. Dann unerwartet gewinnt das Qi an Kraft und Dynamik. Eine weit ausholende Bewegung wird unvermittelt durch eine schnelle Handführung, einen Beinkick, durch einen schallenden Körperschlag oder einen kurz ausgestoßenen Laut wieder in zentrierte Ruhe gelenkt, bis dann die Qi-Kraft und mit ihr die Bewegung wieder aus der Körpermitte heraus spielerisch weiterfließt, sich überraschend eine neue Bahn bricht und dabei alle Körperpartien in kreisenden Bewegungen mit immer neuen Rhythmen und Kräfteströmen in alle Richtungen treibt -- dabei jedoch nie die Mitte und Körpererdung aufgibt. Die Atemkraft wird mit jeder Bewegung stärker und ruhiger, die Form immer fließender und weicher; kurz darauf aber kraftvoller, explodierender und im nächsten Augenblick gehalten und beruhigt -- in einem Moment des Stillstandes, der Absichtslosigkeit und Entspannung verharrend. Dann wieder bricht die Qi-Kraft, wie unterirdisch weiter getrieben, erneut an einem anderen Ort, einer gänzlich anderen Ebene hervor, ein neues Bild erschaffend, welches, unabhängig davon, ob es nun eher aktiver oder passiver Natur ist, eine gleichbleibende Qualität von Präsenz und Qi-Fließkraft ausstrahlt. Akrobatik reiht sich mühelos ein in Tanzbewegungen des Modern Dance, geht als flüchtiges Zwischenelement über in eine einfache Bewegungsform. Das Bühnenbild, das nur aus Reispapierbahnen besteht, auf die sich fast unmerklich Tusche ergießt und allmählich über das Papier hinweg verästelt, unterstreicht den freien Charakter des Kuang Cao-Stils. Gerade in der ersten und dritten Choreographie kommen sich die spontan und unwillkürlich wirkenden, doch von Lin Hwai-min in seiner Choreographie letztendlich gestalteten Bewegungen wieder ganz nahe und schließen damit den Kreis der Cursive-Trilogie. Aber auch das mittlere, meditativer und heller gestaltete Stück fördert in seiner Ruhe ebenso unerwartet dynamische und schnelle Sequenzen zutage, die indes durch eine andere konzeptionelle Gesamtbetonung eine andersartige Wertung und Wirkung zeigen. Doch alle Choreographien verdeutlichen das universelle Qi-Kräfteprinzip gleichermaßen, in dem es heißt: In der Ruhe herrscht Bewegung. In der Bewegung lebt wahre Ruhe.


*Übersetzung in Anlehnung an Goepper, Roger,
Shu-p'u. Der Traktat yur Schriftkunst des Sun
Kuo-t'ing. Studien zur Schriftkunst Ostasiens
2, Wiesbaden: Franz Steiner, 1974, S. 109 f.


Dr. Heike Gäßler ist Theaterwissenschaftlerin,
freie Journalistin und Künstlerin in Berlin und
ist mit ihren Arbeiten auf die Kunst und Kultur
Asiens spezialisiert. Ihre Dissertation schrieb
Heike Gäßler zum zeitgenössischen Tanz in
Taiwan, Hongkong und Festlandchina. Derzeit
forscht sie über Zusammenhänge von
chinesischen Kunstdisziplinen und Qi-Lehren.

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