Mit der Eröffnung der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn suchen andere Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel Nischen und diversifizieren ihr Angebot.
Das unverzichtbare Bedürfnis des Einen ist der Luxus des Anderen. Während die Züge der Gesellschaft für Taiwans Hochgeschwindigkeitsbahn ( Taiwan High-Speed Rail Corporation , THSRC) Geschäftsleute mit Geschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern zwischen Taichung und Taipeh hin- und hertransportieren, bevorzugen manche Reisende immer noch die langsameren Verkehrsmittel.
Joseph Chien zum Beispiel leistet seinen Pflichtwehrdienst in Taichung ab. Zwei Mal im Monat reist er die 150 Kilometer in die Hauptstadt, um seine Freundin zu besuchen. Statt des Superschnellzuges nimmt er aber lieber den altmodischen Überlandbus. Der Grund? "Das ist viel billiger", verrät er. Ein Fahrschein von King Bus, einem bedeutenden Busunternehmen in Taiwan, für eine einfache Fahrt über die Autobahn zwischen den beiden Städten kostet 260 NT$ (5,53 Euro), ein Ticket für den Hochgeschwindigkeitszug zwischen den beiden Städten dagegen 700 NT$ (14,89 Euro). Außerdem bieten Busunternehmen im Gegensatz zur THSRC in der Regel Rabatt, wenn man Fahrscheine für Hin- und Rückfahrt erwirbt, und als Wehrdienstleistender hat Chien Anspruch auf ermäßigte Bustarife. Insgesamt schätzt Chien, dass er durch die Busfahrten jeden Monat etwa 2000 NT$ (42,55 Euro) sparen kann.
Kosten sind nicht der einzige Faktor. Zwar braucht der Überlandbus an die zwei Stunden, während der Hochgeschwindigkeitszug die Strecke in weniger als einer Stunde bewältigt, doch Chien kann ganz in der Nähe seiner Wohnstätte in den Bus einsteigen. Der Bahnhof für den Hochgeschwindigkeitszug befindet sich dagegen in Wurih, über 10 Kilometer (20 Minuten mit dem Bus) von seiner Wohnung entfernt.
Chiens Fall zeigt, warum das Auftreten des neuesten Mitstreiters in Taiwans öffentlichem Verkehrswesen nur geringe Auswirkungen auf die öffentlichen Straßenverkehrsmittel hatte. Wegen der großen Unterschiede zwischen den Fahrpreisen bei Bus und Hochgeschwindigkeitszügen wurden die Busse im Verkehrswesen der Insel am wenigsten beeinflusst. "Wir und die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn haben unterschiedliche Schichten von Fahrgästen als Zielgruppe", bestätigt Shen Cheng-chi, Vorsitzender von King Bus. "Unsere Passagiere sind überwiegend Schüler und Studierende, Soldaten und Menschen mit geringem Einkommen. Man müsste schon übergeschnappt sein, wenn man nur 40 000 NT$ (851 Euro) im Monat verdient und viel mit Hochgeschwindigkeitszügen fährt." Wegen der Maßnahmen, die zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von King Bus ergriffen wurden, etwa seit Dezember letzten Jahres die Anschaffung neuer Busse als Ersatz für alte Fahrzeuge für die Fernstrecken zur Steigerung des Niveaus der Busflotte, waren die Auswirkungen auf die Einkünfte des Unternehmens laut Shen minimal.
Bei der Eisenbahnverwaltung Taiwan ( Taiwan Railway Administration , TRA), einer Abteilung des Ministeriums für Verkehr und Kommunikation ( Ministry of Transportation and Communications , MOTC), die fast die gesamte Eisenbahn der Insel außer dem Hochgeschwindigkeitszug betreibt, sieht es anders aus. "Bei Fahrten über mehr als 200 Kilometer verlieren wir viele Fahrgäste an die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn", bekennt Jang Ying-huei, Chefsekretär der TRA. Nach 120 Jahren Betrieb in Taiwan sieht sich die TRA heute nach der Eröffnung der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecke im Januar dieses Jahres einer großen Herausforderung gegenüber, die möglicherweise sogar noch größer ist als die Zäsur nach der Aufhebung des Verbots für Inlandsflüge im Jahre 1987.
Zurückgehende Einnahmen
Dieses Jahr gingen die Einnahmen der TRA zwischen dem 1. März und dem 31. Mai im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf der Linie an der Westküste, auf welcher der direkte Wettbewerb mit der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn besteht, bei Kurzstrecken (unter 50 Kilometer) um 1 Prozent und den mittleren Entfernungen des Regionalverkehrs (50 bis 200 Kilometer) um 3 Prozent zurück. Bei den Fernreisen über 200 Kilometer verzeichnete die TRA jedoch Einbußen in Höhe von 13 Prozent.
Laut Jang machten die Einkünfte von der Westküsten-Linie traditionell 85 Prozent der TRA-Gesamteinnahmen aus, die restlichen 15 Prozent kamen von der Ostküsten-Linie. Die 372 Kilometer lange, vierstündige Fahrt mit dem TRA-Schnellzug zwischen Taipeh und Kaohsiung war früher eine ganz wesentliche Einnahmequelle, doch jetzt, wo der Hochgeschwindigkeitszug die gleiche Strecke bedient, trocknet diese ehemals goldene Quelle schneller aus als jede andere TRA-Route. Ein Fahrschein für einen TRA-Expresszug von Taipeh nach Kaohsiung kostet 845 NT$ (17,97 Euro), verglichen mit den 1490 NT$ (31,70 Euro) für ein entsprechendes THSRC-Ticket, und es bleibt abzuwarten, wie viele kostenbewusste Reisende der TRA treu bleiben. Ein Fahrschein von Taipeh nach Kaohsiung kostet bei King Bus übrigens zwischen 400 und 500 NT$ (8,51--10,63 Euro), doch die Reisezeit beträgt mehr als 5 Stunden -- oder noch länger, wenn man in einen Stau gerät.
Für die TRA kommt das Schlimmste womöglich erst noch, da der Hochgeschwindigkeitszug gerade erst anfängt, die Wertschätzung und Treue der Reisenden zu gewinnen. Die Nöte der TRA verblassen indes im Vergleich mit dem Druck, unter den die Inlandsfluglinien geraten, denn schließlich kann sich die TRA zum Überleben immer noch auf die mittleren und kurzen Strecken verlassen. Für die Inlandsfluglinien ist der Konkurrenzdruck dagegen immens. Die Erfahrungen aus Japan und Südkorea zeigen, dass die Fluggesellschaften bei Strecken unter 500 Kilometern Länge einfach nicht mit der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn konkurrieren können. Mit der Eröffnung des THSRC-Services könnte die Auslastung der inländischen Westküsten-Routen um über 50 Prozent fallen.
Die Erfahrung Japans ist heilsam. Feng Cheng-min, Professor am Institut für Verkehr und Transport der National Chiao Tung University in Hsinchu, macht darauf aufmerksam, dass früher viele Passagierflugzeuge zwischen Tokyo und Nagoya verkehrten, eine Strecke, die ungefähr so lang ist wie die Entfernung zwischen Taipeh und Kaohsiung. "Doch seit der Shinkansen-Superschnellzug diese beiden Städte verbindet, blieben nur wenige Flüge für diese Route auf dem Flugplan", enthüllt Feng.
Die Probleme der Fluggesellschaften äußerten sich bereits in der Streichung von Flügen. Alle vier Fluggesellschaften auf dem Inlandsflugmarkt (Far Eastern Air Transport/FAT遠東, Mandarin Airlines華信, TransAsia Airways復興, Uni Air立榮) haben seit April die Zahl ihrer Flüge reduziert. Mandarin Airlines, die einzige Gesellschaft, die Flüge zwischen Taipeh und Taichung anbot, strich diese Route am 1. Mai komplett, und man rechnet jederzeit mit der Abschaffung des Linienflugverkehrs zwischen Taipeh und Chiayi (rund 260 Kilometer von Taiwans Hauptstadt entfernt), eine Route, die nur von einer einzigen Fluggesellschaft, nämlich Uni Air, bedient wird.
Trotz des rasanten Tempos der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn sind Flugzeuge immer noch schneller als jedes landgebundene Fortbewegungsmittel -- ein Flug von Taipeh nach Kaohsiung dauert etwa 50 Minuten, mit dem Hochgeschwindigkeitszug braucht man 90 bis 120 Minuten, je nachdem an wie vielen Bahnhöfen der Zug unterwegs anhält. Für viele Passagiere ist dieser zeitliche Unterschied jedoch von geringer Bedeutung, vor allem wenn man das umständliche Einchecken an oft ungünstig gelegenen Flughäfen berücksichtigt. Bei Tarifen von 1650 bis 1750 NT$ (35,10--37,23 Euro) an Wochentagen und 1500 NT$ (31,91 Euro) an Wochenenden sind Flüge zwischen Taipeh und Kaohsiung zumindest preislich konkurrenzfähig. Die THSRC-Bahnhöfe liegen gleichfalls oft nicht zentral. "Von einem überwältigenden Sieg für den Hochgeschwindigkeitszug kann noch keine Rede sein, vor allem weil viele der Bahnhöfe weit von den Stadtzentren entfernt liegen und es noch kein bequemes Anschlusssystem gibt", analysiert Feng. Das MOTC plant nun jedoch den Bau von Schnellbahnverbindungen zwischen Hochgeschwindigkeitsbahnhöfen und manchen Stadtzentren. Zwei sind derzeit in Hsinchu und Tainan im Bau.

Der Bahnhof der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn in Kaohsiung wurde durch einen neuen TRA-Bahnhof mit dem konventionellen Schienennetz verbunden. (Foto: Yeh Ming-yuan)
Zukunft für die Fluggesellschaften
Die vier inländischen Fluggesellschaften haben Mitte Mai damit begonnen, ihren Service durch Reform der Flugscheinausstellung zu verbessern, so dass Passagiere Tickets für die Reise von Taipeh nach Kaohsiung -- die am häufigsten geflogene Strecke im Inland -- kaufen und dann jedes Flugzeug nehmen können. Weit wirksamer bei dem Versuch, Kunden zurückzugewinnen, waren dagegen die Preissenkungen, welche den Preisvorteil von THSRC schwer minderten. Hanson Chang, Manager in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit von FAT, betont, dass diese Maßnahmen die Auswirkungen des Hochgeschwindigkeitszuges nur zu einem gewissen Grad abschwächen können. "Sie sind kein Allheilmittel für die schwierige Situation, mit der wir uns konfrontiert sehen", seufzt er.
Taiwans Inlandsfluggesellschaften sahen sich schon vor der Eröffnung der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn Finanzsorgen gegenüber. In Erwartung einer raschen Freigabe direkter Flüge zwischen Taiwan und China tätigten sie in den vergangenen Jahren beträchtliche Investitionen in neue Flugzeuge. Bisher ist es indes noch nicht zu regelmäßigem direkten Linienbetrieb über die Taiwanstraße gekommen, und die Vorbereitungen wurden zu einer schweren finanziellen Belastung. Stark steigende Ölpreise, die Abwanderung industrieller Produktion von Taiwan weg und eine unbefriedigende Wirtschaftsentwicklung auf der Insel haben ebenfalls zusammen zur Verminderung der Einkünfte beigetragen. Infolgedessen ist der Markt für Inlandsflüge laut Chang in den letzten drei Jahren um 10 Prozent jährlich geschrumpft. Der Hochgeschwindigkeitszug ist lediglich ein weiterer Schlag.
"Alle vier Inlandsfluggesellschaften halten noch durch und wollen sich nicht zurückziehen, nur weil wir auf die direkten Flüge über die Taiwanstraße warten", erläutert Chang. FAT bemühte sich mit der Einführung neuer Produkte um eine Verbesserung seiner Situation, wie beispielsweise Flüge zur Jeju-Insel in Südkorea, von wo aus man nach Beijing und zu anderen chinesischen Städten weiterreisen kann. Die vor vier Jahren eingerichtete Route erwies sich als überaus lohnend, da immer mehr Fluggäste mit Reiseziel China die koreanische Insel als Zwischenstopp Hong Kong vorziehen, um Zeit zu sparen. Derzeit finden jede Woche sieben solcher Flüge statt, vor September 2006 waren es noch drei pro Woche gewesen. "Wir erwarten, dass diese Route die Strecke zwischen Taipeh und Kaohsiung als größte Einnahmequelle der Fluggesellschaft ersetzen wird", verkündet Chang.
Entsprechend plant die TRA die Entwicklung von mehr Dienstleistungen, um mit den Herausforderungen durch die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn fertig zu werden. Ihre Absicht, sich auf besseren Service für Pendler und Kurzstrecken-Reisende zu konzentrieren, ist keine Überraschung. Auf den bestehenden Strecken werden neue Haltestellen eingerichtet, und der größte Teil neu erworbener Züge ist für den Pendeldienst vorgesehen. Im Mai wurden in Taiwan Züge mit Neigetechnik wie beim Pendolino eingeführt, die auf der Strecke Taipeh-Hualien verkehren. Diese Züge verfügen über einen Mechanismus, der den Fliehkräften in Kurven entgegenwirkt, so dass sie schneller fahren können als konventionelle Züge und sich die Reisezeit zwischen Taipeh und der Stadt an der Ostküste von drei auf zwei Stunden verkürzt. Laut Jang von der TRA sollen die Neigezüge auf mehr Verbindungsrouten zwischen der Ostküstentrasse und der Westküstentrasse eingesetzt werden. "Unser Vorteil gegenüber dem Hochgeschwindigkeitszug ist, dass wir ein komplettes Schienennetz um die ganze Insel herum besitzen", prahlt er.
Bei der TRA wird außerdem die Entwicklung von fremdenverkehrsorientierten Dienstleistungen groß geschrieben, und man verhandelt mit Reiseunternehmen über die Entwicklung von Pauschalreisen mit Besichtigung von Sehenswürdigkeiten auf Zugreisen. Desweiteren sollen Nebenstrecken ausgebaut werden, die bereits bei Urlaubern als Tourismus-Eisenbahnlinien beliebt sind, indem Bahnhöfe renoviert werden und man es den Fahrgästen ermöglicht, ohne Umsteigen von den Hauptstrecken zu den Nebenstrecken zu kommen. Ein Eisenbahnabschnitt in Zentraltaiwan, der lange stillgelegt war, soll im kommenden Jahr aufgrund seines historischen und touristischen Wertes neu eröffnet werden.
Ohne Diversifizierung geht es nicht
"Wenn man angesichts der neuen Herausforderungen dauerhafte Entwicklung will, muss man die Dienstleistungen diversifizieren", weiß Shen Cheng-chi. Zwar sind Transportunternehmer im Straßenverkehrsbereich am wenigsten von der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn berührt, doch King Bus war bei der Suche nach neuen Möglichkeiten nicht faul. Die Firma entwickelt nun Dienstleistungen wie Gepäcklieferung ins Haus und Autovermietung, die an neuen Transitstationen auf der ganzen Insel, welche King Bus zur Zeit einrichtet, zur Verfügung stehen sollen. "Wenige Touristen benutzen Überlandbusse als Verkehrsmittel, da sie es umständlich finden, den letzten Teil der Reise nach der Busfahrt zu regeln", meint er. "Bald werden sie jedoch eher dazu bereit sein, wenn sie an den Busstationen Autos mieten und dort auch wieder abgeben können." Der Lieferdienst ins Haus will es Kunden ermöglichen, große und schwere Objekte wie Obstkartons ohne Umstände nach Hause zu bekommen.
Diese Art der Innovation und besserer Dienstleistungen entstand als Reaktion auf die Konkurrenz durch den Hochgeschwindigkeitszug und kann Taiwans Gesellschaft als Ganzer nur nützen. "Die Entstehung neuer öffentlicher Verkehrsmittel wird sicherlich zur Umverteilung von Marktanteilen führen, doch die neue Herausforderung wird den Kuchen wahrscheinlich auch größer machen", spekuliert Wang Mu-han, Leiter der Abteilung für Transportbetrieb und -verwaltung im Transportinstitut des MOTC.
Wang rechnet damit, dass der Markt für öffentlichen Personentransport sich infolge der Eröffnung der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn vergrößern wird, da sie Schienen- und Straßentransportanbieter dazu brachte, neue Produkte zu entwickeln und Reisende zu gewinnen, die sonst lieber mit dem Auto oder dem Moped fuhren. "In einer Zeit, in der Energiesparen und Umweltschutz neue Schlagworte geworden sind, werden die Menschen überall von ihren Regierungen ermutigt, die Benutzung privater Verkehrsmittel zu vermindern", sagt Wang. Die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn mag ihren Konkurrenten Nöte verursachen, doch der Wettbewerb zeitigt auch positive Auswirkungen im Land.
(Deutsch von Tilman Aretz)