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Das Qi in Wallung bringen

01.09.2011
Dank der sanften Bewegungen eignet sich Taijiquan für Menschen aller Altersklassen. (Foto: Chang Su-ching)
In den letzten 20 Minuten eines dreistündigen Kurses unter der Leitung von David Shu fordert der 62-jährige Neurochirurg die etwa ein Dutzend Teilnehmer auf, sich hinzustellen, einen Fuß im Abstand einer Schulterbreite vom anderen hinzusetzen, die Arme auf Schulterhöhe zu heben und sie dann natürlich wie Pendel fallen zu lassen. Außerdem werden die Kursbesucher gebeten, alle fünf Mal, wenn sie ihre Arme vor und zurück schwingen lassen, zwei Mal ihre Knie zu beugen. „Atmen Sie natürlich und entspannen Sie ihren Körper“, mahnt Shu die Anwesenden.

Die kleine Szene ist ein typischer Auftakt einer kurzen Qigong-Lektion für Anfänger in Shus Praxis in der zentraltaiwanischen Stadt Taichung. Alle Teilnehmer sind Krebspatienten oder ihre Angehörigen. Sie haben Shus Praxis aufgesucht, um Hilfe beim Kampf gegen die Krankheit zu suchen, vor allem weil der in westlicher Medizin ausgebildete Arzt der lebende Beweis dafür ist, dass Krebs auf unorthodoxe Behandlung ansprechen kann. Im Januar 2003 hatte man bei Shu Dickdarmkrebs im Tertiärstadium diagnostiziert und ihm mitgeteilt, es sei unwahrscheinlich, dass er noch länger als drei Jahre leben werde. Nach Chemotherapie und Bestrahlung beschloss er im April 2003, die übliche Behandlung durch westliche Schulmedizin komplett abzubrechen, und lehnte auch eine ihm dringend empfohlene Operation ab. Stattdessen wurde der Arzt ein treuer Anhänger von Qigong (氣功) und nahm Unterricht bei dem bekannten Qigong-Meister Lee Feng-shan (李鳳山) in Taipeh. Als erstes stellte Shu fest, dass die Übungen seine Schmerzen linderten. Er setzte seine Übungen fort, und heute fühlt er sich prächtig. Diese Praktiken gibt er nun an seine Patienten weiter.

Anfangs wurde Shu von einigen seiner Kollegen, die westliche Schulmedizin praktizierten, zornig angegriffen, weil er nach ihrer Ansicht ein „schlechtes Beispiel“ für Krebspatienten darstelle. „Diese Kritik hat nachgelassen, weil ich noch lebe“, schmunzelt Shu, der zwei Bücher über seine Erfahrungen beim Kampf gegen Krebs mit alternativen Behandlungsmethoden geschrieben hat.

„Ich sage doch gar nicht, dass westliche Schulmedizin schlecht ist, aber man sollte damit aufhören, bevor man zu weit geht“, sagt er Krebspatienten über den Schaden, der seiner Meinung nach durch westliche Schulmedizin angerichtet wird, wenn sie „exzessiv“ angewandt wird, ein Phänomen, das er in Taiwan für recht verbreitet hält. „Ärzte sind in der Regel auf ihren Beruf zu stolz, wodurch sie unfähig werden, bei ihrer Einstellung gegenüber unorthodoxen Behandlungsmethoden eine Kehrtwendung zu vollziehen“, weiß Shu, der 30 Jahre lang westliche Schulmedizin praktizierte. Im Kontrast dazu versucht er, die therapeutischen Effekte von Qigong nicht zu übertreiben, zumal Qigong nur ein Teil der Verfahren gegen Krebs ist, die er in dem dreistündigen Kurs in seiner Praxis vermittelt. Daneben empfiehlt er eine gesunde Ernährung, chinesische Kräutermedizin und „richtige“ westliche schulmedizinische Behandlung. „Ich behaupte nicht, dass Qigong Krebs heilen könne“, beschwichtigt der Arzt. „Ich biete lediglich Rat und kläre die Patienten über alternative Methoden auf, die Gesundheit wiederzuerlangen.“

Qigong ist keinesfalls ein Allheilmittel, aber bei den Anhängern von Qigong herrscht Einigkeit darüber, dass die Übungen für Patienten einer Vielzahl chronischer Krankheiten Besserung bringen. „Westliche Schulmedizin kann die Symptome lindern, doch gleichzeitig wird der Körper belastet“, warnt Michael Chung, Direktor der Chikung Culture Society in Taipeh. „Am Ende muss man sich immer noch auf das eigene Immunsystem verlassen, um die Krankheit zu besiegen. Qigong kann das Immunsystem effizienter machen.“

Beim Qi anfangen

Entsprechend versichern Anhänger von Taijiquan (太極拳), dieses Übungssystem bringe ebenfalls Vorteile für die Gesundheit. Laut Chung ist Qigong die Grundlage für Taijiquan, eine aus dem alten China stammende Form der Kampfkunst, die im Deutschen zuweilen „Schattenboxen“ genannt wird. Das erklärt, warum die Anfängerkurse, welche die Organisation anbietet, sich auf Qigong-Unterweisungen für die Neulinge konzentrieren, bevor diese sich für die mittleren und höheren Fortgeschrittenenstufen mit Taijiquan-Kursen qualifizieren. „Sowohl bei Qigong als auch bei Taijiquan geht es um die Heranbildung von Qi (氣), also innerer Energie, durch Zwerchfellatmung, mit der man länger und tiefer atmen kann“, ergänzt er. „Das Qi wird auf diese Weise durch alle Kanäle im Körper fließen und die Organe stärken. Taijiquan ist die höhere Stufe, weil dabei bestimmte Bewegungsabläufe gelehrt werden, die sogar bei richtigem Kampf anwendbar sind.“

Nach der traditionellen chinesischen Sichtweise ist der menschliche Körper von „Kanälen“ von Qi durchdrungen, was bei der Kampfkunst, die Chung unterrichtet, von wesentlicher Bedeutung ist. „Qi verbessert die Flexibilität der Muskulatur und damit auch den Fluss und die Geschwindigkeit der Körperbewegungen“, doziert er. „Im Kontrast dazu wird bei Kampftraining im Westen mehr Augenmerk auf Muskelentwicklung gelegt.“

Mit den „Pushing Hands“-Übungen kann Taijiquan als aktive Zweikampf-Disziplin in offiziellen Turnieren praktiziert werden. (Foto: Courtesy National Tai Chi Chuan Association, Taiwan ROC)

In ethnisch chinesischen Gemeinschaften sind Qigong und Taijiquan seit Jahrhunderten populär, und 1990 wurde Taijiquan bei den Asienspielen in Beijing eine offizielle Sportart unter der Kategorie Wushu (武術), zu Deutsch Kampfkunst. „Man kann Taijiquan ungeachtet von Alter und Geschlecht praktizieren, und für die Übungen braucht man nicht viel Platz, außerdem kostet es wenig“, wirbt Huang Yu-sheng, Vorsitzender des Nationalen Taijiquan-Verbandes der Republik China in Taiwan.

Der 1956 gegründete Verband ist zuständig für Trainer- und Schiedsrichterschulung und organisiert zudem nationale und internationale Wettbewerbe. Daneben fördert er die Tradition durch Zusammenarbeit mit fast 140 Mitglieds-Gruppen in Taiwan und 60 im Ausland, namentlich in Japan, Malaysia, Europa und den Vereinigten Staaten. Nach Ansicht des 80-jährigen Kampfkunstfreundes sind die in Taiwan am häufigsten geübten Taijiquan-Stile die Chen-Schule (陳式) und die Yang-Schule (楊式) aus Festlandchina. Der Chen-Stil eignet sich besser für jüngere Leute, weil er mehrere heftige Bewegungen umfasst, wogegen der Yang-Stil, der durchweg durch sanfte Bewegungen gekennzeichnet ist, von jedermann gemeistert werden kann.

Heute empfehlen neben David Shu immer mehr Fachleute der westlichen Schulmedizin den gesundheitlichen Nutzen von Qigong und Taijiquan. Wang Chun-shiung, Kardiologe am Taipei City Hospital, betreibt selbst aktiv Taijiquan und organisierte vor etwa acht Jahren erstmals einen Taijiquan-Kurs für seine Patienten. Vor etwa vier Jahren führte Wang ein Experiment durch, bei dem etwa 30 seiner Patienten sich einer Reihe physiologischer Test unterzogen und dann anfingen, Taijiquan zu lernen. Nach drei Monaten mit Übungen in der Kampfkunst wurden die gleichen Tests noch einmal durchgeführt. „Im Schnitt waren ihre Cholesterinwerte um 8 Prozent gesunken, und ihre Blutgefäße waren belastbarer geworden“, bilanziert der Arzt. Die Taijiquan-Lektionen werden weiterhin fortgesetzt und locken auch gesunde Interessenten an.

Im Jahre 2006 führte das Taoyuan Chang Gung Memorial Hospital in Nordtaiwan einen Test über das Gleichgewichtsvermögen von 86 Personen der Altersgruppe 60-70 durch. Unter den Probanden waren 32 Personen, die seit langem Taijiquan praktizierten, 20 waren regelmäßige Schwimmer, und 34 waren freiwillige Hilfskräfte in der Klinik, die keinen Sport trieben. „Die Taijiquan-Freunde zeigten die eindrucksvollsten Ergebnisse“, verrät Alice Wong, Superintendentin des Krankenhauses und verantwortlich für die Tests 2006, Teil eines vom Nationalen Wissenschaftsrat (National Science Council, NSC) finanzierten Projekts über den gesundheitlichen Nutzen dieser Form der Leibesübung. Die Testergebnisse wurden 2010 in Archives of Gerontology and Geriatrics veröffentlicht, einer US-amerikanischen Zeitschrift über Alterungsfragen, und der Artikel kam zu dem Schluss, dass regelmäßiges Üben von Taijiquan bei älteren Menschen die Gefahr verringern könnte, umzufallen; bei Senioren können Stürze zu schweren Verletzungen oder sogar zum Tod führen.

Taijiquan zu üben hat viele Gemeinsamkeiten mit der Haltung eines Reiters auf dem Pferd, die gut für die Muskulatur in Beinen und Füßen ist“, erläutert J. S. Lai, Arzt in der Abteilung für Physiologie und Reha in der Universitätsklinik National Taiwan University Hospital (NTUH) in Taipeh. Die Reiterstellung, in der chinesischen Standardhochsprache „mabu“ (馬步) genannt, ist eine grundlegende stehende Haltung bei Kampfkunst.

Innere Übung

Für die Reiterstellung platziert man die Füße im Abstand einer Schulterbreite auseinander und winkelt die Knie leicht an. „Mit einem starken Quadrizeps, dem größten Muskel im menschlichen Körper, verbessert man die Herz-Lungen-Ausdauer“, doziert Lai. „Mit starken Muskeln in den Unterschenkeln und Füßen verbessert sich das Gleichgewichtsvermögen. Taijiquan sieht auf den ersten Blick recht sanft aus, aber es dauert lange, bis man die Haltungen und Bewegung vervollkommnet hat. In Wirklichkeit ist das quasi eine Aerobic-Übung mittlerer Intensität.“ Er fügt hinzu, dass Taijiquan auch hilfreich dabei sein kann, Bluthochdruck und Diabetes unter Kontrolle zu halten.

Daneben hat dieser traditionelle chinesische Sport eine esoterische Seite, wie es sie in westlicher Schulmedizin, die sich auf Säulen wie menschliche Anatomie und Physiologie stützt, nicht gibt. „Man kann die Existenz des Qi und der ,Kanäle‘ im menschlichen Körper nicht wirklich beobachten“, gesteht Wang Shwu-fen, Professorin an der Schule für Physiotherapie der National Taiwan University (NTU) in Taipeh. Nach Auskunft der Gelehrten geht das metaphysische Fundament von Taijiquan, nämlich das taoistische Konzept von Yin (陰) und Yang (陽), noch weiter über den Bereich westlicher Schulmedizin hinaus. Andererseits haben vom Standpunkt eines Physiotherapeuten aus gesehen alle Arten von Leibesübungen ihren gesundheitlichen Nutzen, und Taijiquan ist da keine Ausnahme, bemerkt Wang. „Es ist besonders geeignet für Senioren, da es für den Körper ein schonender Sport ist.“

Studien haben ergeben, dass man durch regelmäßige Taijiquan-Übungen die Gesundheit fördert, besonders das Herz-Lungen-System. (Foto: Huang Chung-hsin)

Gleichzeitig halten sich Zweifel an der therapeutischen Wirkung des Qi, auch unter den Patienten im Endstadium, welche David Shu berät. Von den über 6000 Krebspatienten, die er in seiner Praxis betreut hatte, führten nur etwa fünf Prozent die von ihm empfohlenen alternativen Behandlungen einschließlich Qigong zu Ende. „Die Familien der Patienten mischen sich in ihre Entscheidungen ein“, berichtet er. „Andere Ärzte warnen sie eindringlich vor weniger üblichen Therapien. Infolgedessen geben viele auf halber Strecke auf und beschließen, für Standardbehandlungen gemäß westlicher Schulmedizin zurück ins Krankenhaus zu gehen. Doch wenn man nicht am Ball bleibt, wie kann man da Resultate erwarten?“ Im Kontrast dazu stellen jene, die bei der Stange bleiben, Verbesserungen bei ihrer Gesundheit fest.

Wenn man das Ziel nicht aus den Augen verliert, wirkt sich das auch auf das Übungsverhalten aus. Peggy Meng hat erst in diesem Jahr mit einem Qigong-Kurs angefangen, doch sie spürt bereits jetzt die lindernde Wirkung der Übungen, wogegen sie zuvor häufig an Schwindel und Steifheit im Nacken litt. „Qigong sieht für den Betrachter nicht heftig aus, doch am Ende einer Qigong-Session schwitze ich immer stark“, erzählt die 44-Jährige. „Das kommt daher, dass ich mich mental auf das Training konzentriere und streng den Anweisungen folge. Ich brauche den Unterricht. Wenn ich allein zu Hause übe, habe ich oft eher eine laxe Einstellung, und die Wirkung ist schwächer.“

Michael Chung weist zudem darauf hin, dass man beim Üben von Qigong Geduld braucht, und man müsse regelmäßig 6 bis 12 Monate üben, bis eine erkennbare Wirkung auf die körperliche Konstitution feststellbar sei und die Tendenz, zum Beispiel zu ermüden, Kopfschmerzen zu bekommen oder sich zu erkälten, vermindert würde. Für alle, die Taijiquan betrieben, sei es wesentlich, richtiges Qigong-Training zu erhalten. „Viele ignorieren das, auch manche Lehrer, und bei denen läuft es darauf hinaus, dass sie lediglich die äußere Form von Taijiquan erlernen“, tadelt er und bezieht sich damit auf die Tendenz, sich auf die Bewegungen zu konzentrieren und keine innere Kultivierung zu betreiben.

Joel Schachter lässt sich ähnlich vernehmen, denn er hatte die gleiche Erfahrung, als er in den USA Kung-fu (功夫) erlernte, eine andere Richtung chinesischer Kampfkunst. „Die Menschen in den USA üben oft direkt Taijiquan“, enthüllt er. „So habe ich meinem Körper geschadet und hatte Gesundheitsprobleme wie schlechte Gelenke, bevor ich nach Taiwan kam und die richtige Methode fand.“ Schließlich begann der Amerikaner Qigong-Übungen im Kurs von Michael Chung, wodurch Schachter nach eigenem Bekunden seine Gesundheit verbessern konnte. „Qigong legt ein stabiles Fundament [für jene, die Taijiquan praktizieren]“, bestätigt Ann-Marie Hadzima, eine andere Chung-Schülerin. Sie bekam Interesse an Taijiquan, nachdem sie als High School-Schülerin in den siebziger Jahren im US-amerikanischen Fernsehen die beliebte Serie Kung Fu gesehen hatte. Beide Amerikaner nehmen seit Mitte der neunziger Jahre bei Chung Unterricht.

Mit „innere Kultivierung“ ist auch eine Verbesserung der mentalen Fähigkeiten gemeint, durch die man einen Zustand des inneren Friedens erreichen kann, was erklärt, warum der Qigong- und Taijiquan-Meister außerdem einen Kurs über Philosophie als Teil des Pensums anbietet. „Sie müssen Ihre Stimmung heben und eine aufgeschlossene Geisteshaltung haben, damit Sie sich von den Sorgen und dem Druck störender, unbedeutender Angelegenheiten freimachen können“, predigt Chung. „Dann kann Ihr Geist jederzeit in einen ausgeglichenen Zustand gelangen.“

Auch wer seine Zweifel am Nutzen von Qigong hat, sollte trotzdem über Chungs Worte nachdenken und Voreingenommenheit aufgeben, um die Gelegenheit zu bekommen, den eigenen Geist zu erweitern und den Fluss des wundersamen Qi zu finden.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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