Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Jahre der Mühen und der Hingabe, die es auf sich zu nehmen galt, bis ihre Errungenschaften von der Öffentlichkeit anerkannt wurden, sich ihr um so klarer ins Gedächtnis geprägt haben, als die begabte Schauspielerin, die sie heute ist, eine jahrelange, aufreibende Ausbildung hinter sich hat.
Kuo begann mit sechs Jahren mit ihrer Ausbildung, indem sie Texte auswendiglernte und sich die grundlegenden Körperbewegungen, Kampf-Techniken und andere akrobatische Fertigkeiten aneignete, die für die Aufführung von Peking-Opern notwendig sind.
Trotz jahrzehntelanger Ausbildung und Erfahrung betrachtet Kuo jeden ihrer Bühnenauftritte als neue Herausforderung ihres Perfektionismus. Das Ergebnis ist Meisterschaft in einer jahrhundertealten Disziplin, eine Leistung, die aufs Schönste zur Geltung kommt, wenn sie die sanfte Dame Chu Ying-tai, die tragische Heldin aus der "Legende von Liang Shan-po und Chu Ying-tai" spielt, einer klassischen Geschichte unerwiderter Liebe. Ihre Darstellung kraftvollerer Charaktere, wie sie in "Die zwei Schönheiten der roten Kammer" auftreten, wo sie eine Frau mit starker Persönlichkeit und fester moralischer Überzeugung verkörpert, ist nicht weniger meisterhaft.
Außerhalb der Bühne ist Frau Kuo von charmanter Anmutigkeit, aber der sogenannte Schutzengel der Peking-Oper wurde in Opernkreisen im Laufe ihrer Karriere selten mit den Attributen "liebenswürdig" oder "tolerant" bedacht. Ihr unerbittlicher Professionalismus und die Neuerungen, die sie in die Peking-Oper eingebracht hat, haben Anhänger von Konventionen häufig in Rage versetzt. Aber die strengen Anforderungen, die sie an ihr Ya-yin-Ensemble (雅音小集, Anmutige Melodie-Ensemble) und noch mehr an sich selbst stellt, haben der traditionellen Oper neue Kraft verliehen und ihr Image aufpoliert.
Kuo bezeichnet sich selbst als hitzköpfig, aggressiv, streng, haßt harte Kritik und ist sogar etwas egoistisch. Ihre Schauspieler-Kollegen betrachten sie als eine extravagante Interpretin der großartigen Hauptrichtung der Peking-Oper, und die Zuschauer sehen in ihr einen brillianten, hart arbeitenden, einen mitreißenden Opernstar, dem eine besondere persönliche Anziehungskraft eigen ist. Alle diese Ansichten illustrieren die Vielschichtigkeit, die für gewöhnlich zu echten Berühmtheiten gehört.
Aber Kuo Shiao-chuang ist mehr als eine fähige Schaupielerin, wie man aus dem folgenden Interview mit der Zeitschrift Free China Review erkennen kann. Sie ist ihrem Fach und der Erhaltung und Entwicklung der traditionellen chinesischen Kunst tief verpflichtet - und sie war bereit, uns ihre knappe Zeit zu widmen, um ihre Gedanken über die Rolle der Kultur im modernen Taiwan zu äußern.
FCR: Kultur ist immer den Veränderungen in der Gesellschaft unterworfen. Heute werden jahrhundertealte Volkskünste - und die chinesische Oper ist davon nicht ausgenommen - von Alternativen wie dem Fernsehen, Filmen und Videobändern herausgefordert. Es scheint, daß sogar das Überleben der Volkskultur auf dem Spiel steht. Was kann man tun, um das kulturelle Erbe zu bewahren und den Verfall der traditionellen Kunst in der modernen Gesellschaft aufzuhalten?
Kuo: Der Fortbestand unserer traditionellen Kultur ist ein ernsthaftes Problem. Die Leute kümmern sich heutzutage sehr wenig um kulturelle Angelegenheiten. Kultur muß gepflegt werden. Sie kann nicht ohne das Leben existieren. Die Leute müssen mit der Kultur leben, um sie am Leben zu erhalten.
Jede Kultur ist einzigartig. Das heißt, um das ästhetische Empfinden entstehen zu lassen, das man braucht, um eine Kunstform schätzen zu können, ist eine Art von besonderem Erleuchtungsvorgang, entweder formal oder informell, vonnöten. In Ländern wie den USA, Japan und Korea üben die Massenmedien - insbesondere das Fernsehen - eine herausragende erzieherische Funktion aus, indem sie den Leuten dabei helfen, Volkskunst zu würdigen. Aber die meisten Medien in Taiwan haben praktisch darauf verzichtet, ihre Rolle als Erzieher der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Außerdem beschränkt sich das Wesen der Würdigung von Volkskunst nicht nur auf die Ästhetik. Sie trägt auch zur Weitergabe ethischer Werte bei. Die Leute führen den Verfall der öffentlichen Ordnung und die gewaltig gestiegene Kriminalitätsrate auf eine Verwischung der Werte des modernen Menschen in einer städtischen Industriegesellschaft zurück. Menschen, die ihre kulturellen Wurzeln nicht zu schätzen wissen, werden eine schmerzhafte Leere in ihren Herzen empfinden.
Die Leute sollten nicht dabei stehenbleiben, der Tradition ihren Platz in der Gesellschaft anzuweisen, wenn sie über die kulturelle Kontinuität nachdenken. Die Frage geht darüber hinaus. In Wirklichkeit geht es um unsere kulturelle Identität, und das ist ein ernsteres Problem, als es bei oberflächlicher Betrachtung zu sein scheint. Ich glaube, die Leute, die bei den Massenmedien arbeiten, sollten sich ihrer Verantwortung als Erzieher deutlicher bewußt werden und von ihrer alles aufzehrenden Rolle als Geschäftsleute wegkommen.
Man muß die Dinge auch von der institutionellen Seite her betrachten. Repräsentanten der Regierung und Gelehrte haben oft beklagt, daß die Leute die Volkskunst abschätzig als kitschige, drittklassige Tradition betrachten. Obwohl in den letzten Jahren öffentliche Preise und finanzielle Unterstützung immer häufiger geworden sind, haben die Leistungen unserer jungen Künstler wenig Beachtung gefunden. Es ist leicht einzusehen, daß die Ansichten und Fähigkeiten der jungen Künstler mehr Aufmerksamkeit verdienen, wenn die kulturellen Traditionen Chinas fortgesetzt werden sollen. Ihr Einfluß auf die Künste wird sehr stark mitbestimmen, was in Zukunft geschehen wird.
Nehmen wir die Peking-Oper als Beispiel. Das Können und die grundlegende Ausbildung der Schüler in Taiwan läßt wenig zu wünschen übrig. Das Problem ist aber, daß ihr Ansatz zu stereotyp ist. Es fehlt an Kreativität. Sie brauchen mehr Raum, um ihre eigenen Ideen zu entwickeln und das Gelernte in eine neue Form zu bringen. Wir brauchen unverbrauchte junge Künstler, um unseren Volkskünsten neue Inspiration und neue Nahrung zu geben. Einige unabhängige Ensembles haben sich bei ihrer Arbeit diese Grundsätze zu eigen gemacht, und sie sind in den letzten Jahren schnell gewachsen. Ihre Aufführungen ziehen große Zuschauermengen an, aber ihnen fehlt ausreichende finanzielle Unterstützung. Unglücklicherweise haben einige von ihnen bereits aufgeben müssen, und andere stehen am Rande des Bankrotts.
FCR: Das Ya-yin-Ensemble wird von der Hsu Yuan-chih(徐元智)-Kulturstiftung und dem Rat für Kulturelle Planung und Entwicklung unterstützt. Glauben Sie, als Gründerin und Hauptdarstellerin der Truppe, daß private Stiftungen bei der Förderung der traditionellen Künste eine aktivere Rolle spielen sollten?
Kuo: Ich möchte zuerst für die finanzielle Unterstützung danken, die wir für das Ya-yin-Ensemble und sein Zentrum für Opernforschung erhalten haben. Aber ich glaube nicht, daß es unsere Volkskultur wiederbelebt, wenn wir die Mittel verschiedener Stiftungen zuschießen. Meiner Ansicht nach kann die finanzielle Unterstützung von seiten privater Stiftungen nicht alle Probleme lösen, und diese Unterstützung wird nicht immer einen gleichermaßen positiven Effekt haben. Eine Truppe, die ihr eigener Herr ist, kann ihre kreative Unabhängigkeit besser aufrechterhalten.
Stattdessen brauchen wir heute am dringendsten ein neues Image für die Volkskultur, weil das allgemeine soziale Umfeld entscheidend bestimmt, wie gut es um die einzelnen Aspekte der Kultur bestellt ist. Als erstes sollten wir neue Ideen und Sichtweisen in die traditionelle Kultur einbringen. Wir müssen die Vorstellung ablegen, daß das Neue und das Traditionelle nicht zusammenpassen. Wir brauchen auch energische Führung, um den Geist und die Moral der Künste zu beleben, wie bei anderen Bemühungen auch. Die Hilfe der Regierung und der Medien sind ganz ohne Zweifel entscheidend, wenn es um die Erhaltung der Volkskultur geht.
Kuo Hsiao-chuang vor ihrem Bühnen-Ich: "Ich habe versucht, die Peking-Oper zu einer Kunstform zu machen, die mit der Gegenwart vereinbar ist."
FCR: Seit das Ya- Yin-Ensemble 1979 gegründet wurde und seit seinem ersten Auftritt sind Ihre Neuinterpretationen der traditionellen Peking-Oper umstritten. Aber die modernen Inszenierungen kamen beim jugendlichen Publikum besonders gut an. Warum haben Sie sich entschlossen, die traditioneIle Form abzuwandeln und worin bestehen diese Abwandlungen?
Kuo: Als Kind hörte ich oft den Slogan "Unterstützt unser kulturelles Erbe". Nicht jede Anstrengung, die sich an diesem Slogan orientierte, war zum Scheitern verurteilt, aber auf der anderen Seite wurde auch nicht viel getan. Der Kern der Sache liegt in der starren Verwaltung und den unflexiblen Institutionen. Die bestehende Strukturen sind wirklich nicht mit unseren gegenwärtigen Bedürfnissen in Übereinstimmung zu bringen.
Das hat dazu geführt, daß junge Künstler es einfacher finden, ihre Karriere in Schauspielgruppen zu beginnen, denn diese werden als kreativer angesehen, weil sie große Freiräume haben, um ihre Ideen umzusetzen und die alten Stücke neu zu interpretieren. Obwohl manche dieser Experimente als roh oder nicht traditionell kritisiert wurden, ist das ja gar nicht so schlimm. In unserem Fall mußte das Ya-yin-Ensemble sich in den ersten paar Jahren ein dickes Fell zulegen und falsche Anschuldigungen über sich ergehen lassen, die besagten, wir kopierten Adaptionen der Peking-Oper, wie sie auf dem chinesischen Festland üblich waren.
Ich liebe die chinesische Tradition, aber ich stimme denen nicht zu, die sich krampfhaft an die Tradition klammern. Das ist irrational und es behindert nicht nur Ya-yin, sondern auch all diejenigen, die auf anderen Gebieten der Volkskunst aktiv sind. Ich habe aus der Zustimmung, die mir Jugendliche in einer Flut von Briefen und Telefongesprächen entgegenbrachten, viel Inspiration für meinen Ansatz bezogen. Die Jugendlichen schätzen das, was wir gemacht haben.
Früher wurden Peking-Opern ausschließlich in traditionellen chinesischen Opernhäusern mit ihren winzigen Bühnen und spärlichen Dekorationen aufgeführt. Heute würden Aufführungen unter solchen Bedingungen ein junges Publikum abschrecken - und Truppen ohne Publikum würden bald dahinsterben. Daher habe ich versucht, die traditionelle Oper so zu modifizieren, daß sie modernen Aufführungsbedingungen gerecht wird. Anfangs hatten die jungen Leute Schwierigkeiten, ihre Vorstellung von dem kontrollierten Ritual der Peking-Oper mit unseren Aufführungen in modernen Theatern - Laserbeleuchtung, Drehbühne und erhöhte Bühnenrampe mit eingeschlossen - in Übereinstimmung zu bringen. Aber schließlich änderten sie ihre Haltung gegenüber der Peking-Oper, und sie begannen, sie zu lieben.
Das zeigt, daß traditionelle Künste ihre Vitalität wiedergewinnen können, wenn man ihnen den Geist der Gegenwart einflößt. Die sogenannten Hüter der Tradition halten die Vergangenheit am Leben, doch im Verlauf dessen reduzieren sie ihr Wesen auf eine Anzahl oberflächlicher Gesten. Um junge Leute anzuziehen, müssen sich die Volkskünste auf den Ton der modernen Zeiten einstimmen. Symbolische Gesten wie die des Reisdreschens oder des Reisens in einer Sänfte haben ihre Bedeutung verloren. Niemand heutzutage hat solche Erfahrungen und ist in der Lage, die Gefühle der Bühnenfiguren zu teilen. Einst allgemein anerkannte philosophische Wahrheiten haben sich ebenso geändert wie das ästhetische Empfinden. Das ist der Grund, weshalb ich versucht habe, die Peking-Oper zu einer Kunstform zu machen, die mit der Gegenwart und dem modernen Theater vereinbar ist.
Ich bin glücklich darüber, daß Ya-yin auf eigenen Füßen stehen kann und sich großer Beliebtheit erfreut. Unser Schweiß und unsere Tränen werden belohnt. Wir sind nun eher als zuvor bereit, finanzielle Unterstützung von außen anzunehmen, und ich denke, wir sind es wert. Wir haben die Kraft, wir selbst zu sein.
FCR: Die chinesische Oper verkörpert traditionelle ethische Werte und Moralkonzepte. Glauben Sie, daß die ursprüngliche gesellschaftliche Funktion der traditionellen Künste mit modernen ethischen Standards und einem modernen autonomen Kunstbegriff koexistieren kann?
Kuo: Das rasche Wirtschaftswachstum und der Einfluß ausländischer Medien in Taiwan haben große Veränderungen in der Haltung der Menschen ausgelöst. Das traditionelle Wertesystem ist nicht länger die ausschließliche Quelle der chinesischen Kultur. Die Geschichte lehrt uns, daß China ein Schmelztiegel verschiedener Völker ist und nicht die monolithische Kultur, die viele Menschen vor Augen haben. Das hat zur Folge, daß wir ziemlich flexibel sind und uns rasch an veränderte Situationen anpassen können.
Die herkömmliche Kargheit der chinesischen Opernbühne hat Kuo Shiao-chuang, wie hier in "Prinzessin Ah-kai", mit Dekorationen belebt, die gleichwohl die Abstraktion und Symbolik des klassischen Theaters beizubehalten suchen. Zusätzlich bereichert wurde die Peking-Oper durch den Einsatz modernster Lichttechnik und durch eine Anzahl weiterer Instrumente im Orchester.
Meiner Meinung nach sollte alles, was wir auf die Bühne bringen, der Erziehung und nicht nur der Unterhaltung dienen. Kunstwerke müssen einen tieferen Sinn besitzen. Das bedeutet nicht unbedingt, daß sie dogmatisch sein müssen, aber es schließt eine innere Wahrheit in Dingen des Geistes und der Seele ein. Kreativität und Sinnerfülltheit sind die beiden Grundpfeiler jedes Kunstwerks von Dauer. Wenn der Schauspieler auf der Bühne das Leben eines wirklichen Menschen darstellen will - eines Menschen mit Leidenschaften, eines Menschen von Fleisch und Blut -, dann muß er dabei aus seinem eigenen Ich schöpfen. Ein solcher Vorgang wird die Gefühle des Darstellers intensivieren und diejenigen des Publikums mit einbeziehen. Die Einheit von Herz und Seele zwischen Darstellern und Publikum ist der Schlüssel zu allem. In der letzten Inszenierung des Ya-yin-Ensembles, "Prinzessin Ah-kai", ist uns diese Einheit gelungen. Alle waren zu Tränen gerührt.
FCR: Glauben Sie, daß wir mehr spezialisierte Forschungseinrichtungen wie das Zentrum für Opernforschung des Ya-yin-Ensembles brauchen?
Kuo: Natürlich sind spezielle Einrichtungen für die Forschungsarbeit notwendig. Ich glaube aber, daß die Erziehung mehr bewirken kann. Kinder sind in der Lage, alles aufzunehmen, was man ihnen beibringt. Doch solange der Prüfungsdruck wie bisher seine Rolle als der Fluch unseres Erziehungswesens spielen darf, können die zuständigen Behörden nicht mehr als einige unbedeutende Änderungen in den Lehrplänen vornehmen, um sie für die Schüler ein wenig interessanter zu machen. Die Volkskultur muß nicht notwendig langweilig für die Kinder sein. Warum läßt man sie im Musik-, Kunst- und Sportunterricht nicht Peking-Oper, Teigskulptur und Kampfkünste lernen? Es wäre eine gute Lösung für das Problem.
FCR: In naher Zukunft wird ein Ministerium für Kultur eingerichtet werden. Welche Erwartungen stellen Sie als avantgardistische Exponentin einer "modernen" chinesischen Oper an eine solche Institution?
Kuo: Ich habe die brennende Hoffnung, daß der gegenwärtige bürokratische Sumpf nicht zu den Traditionen gehört, die auf das neue Ministerium übergehen werden. In der Vergangenheit waren Verschleppung und Pfründenwirtschaft die Hauptcharakteristiken der Kulturbürokratie gewesen. Wenn wir alle erreichbaren personellen und finanziellen Ressourcen ausnützen könnten, wäre das eine große Verbesserung.
Theatergruppen in Taiwan sind nicht groß genug, um Manager und Agenten engagieren zu können, die Tourneepläne, Transport und Hotelzimmer organisieren und sich um finanzielle Unterstützung bemühen. Es gibt eine Anzahl gutgeführter Gruppen in den Bereichen Volksoper, Theater, Musik und anderen darstellenden Künsten, die eine zahlreiche Anhängerschaft gewonnen haben und unter Gruppen, die auf demselben Gebiet tätig sind, hoch angesehen sind. Doch jede von ihnen verfügt nur über einen Bruchteil der Ressourcen, deren sie zur Abwicklung ihrer Verwaltungs- und Finanzangelegenheiten bedürfen. Sie würden mit Freuden die Unterstützung eines Kulturministeriums annehmen. Ich kann dem künftigen Ministerium für Kultur nur raten, ihnen zu helfen, damit die menschlichen Ressourcen besser genutzt werden können, statt sie in einem Morast bürokratischer und administrativer Kleinigkeiten ermatten und erlahmen zu lassen.
Auch halte ich eine Anzahl von Pilotprogrammen, um hervorragende hiesige Künstler zu weiterführenden Studien ins Ausland zu schicken, für unumgänglich. Andere zu verstehen, ist eine gute Möglichkeit, um sich selbst zu verstehen. Selbst traditionelle Dinge bedürfen der Bereicherung durch neue Elemente aus anderen Traditionen.
Schließlich sollte das gegenwärtige Personalsystem wirklich geändert werden. Wir brauchen dringend ein vernünftiges Bewertungssystem, um die richtigen Personen für den passenden Posten zu finden. Kandidaten für Professorenstellen an unseren Kunsthochschulen sollten künftig durch Prüfungen und andere Leistungskriterien beurteilt werden, nicht, wie bisher, aufgrund ihres Dienstalters.
FCR: Glauben Sie, daß die flexiblere Haltung der Regierung gegenüber dem Festland und die häufigeren Kontakte zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße zu der Kontinuität der chinesischen Volkskultur beitragen können?
Kuo: Ich bin mir sicher, daß das eine positive Wirkung haben wird, aber es muß nicht unbedingt förderlich für die Kontinuität der Volkskultur sein. Es wäre keineswegs hilfreich für uns, Libretti von Festland-Autoren zu plagiieren. Originalität ist ein unerläßlicher Bestandteil jedes wahren Kunstwerks.
Das Ya-yin-Ensemble ist mehr als einmal zu Aufführungen nach Hongkong und an andere Orte eingeladen worden, wo auch Peking-Opern-Truppen vom Festland auftraten. Das Ya-yin-Ensemble war eine Sensation (selbst die Stehplätze waren ausverkauft), während die Festland-Truppen ignoriert wurden und nur 30 Prozent des Zuschauerraums füllen konnten. Wenn das Ya-yin-Ensemble ein bloßer Nachahmer würde, hätten wir keine Möglichkeit, mit ihnen zu konkurrieren. Wir müssen originell sein, um gut zu sein. Für mich ist das Plagiat ein verabscheuungswürdiger Akt. Auf der Bühne kann man nicht vorgeben, etwas zu sein, was man nicht ist.
Wenn wir den traditionellen chinesischen Künsten internationale Anerkennung verschaffen wollen, ist es dringend notwendig, uns die guten Seiten der westlichen Kunstformen anzuverwandeln. Das ist auch notwendig, wenn wir professionell und international sein und in der Lage sein wollen, in bekannten internationalen Theatern aufzutreten. Von den künstlerischen Dimensionen abgesehen, brauchen wir praktische Erfahrung in den westlichen Methoden, Schauspieltruppen und Theater zu leiten. Bei unseren Auftritten im Ausland, speziell in Europa und in den Vereinigten Staaten, ist das Ya-yin-Ensemble besser aufgenommen worden als die Festland-Truppen. Es wäre ein Riesenschritt für Ya-yin, Teil der internationalen Theaterszene zu werden.
Ich möchte die Peking-Oper zu einer wahren Kunst machen, nicht zu einer Form der Unterhaltung. Ich möchte, daß sie im eigentlichen Sinn des Wortes professionell wird und keine von Förderern subventionierte Aktivität. Doch um dieses Ideal zu verwirklichen, braucht man Geld. Jede neue Inszenierung kostet Ya-yin mehr als 100 000 US$.
Obgleich es mehr als genug hervorragende Künstler auf dem Festland gibt, ist ihre Umgebung alles andere als günstig für die Entwicklung der chinesischen Oper. Selbst wenn die Lage ruhig ist, hindern ökonomische Faktoren und andere institutionelle Bedingungen sie daran, international bekannt zu werden.
Neuerungen im Schnitt der Kostüme: für jede einzelne Rolle läßt Kuo Shiao-chuang Kleidungsstücke entwerfen, die ihrem Charakter und Hintergrund entsprechen; hier "Die weiße Schlange" in traditionellen Kostümen.
FCR: Was wird das Ya-yin-Ensemble in Zukunft tun, und was sind Ihre persönlichen Pläne?
Kuo: Ich möchte von nun an mehr im Zentrum für Opernforschung des Ya-yin-Ensembles arbeiten. Das Zentrum wird sich auf die Herausgabe alter und neuer Opernlibretti konzentrieren. Was ich in Zukunft wirklich tun möchte, ist, eine eigene Theaterakademie zu gründen - nicht nur, um Schauspieler und Schauspielerinnen auszubilden, sondern auch, um solch spezialisiertes Personal wie Bühnenaufseher, Bühnenbildner, Umbauarbeiter, Bühnenhandwerker und Spezialisten für Klangeffekte heranzubilden. Wir in Taiwan müssen unsere Kostüme gegenwärtig immer noch aus Hongkong kommen lassen. Ich hoffe, daß wir eines Tages in der Lage sein können, sie selbst herzustellen.
Wir alle wissen, daß die Peking-Oper das Rad der sozialen Entwicklung nicht zurückdrehen kann. Es ist daher die vordringlichste Aufgabe von Ya-yin, eine Möglichkeit zu finden, für junge Leute in der Gesellschaft der Gegenwart und innerhalb des Rahmens, in dem sich die Gesellschaft in Zukunft entwickeln wird, attraktiv zu sein. Ein zweiter Schritt wäre, unsere traditionelle Kunst international zu machen. Wir haben gerade erst einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen.
Für mich persönlich ist die Peking-Oper schlicht eine Sache der Leidenschaft. Ich wußte von Anfang an, daß ein Künstler keine Rückfahrkarte kaufen kann, und daß jeder Versuch, die Fahrtrichtung zu ändern, nichts als vergeudete Anstrengung ist. Erfolg wird einem nicht vom Glück geschenkt. Ich hoffe, daß das Ya-yin-Ensemble und das Zentrum für Opernforschung in dieser Richtung unterwegs sind. Doch das ist eine Aufgabe, die uns noch zehn oder zwanzig Jahre kosten wird.
(Deutsch von Andreas Härdter und Klaus Gottheiner)