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Taiwan Today

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Nicht nach fremder Pfeife tanzen

01.06.1997
Nach einem holprigen Start fand die Formosa Ureinwohner Gesangs-­ und Tanztruppe schließlich ihren Rhythmus, indem sie sich in einem Puyuma-Dorf von den Stammes­ältesten unterrichten ließ.
In Taiwan und der ganzen Welt macht die Formosa Ureinwohner Gesangs- und Tanztruppe die Kultur und Rituale der Stämme einem größeren Publikum als je zuvor bekannt. Eine Zeitlang jedoch war es völlig ungewiß, ob die Truppe überhaupt jemals auftreten würde.

Diese Geschichte fing gleich zweimal an. Als einige idealistische junge Ureinwohner gemeinsam eine Tanztruppe bildeten, schien sowohl für die Tänzer persönlich als auch für die Kultur, die sie bewahren wollen, ein neues Zeitalter anzubrechen. Und wirklich hat sich die Formosa Ureinwohner Gesangs- und Tanztruppe heute in Taiwan und im Ausland einen Namen gemacht. Doch die erste Dämmerung erwies sich als trügerischer Schein, denn die Truppe mußte eine Reihe von Hürden nehmen, ehe sie sich ihren Platz an der Sonne erobern konnte.

Vor etwa sieben Jahren warb eine Stammesangehörige der Bunun namens Ko mehrere junge Ureinwohner für die Bildung einer Tanztruppe an. Sie verkündete, daß sie kulturelle Traditionen und Rituale bewahren wolle, und stellte eine Tournee aufs chinesische Festland in Aussicht, sobald die Truppe ein zufriedenstellendes Niveau erreicht habe. So konnte Ko dreißig Freiwillige um sich scharen, die meisten noch keine zwanzig Jahre alt und bereit, für sie alles stehen und liegen zu lassen.

Das Projekt lief jedoch schnell aus dem Ruder. Während der heißesten Zeit des Jahres brachte Ko die Truppe in einem schäbigen Hotel ohne Klimaanlage in Kaohsiung unter. Die jungen Leute mußten sich mit Mahlzeiten für weniger als 30 NT$ (1,70 DM) begnügen. Die Möchtegern-Tänzer aber waren Entbehrungen gewöhnt und beklagten sich nicht. Sie unterhielten sich über ähnliche persönliche Erfahrungen als Ureinwohner und freuten sich, gemeinsam singen und tanzen zu können. Jedoch mußten sie erkennen, mehr und mehr auf sich selbst gestellt zu sein. Ko versprach, Geld zu beschaffen, aber in drei Monaten bekamen die Tänzer nicht einen Cent ihres versprochenen Gehalts zu sehen. Weder in China noch sonstwo wurden irgendwelche Aufführungen anberaumt.

Schließlich kam der Truppe das Gerücht zu Ohren, daß Ko sie an eine Unterhaltungsfirma loswerden wolle. Da war das Maß voll. Sie entschlossen sich, ohne Ko weiterzumachen, und konnten sogar trotz enormer finanzieller Probleme einige Vorstellungen organisieren. Zu ihrem Glück fanden einige Medienleute und Akademiker Gefallen an den Versuchen der Truppe und kurbelten eine ordentliche Förderung an.

Der Durchbruch wurde erreicht, als die Nationale Kunst- und Kulturstiftung der Republik China einen Zuschuß in Höhe von 2,18 Millionen NT$ (132 000 DM) gewährte - gerade rechtzeitig, um ein Auseinanderbrechen der Truppe zu verhindern. Die Gruppenmitglieder trafen eine Entscheidung, die sich als sehr bedeutend erweisen sollte: Sie wollten in einer traditionellen Ureinwohnergemeinde leben und quasi an der Basis lernen, anstatt von irgendwelchen selbsternannten Lehrern abhängig zu sein.

Erstes Ziel war das Puyuma-Dorf Nanwang im Südosten Taiwans. Inzwischen war das Ensemble auf sechzehn Mitglieder zusammengeschmolzen, und eines Abends erschien dieser "harte Kern" erschöpfter, aber motivierter Darsteller vor dem parakoang (Männerversammlungshaus) von Nanwang.

An dieser Stelle begann sie wirklich, die Geschichte der Formosa Ureinwohner Gesangs- und Tanztruppe. Weil sie eine Chronik über die Ereignisse und ihre Erfahrungen führt, kann man dieses Ereignis ziemlich genau nachzeichnen.

Die Abenddämmerung sank hernieder. Die Stammesältesten hatten sich zur Besprechung von Dorfangelegenheiten im parakoang versammelt, und von ihrem Standort aus konnten die Tänzer die letzten verblassenden Strahlen der untergehenden Sonne sehen, die über ihre bemalten Gesichter strichen. Als die Ältesten schließlich auf die Schar junger Leute draußen zu sprechen kamen, war es bereits fast dunkel.

Viele Mitglieder der Truppe lernten die Kultur ihrer Ahnen erst in der Truppe richtig kennen. Diese Kulturen stellten sie mit ihren Auftritten auch im Ausland vor.

Nun war für die Unterstützer der Gruppe der Augenblick gekommen, ihr Anliegen vorzubringen; dazu war jedoch viel Fingerspitzengefühl notwendig. Glücklicherweise gehörten einige der Truppenmitglieder zum Puyuma-Stamm und kannten im Dorf mehrere Frauen, welche als Vermittler handelten. Die Frauen betraten das Männerversammlungshaus und boten den Ältesten demütig Geschenke dar. Sie seien gekommen, um Vergebung zu erbitten, sagten sie. Auf die Frage nach dem Grund bekannten die Frauen verlegen, daß sie ihren Kindern nie die Stammessprache oder die altehrwürdigen Tänze und Lieder beigebracht hätten. Nun seien aber ein paar junge Leute ins Dorf gekommen, die unbedingt die alten Weisen erlernen wollten. Die Frauen flehten die Ältesten in ihrer Eigenschaft als Hüter der Stammestraditionen an, die jungen Leute all das zu lehren, was sie wissen müßten. Auf diese Weise könnten vielleicht die Versäumnisse der Frauen wiedergutgemacht werden.

Die anfangs ärgerlichen Ältesten beruhigten sich schließlich, bewegt von der offensichtlichen Aufrichtigkeit der Frauen. Die Behandlung der Bitte war aber keineswegs ganz unproblematisch. Bestimmte Gesänge und Tänze durften nur zu religiös festgelegten Zeiten aufgeführt werden, andere Vorführungen waren streng tabu. "Wir können aber nicht so lange warten", schluchzten die Frauen. "Sonst sterben einige unserer Lieder und Tänze aus." Das war keine Übertreibung:

An das gesamte Repertoire der rituellen Tänze und Lieder konnten sich nur noch fünf der Ältesten erinnern, und die waren alle schon an die achtzig Jahre alt.

Das letzte Wort war dem Stammeshäuptling vorbehalten. Eine ganze Weile verharrte er in Gedanken versunken. Als er schließlich sprach, verkündete er, daß die Götter und Ahnen die Aufführung außerhalb der vorgesehenen Zeiten dulden würden, weil so die Stammeskultur bewahrt werden könnte. Der Häuptling ging sogar noch weiter und ordnete an, daß alle jungen Ureinwohner ungeachtet der Stammeszugehörigkeit auf Wunsch in Tänzen und Gesängen der Puyuma unterwiesen werden dürften.

Vom Häuptling ermuntert, nahmen die Ältesten ihre Kräfte zusammen und führten vor, wie die Puyuma über Generationen hinweg mit rituellen Gesängen und Tänzen gelebt hatten. Die 16 jungen Ureinwohner aus sieben Stämmen lernten unermüdlich, jeden Tag von frühmorgens bis spätabends, und tauchten so tief in die Geheimnisse der Lieder, Tänze und Musik der Puyuma ein.

Zu denen, die von Anfang an dabei waren und das Debakel mit Ko überstanden hatten, gehört auch Snaiyan(斯乃泱). Sie ist zwar eine Puyuma, hatte aber vor der Ankunft der Truppe in Nanwang nie an irgendwelchen Stammesritualen teilgenommen. "In meinem Heimatdorf sind die paar Alten, die die Stammessprache noch beherrschen, alle schon um die achtzig", berichtet sie. "Unsere Ältesten sprechen lieber Japanisch. Viele Stammesangehörige möchten auch nicht mehr an den Ritualen teilnehmen, weil sie Christen geworden sind. Früher habe ich noch nicht einmal zugegeben, eine Puyuma zu sein, weil ich Angst hatte, verachtet zu werden. Erst als wir nach Nanwang gingen, wurde mir der Reichtum und die Einzigartigkeit unserer Kultur bewußt, und so wurde ich langsam stolz auf meine Stammesidentität."

Snaiyan hatte große Schwierigkeiten beim Erlernen der Puyuma-Sprache. Die Truppe nahm jedes Lied auf, erstellte für alle Laute eine Umschrift und lernte die Lieder Wort für Wort auswendig. Erst dann fragten sie die Ältesten nach der Bedeutung. "Einen bestimmten Laut konnte ich erst nach einem halben Jahr", erinnert sich Snaiyan. "Die Rhythmen sind so frei, daß man sie nicht in regelmäßigen Strophen aufschreiben kann. Manche Lieder haben überhaupt keinen festen Rhythmus - die Melodie fließt einfach so dahin, je nach Atmosphäre und Laune in dem Augenblick. Die meisten Lieder haben keine Begleitung. Es gibt ein Lied, das vor der Geräuschkulisse eines Wasserfalls in den Bergen gesungen werden soll."

Nach kurzer Zeit wurden die Schüler aufgefordert, gemeinsam mit den Ältesten zu tanzen. Es war ein schrittweiser Prozeß praktischen Lernens. "Die Ältesten zeigten uns nicht jede einzelne Bewegung", erzählt Snaiyan. "Wir machten einfach mit, bis wir mit dem Ritual eins wurden. Wir tanzten nach dem Rhythmus unseres Herzschlages, als ob das Blut der Ahnen durch unsere Adern strömte." Bis heute hat sie nie formalen Unterricht erhalten. "Leute mit einer musikalischen Vorbildung finden es sogar noch schwerer", erklärt sie. "Die haben irgendwie das Gespür für ihre Instinkte verloren. Wenn wir beispielsweise mit den Füßen aufstampfen, dann tun wir das mit der ganzen Sohle und nicht nur mit einem Teil - als ob wir eins werden mit der Erde unter unseren Füßen. Bei jeder Bewegung vibrieren unsere Körper wie Spiralfedern. Leute mit Vorbildung halten aber meistens ihre Fersen nach oben, und ihre Körper sind verkrampfter. "

Ein für die Puyuma besonders wichtiges Ritual betrifft die jungen Männer, die kurz zuvor den Erwachsenenstatus erlangt haben. Diese gelten als die stärksten Mitglieder des Stammes und werden bansarang genannt. Ihre Aufgabe ist es, die Hoffnungen und Traditionen der Stammesvorfahren weiterzutragen. Jedes Jahr müssen die bansarang die Familien besuchen, in denen während der vergangenen zwölf Monate jemand verstorben ist. Sie sollen den Familien zum Trost versichern, daß es trotz des Heimgangs der Verwandten keinen Grund zur Traurigkeit gäbe, da die alte Generation von einer neuen und starken Generation ersetzt würde. Dann singt und tanzt das ganze Dorf gemeinsam zur Feier des sich stetig erneuernden und verstärkenden Stammesgeistes.

Heutzutage wandern viele junge Leute zum Studieren oder zum Arbeiten in die Städte ab, daher bleiben nur wenige bansarang in den Bergdörfern zurück, und noch weniger können diese oder andere Rituale durchführen. Die Ältesten in Nanwang haben das Problem gelöst, indem sie selber die Rolle der bansarang übernahmen und mit möglichst hoher Stimme die Lieder sangen, die für die Kehlen viel jüngerer Leute bestimmt waren.

Die Schüler waren davon sehr bewegt. "Was die alles auf sich nehmen!" seufzt Adaw Palaf(阿道巴˙辣夫), ein Mitglied der Truppe. "Nie wurden ihnen die Ehre, Würde und Annehmlichkeit zuteil, die ihnen in ihrem Alter normalerweise zustehen, und dann übernehmen sie auch noch Pflichten, die eigentlich wir erfüllen müßten." Er rezitiert ein Lied mit dem Titel "Der Ablauf des Jahres" von dem Puyuma-Komponisten Baliwakas(陸森寶):

Weit weg von daheim arbeite ich.
Nur selten kann ich meine Eltern, Verwandten und Freunde sehen.
Doch ich vergesse nicht diese glücklichen Tage mit meiner Familie.
Meine Mutter flocht einen Kranz und krönte mich damit.
Ich schmückte mich fürs Tanzfest.

Dieses Lied faßte nach Ansicht der Truppe ihre eigene Situation so gut in Worte, daß sie es zu ihrer ersten Tournee in ihr Programm aufnahm.

Palaf ist der älteste in der Tanztruppe. "Als ich auf die Mittelschule kam, mußte ich weg von Zuhause", erzählt er. "Seitdem fühle ich mich entwurzelt, und das quält mich." Er studierte Philosophie und ausländische Literatur, und seit seinem Examen hat er in vielen verschiedenen Berufen gearbeitet, darunter auch schlechtbezahlte Jobs wie Taxifahrer oder Gemüsebauer. "Immer war ich auf der Suche und wußte nicht, wer ich war", sagt er. "Ich versuchte zu schreiben, aber weil ich keine Wurzeln hatte, gingen mir bald die Ideen aus." Seine fruchtbarste Zeit als Schriftsteller begann, als er sich der Formosa Ureinwohner Gesangs- und Tanztruppe anschloß. Viele seiner Werke stützen sich auf seine Forschung über Stammeskultur. "Ich bin überzeugt, daß Stammesrituale der wirkliche Ursprung unserer Literatur sind", versichert er. "Jetzt weiß ich, wo ich hingehöre."

Nach einem Jahr in Nanwang fühlte sich die Truppe reif genug für öffentliche Auftritte. In letzter Minute gab es noch ein Problem: Manche der Stammesangehörigen hatten Bedenken, ob die öffentliche Zurschaustellung ureigenster Stammesrituale richtig sei. Sie hatten das Gefühl, daß die Rituale bei Aufführung in einem Theater ihre Bedeutung und Wirkkraft verlören und nicht mehr ausschließlich ein Teil des stämmischen Seelenlebens blieben. Außerdem könne der für den Stamm so immens wichtige Geist der universellen Teilnahme nicht auf der Bühne übermittelt werden. Doch zum Glück konnte die Truppe die Herzen der Skeptiker mit einer ungeheuer erfolgreichen Vorstellung im Kulturzenztrum des Kreises Taitung, dem Ursprungsland der Puyuma-Kultur, gewinnen.

"Durch diese Vorstellung begriffen sie, daß wir die Rituale inhaltsgetreu darstellen", meint Snaiyan. "Wir haben sie nicht verändert. Wir haben lediglich Anpassungen vorgenommen, damit zeitlich und räumlich alles im Rahmen bleibt. Manche Rituale dauern einen Monat, aber wir fassen alles auf anderthalb Stunden zusammen. Wir verwenden nur authentische Requisiten. Allerdings blenden wir auf einer Leinwand erläuternde Begleittexte ein. Hauptsache, die Leute erfassen das Wesen von jedem Lied und Tanz."

Snaiyan erinnert sich an die erste Aufführung in Taitung, als wäre siegestern gewesen. "Die Ältesten waren so ergriffen, daß sie in einem fort weinten", verrät sie. "Sie spürten, daß sie endlich Nachfolger gefunden hatten. Auch die Jüngeren weinten, weil ihnen klar wurde, wie sehr sie ihrer eigenen Kultur entfremdet waren." Es folgten weitere Auftritte, erst in Taipei und dann an anderen Orten auf der ganzen Insel. Bei jeder Vorstellung ernteten sie begeisterten Beifall.

Nicht lange, und die Formosa Ureinwohner Gesangs- und Tanztruppe konnte zu ihrer ersten internationalen Tournee aufbrechen. Im August 1993 trat sie am Fountain Plaza im Lincoln Center in New York auf, und dann auch im New York Cultural Center. Die New York Times beschrieb die Darbietungen der Truppe als "kraftvolle Bewegungszeremonien aus Taiwan" und kommentierte, "durch die Kraft und Schlichtheit von Tanz und Gesang ist es eines der wenigen Ensembles, das die verwirrende Geschäftigkeit des Straßenlärms dämpfen kann". Nach 1994 war die Truppe auch in Kanada, Ungarn, Frankreich, Spanien und vielen anderen Ländern. Auch hat sie ihr Repertoire erweitert und Rituale anderer Stämme aufgenommen, etwa von den Saisiyat und den Paiwan.

Auf die Frage nach dem wackligen Start wiegelt Snaiyan, die jetzige Leiterin der Truppe, ab. "Einige meinen, Ko hätte uns betrogen und ausgebeutet. Das sehe ich nicht so. Wir waren damals halt noch jung und naiv. Was soll's, vorbei ist vorbei. Entscheidend ist, daß wir jetzt gut in Form sind." Statt Verbitterung fühlt sie nur Dankbarkeit. "Es haben uns so viele Leute geholfen", lobt sie. "Jetzt ist es an der Zeit, daß wir auf unseren eigenen Füßen stehen."

Seit Dezember letzten Jahres gibt die Truppe eine eigene Zweimonatszeitschrift heraus, und zur Finanzaufsicht ist die Gründung einer Kultur- und Erziehungsstiftung geplant. Das Gesetz schreibt jedoch vor, daß eine solche Stiftung vor ihrer legalen Eintragung über ein Kapital von zwei Millionen NT$ (121 000 DM) verfügen muß. Selbst so tatkräftige junge Leute brauchen eine ganze Weile, bis sie so viel Geld beisammen haben.

Die Truppe ist auch entschlossen zu beweisen, daß die Ureinwohnerkultur in Taiwan schon lange vor Ankunft der Han-Chinesen existierte und auch heute noch lebendig ist. Nach den Worten von Adaw Palaf:

Singt laut, Ihr jungen Männer.
Singt die wilde Freude und den Jubel der Ahnen heraus.
Tanzt und tanzt, Ihr jungen Männer.
Tanzt für die Würde der Erde und den Traum des Himmels.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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