Bei den Wahlen am 3. Dezember gewannen alle Beteiligten. Die KMT bewies, daß auch ein sogenannter “Festlandchinese” bei einer inselweiten öffentlichen Wahl siegen kann, die DPP erlangte ihr bislang höchstes Mandat, und die Neue Partei zeigte, daß sie eine nicht zu unterschätzende politische Kraft ist. Übertroffen wurden diese Ergebnisse aber noch von den Wählern, die wieder einmal ihre “kollektive Vernunft” unter Beweis stellten.
An demokratische Wahlen und entschlossen geführte Wahlkämpfe hat man sich inzwischen in der Republik China auf Taiwan gewöhnt. Aber die am 3. Dezember 1994 stattgefundenen Wahlen waren von besonderer Bedeutung. Drei starke politische Parteien konkurrierten um drei der wichtigsten politischen Ämter auf der Insel: das des Provinzgouverneurs sowie die der Bürgermeister in den regierungsunmittelbaren Städten Taipei und Kaohsiung. Vor diesen Wahlen waren die Ämter durch Ernennung besetzt worden. Nach Zustimmung des Zentralkomitees der Regierungspartei Kuomintang (KMT) ernannte der Staatspräsident der Republik China die Bürgermeister; der Provinzgouverneur wurde vom Premierminister nominiert und mußte von der Provinzversammlung durch Abstimmung bestätigt werden.
Heutzutage ist der Ausdruck “Regierungspartei” auf dem besten Weg, aus dem politischen Vokabular gestrichen und durch den zutreffenderen Ausdruck “Mehrheitspartei” abgelöst zu werden. Die Veränderung in der Terminologie ist ein Hinweis darauf, wie weit die politische Entwicklung Taiwans vor allem im letzten Jahrzehnt vorangeschritten ist. Aus der unter Kriegsrecht stehenden Insel, die von einer Partei dominiert wurde, ist eine gesunde Mehrparteien-Demokratie hervorgegangen.
Die Entwicklung mag zwar beeindruckend sein, doch der Demokratisierungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen. Die Parlamentsabgeordneten werden sich Ende des Jahres zum ersten Mal zur Wiederwahl stellen, und für 1996 ist erstmals eine Direktwahl für das Amt des Staatspräsidenten der Republik China angesetzt. Darüber hinaus müssen verschiedene demokratische Institutionen, darunter private Bürgerinitiativen und politische Aktionsgruppen, erst noch tiefere Wurzeln schlagen. Das politische System als solches befindet sich ebenfalls im Reifeprozeß. So ist man zum Beispiel immer noch mit der Bildung von Parlamentsausschüssen beschäftigt, inklusive der Einrichtung parlamentarischer Untersuchungsgremien sowie der Festlegung einer adäquaten Mitgliederstärke in den Ausschüssen, und die Justiz wird derzeit auf mögliche Änderungen hin überprüft. Selbst die Frage der nationalen Identität muß im Zusammenhang mit den Taiwanstraßen-Beziehungen noch gelöst werden.
Aber egal von welcher Perspektive aus man es betrachtet, die Dezember-Wahlen waren ein Meilenstein in der demokratischen Entwicklung. Um die Tiefen der in den Wahlen erkennbaren sozialen und politischen Veränderungen auszuloten, hat die englischsprachige Zeitschrift Free China Review einen Sonderteil zur Wahlanalyse zusammengestellt. Der erste Artikel wurde von einem langjährigen Beobachter der Wahlen auf Taiwan, James A. Robinson, Professor emeritus und Professor für Politikwissenschaften an der Universität von West-Florida, speziell für Free China Review geschrieben. Im Anschluß an seinen Beitrag folgen die bearbeiteten Versionen zweier öffentlicher Reden zur Wahl. Die Reden stammen von Antonio Chiang(江春男), Herausgeber von The Journalist, einem der größten politischen Magazine hierzulande, und von Chu Yun-han(朱雲漢), Professor für Politikwissenschaften an der Nationalen Taiwan-Universität und Forschungsdirektor am Institut für Nationale Politikforschung. Die Reden wurden auf einem von der in Taipei herausgegebenen englischsprachigen Tageszeitung China News und der französischen Handels- und Industriekammer gesponserten Seminar gehalten.
Professor James A. Robinson, Universität von West-Florida:
Die wichtigsten Wahlen seit Jahrzehnten. Erster gewählter Gouverneur seit vierhundert Jahren. Rekord-Wahlbeteiligung. Voreingenommene Fernsehberichterstattung. Die bisher teuerste Kampagne. Anklagen wegen Korruption und Einschüchterung. Riesige Volkskundgebungen. Vorspiel zur 1996er Präsidentenwahl. Der Aufstieg der demokratischsten Gesellschaft Asiens.
So lauteten die Schlagzeilen in den Wochen vor den Wahlen am 3. Dezember 1994 - und sie waren nicht unbedingt übertrieben. Nach dem lebendigsten Wahlkampf in der Geschichte Taiwans gingen über 10,5 Millionen Wähler zu den Urnen. Kandidaten der drei größten Parteien sowie eine Anzahl unabhängiger Kandidaten konkurrierten um die Sitze in der Provinzversammlung Taiwans und in den Stadträten von Taipei und Kaohsiung.
Doch die Wähler richteten ihr Hauptaugenmerk auf die Wahl des Provinzgouverneurs und die Bürgermeisterwahlen in den beiden größten Städten der Insel. Es war das erste Mal, daß die Bürger selbst über den Gouverneur abstimmen konnten und - wenngleich die Stadträte für Taipei und Kaohsiung seit Jahrzehnten öffentlich gewählt worden waren - seit 1964 bzw. 1979 die erste Gelegenheit für die Wähler, die Bürgermeister von Taipei und Kaohsiung zu bestimmen.
Taiwans Bürger haben Wahlen seit jeher ernst genommen, doch die Beteiligung an diesem Wahltag erreichte Rekord bzw. annähernde Rekordzahlen. In Kaohsiung erschienen überwältigende 80,58 Prozent der Wahlberechtigten zur Stimmabgabe für das Bürgermeisteramt. Die Ergebnisse für die Gouverneurs- und die Taipeier Bürgermeisterwahl überstiegen 75 Prozent, was entschieden über der 70-Prozent-Norm lag, die sich über Jahrzehnte bei den Wahlen zur Provinzversammlung und zu den Stadträten eingependelt hatte. Schönes Wetter auf der ganzen Insel und ein staatlicher Feiertag spielten ebenfalls eine Rolle bei der hohen Wahlbeteiligung, aber die Hauptanziehungskraft ging zweifellos von dem Novum aus, daß zum ersten Mal gleichzeitig um diese drei Ämter gekämpft wurde. Durch den mit harten Bandagen ausgetragenen Drei-Parteien-Wettkampf zwischen der Kuomintang (KMT), der Demokratischen Progressiven Partei (DPP) und der Neuen Partei schlug die Kampagnenleidenschaft außergewöhnlich hohe Wellen. Von Anfang November an schien es auf der Insel nur ein einziges Gesprächsthema zu geben: die Wahlen.
Seit 1950 Wahlen für Ämter auf Lokalebene eingerichtet wurden, sind Taiwans Stimmberechtigte aktive Urnengänger. Die Beteiligung liegt normalerweise bei 70 Prozent. Diese Zahl rangiert relativ weit oben unter der Handvoll Länder, die den Bürgern erlauben, ihre Vertreter zu wählen. Die anhaltend hohe Beteiligung weist darauf hin, daß sich mehr als nur der Reiz des Neuen oder Stolz als Motivation dahinter verbergen. Die Wähler hierzulande sehen sich selbst als aktive Teilnehmer am politischen Prozeß. Ihr kontinuierliches Interesse an der Stimmabgabe zeigt, daß die Wahlbeteiligung nicht sinken muß, wenn die Bürger sich an Demokratie gewöhnen.
Vor dem Wahltag nahmen riesige Menschenmengen an großen Wahlveranstaltungen auf der ganzen Insel teil. Einige der größten fanden in Taipei statt. Eine Woche vor der Wahl zog die DPP 50 000 Menschen zu einem Samstagnacht-Festival mit Reden und Liedern an. Und in den letzten beiden Nächten vor der Wahl füllte die Neue Partei den Platz vor der Chiang-Kai-shek-Gedächtnishalle und ein städtisches Baseballstadion mit jeweils über 50 000 Menschen. Von Keelung im Norden bis Kenting im Süden präsentierten sich Straßen, Gebäude, Taxis und Busse mit bunten Fahnen, Plakaten, Kandidatenfotos und Wahlslogans. Alle Zeitungen und Zeitschriften waren angefüllt mit politischen Anzeigen und übertrafen alles zuvor Dagewesene.
Einer der signifikantesten Beiträge zur politischen Entwicklung der Insel waren vielleicht die zum ersten Mal im Fernsehen übertragenen Debatten zwischen den Bürgermeisterkandidaten für Taipei bzw. Kaohsiung. Obwohl die Gouverneurskandidaten nicht im Fernsehen diskutierten, erschienen sie mehrere Male gemeinsam und präsentierten vorbereitete Erklärungen zu ihren Standpunkten. Dieser Einsatz der Medien schuf Präzedenzfälle, denen man aller Wahrscheinlichkeit nach in den kommenden Jahren folgen wird.
Aufregung und Spannung erfüllten die Insel in den Wochen vor den Wahlen. Die Furcht vor Gewalttaten vergrößerte sich ebenfalls, vor allem in den letzten zwei oder drei Tagen vor dem Stichtag. Am 1. Dezember erließ der Premierminister nach einer Kabinettssitzung spezielle Sicherheitsrnaßnahmen, und der Innenminister ordnete für 70 000 Polizisten Einsatzbereitschaft an. Die Nationale Polizeiverwaltung holte am Vorabend der Wahlen Stacheldraht, Kampfanzüge und andere Sicherheitsausrüstung heraus - nur für alle Fälle. Währenddessen berichteten Staatsanwälte des Justizministeriums von über 600 Anzeigen wegen Wahlvergehen, darunter auch Stimmenkauf.
Als die Hochstimmung mit den Feiern der Wahlsiege, die gegen 21 Uhr in den Wahlkampfstützpunkten der Gewinner begannen, ihren Höhepunkt erreichte, zeichnete sich bereits ab, daß es keine Ausschreitungen geben würde. Die Medien brachten umgehend die nach und nach eintreffenden Auszählungsergebnisse, und als die offiziellen Zahlen auf den elektronischen Anzeigetafeln im Auswertungszentrum der Zentralen Wahlkommission, welches im Taipeier Sportstadion eingerichtet worden war, erschienen, standen die Resultate bereits fest. Alle drei Parteien hatten Grund zu feiern.
Bürgermeister von Taipei wurde Chen Shui-bian(陳水扁), DPP-Abgeordneter und ehemaliges Stadtratsmitglied. Das war eine weitere Premiere. Es ist das höchste politische Amt, welche infolge einer Wahl aus den Händen der KMT in die der DPP übergeht. (Bei der letzten öffentlichen Bürgermeisterwahl im Jahr 1964 besiegte der unabhängige Kandidat Henry Kao den Kandidaten der KMT. Doch die Regierungspartei änderte daraufhin das Gesetz und bestimmte, daß die Bürgermeister der Städte mit über einer Million Einwohnern zu ernennen seien.) Die Wahl Chen Shui-bian’s brachte die Insel im Demokratisierungsprozeß einen weiteren Schritt nach vorne. Zur Tradition regelmäßiger Wahlen haben die Stimmberechtigten das A und O demokratischen Handelns hinzugefügt: eine Partei hineinwählen, die andere dafür hinauswerfen. Der Wahlsieg für das Bürgermeisteramt in Taipei war für die DPP von besonderer symbolischer Bedeutung, da es sich um die Hauptstadt handelt und sie die höchste Konzentration an in Festlandchina geborenen Bürgern und ihren Nachkommen (sogenannte Festlandchinesen) aufweist.
Zu dem Wettkampf zwischen der DPP und der KMT gesellte sich ein dritter Mittstreiter in Gestalt der aktiven, enthusiastischen Neuen Partei. Die Neue Partei war nur 15 Monate zuvor von Abtrünnigen aus der KMT gegründet worden. Unter Führung von Jaw Shau-kong(趙少康)und Wang Chien-shien(王建煊)hatte die Neue Partei ein paar Stimmen und noch weniger Ämter bei den Ende 1993 und Anfang 1994 stattgefundenen Kreis- und Gemeindewahlen gewonnen. Diesmal, mit dem dynamischen und erfahrenen Jaw als ihr Kandidat für das Amt des Taipeier Bürgermeisters, drohte die eue Partei, aus eigener Kraft einen bedeutenden Sieg davonzutragen.
Im Kampf um den Taipeier Bürgermeisterposten übertrafen die von der Neuen Partei organtsierten Wahlveranstaltungen in Größe und Stimmung beinahe alles zuvor auf Taiwan Erlebte. Fröhlich singende Massen interagierten begeistert mit Parteirednern und Entertainern. Diesen riesigen Zusammenkünften jubelnder Anhänger gingen kilometerlange Karawanen von mit Parteiwimpeln und -fahnen geschmückten Taxis, Privatautos, Lkws und Bussen voraus, welche die zu den Versammlungsorten führenden Straßen füllten. Hätte man das siegreiche Wahlprogramm und den siegreichen Kandidaten anhand der Größe der Menschenmengen und der kollektiv erzeugten Lautstärke bestimmen wollen, wäre es schwierig gewesen, bei der Bürgermeisterwahl in Taipei zu einem Ergebnis zu kommen. Doch schließlich wurde das Rennen durch demokratische Wahlen und nicht durch Dezibelzahlen und Fußstampfen entschieden.
Der überwältigende Sieg von James Soong(宋楚瑜)über den DPP-Kandidaten Chen Ding-nan(陳定南), Ju Gau-jeng(朱高正)von der Neuen Partei und die unabhängigen Kandidaten Tsai Cheng-chih(蔡正治)sowie Wu Tzu(吳梓)war in verschiedener Hinsicht bezeichnend. Obwohl Soong ein langjähriges Mitglied der KMT ist und fast während seiner gesamten politischen Laufbahn Parteifunktionär war, hat er niemals für ein öffentliches Amt kandidiert. Er stieg auf den Sprossen der Partei- und Verwaltungsleitern zu Ansehen auf. Er war Sekretär und Übersetzer für den ehemaligen Präsidenten Chiang Ching-kuo, Direktor für Parteipropaganda und Regierungsinformationen, stellvertretender Generalsekretär der Partei und dann, nachdem Lee Teng-hui Chiang Ching-kuo abgelöst hatte, Generalsekretär der Partei.
Soong’s Zeit als Parteiführer und Vertrauter des neuen Präsidenten fiel zusammen mit zahlreichen Reformen sowohl in der KMT als auch in der Regierung. Doch als die DPP bei den 1992er Parlamentswahlen beeindruckende Gewinne verbuchte, übernahm Soong die politische Verantwortung und bot seinen Rücktritt an. Er war von jahrelangen Parteikontroversen angegriffen, und über seine Zukunft waren sich die Beobachter der politischen Szene unklar. Premierminister Lien Chan ernannte ihn 1993 zum Gouverneur der Provinz Taiwan und machte ihn damit zum ersten auf dem Festland geborenen Gouverneur innerhalb einer Generation. Dieses Amt war als Teil des in den 60er Jahren von Präsident Chiang Ching-kuo initiierten “Taiwanisierungsprogramms” lange Zeit für einen auf Taiwan geborenen Politiker reserviert gewesen. Präsident Lee Teng-hui hatte selbst den Posten inne, ehe er Vizepräsident wurde, genau wie Lien Chan, ehe er zum Leiter des Kabinetts ernannt wurde.
Soong nutzte seine Ernennung zum Gouverneur als Sprungbrett für die Wahl in dieses Amt. Aber viele politische Beobachter wiesen darauf hin, daß die Chancen für ihn schecht standen. Sie sagten, es sei in der Tat schwierig für einen auf dem Festland geborenen KMT-Kandidaten, das Vertrauen der auf Taiwan geborenen Wähler zu gewinnen, die 85 Prozent der Stimmberechtigten ausmachen.
Soong bewies, daß die Kritiker im Unrecht gewesen waren. 18 Monate lang war er aktiv und besuchte Berichten zufolge jede der 309 Städte und Ortschaften der Provinz. Sein Name wurde auch durch seinen geschickten Einsatz der Massenmedien bekannt, vor allem durch die aktive und umfassende Darstellung seiner Besuche in den Lokalzeitungen (einschließlich derer in Besitz der Provinzregierung), durch wöchentliche bezahlte Anzeigen in Taipeier Publikationen und inselweite Berichterstattung durch den der Provinzregierung gehörenden Fernsehsender TTV (Taiwan Televison Enterprise). Soong schaffte es allen Erwartungen zum Trotz mühelos, zum KMT-Lieblingskandidaten zu werden, und zog mit dem beliebten Wu Po-hsiung(吳伯雄)gleich, der durch seine Erfahrung als Innenminister sowie den ihm von den Hakka-Chinesen entgegengebrachten Respekt zu einem möglichen und populären Kandidaten wurde. Doch Minister Wu (jetzt Generalsekretär des Präsidenten) zog lieber seine Kandidatur zurück, als gegen Soong anzutreten. Soong wurde daraufhin ohne Probleme von den KMT-Führern und -Kadern nominiert.
Soong betrieb von August bis Dezember 1994 eine intensive Wahlkampagne. Aufgrund der Bedenken, die man innerhalb seines Gefolges wegen des DPP-Kandidaten Chen Ding-nan hatte, wurde Soong’s Feldzug zu einer unerbittlichen und kostspieligen Angelegenheit. Chen, ein früherer unabhängiger Magistrat im Kreis Ilan, Mitglied des Legislativ-Yüans und kurz zuvor der DPP beigetreten, konnte sich nicht auf einen derartig gut organisierten und unterstützten Wahlkampf stützen. Er hatte nur knapp die Nominierung im Juli gewonnen, und in den Wochen vor der Wahl boten ihm die DPP-Führer weniger Beistand, als die KMT-Anführer James Soong gaben. Trotzdem rannte Soong während des gesamten Wahlkampfs, als wenn ihm Chen hart auf den Fersen wäre. Am Ende gewann Soong mit einem Vorsprung von über einer Million Stimmen. Chen konnte bei unzulänglicher Unterstützung und einigen Berichten zufolge äußerst träger Beteiligung durch DPP-Kreisräte und -Stadtbürgermeister von den 21 Kreisen der Provinz nur in Ilan einen Sieg verzeichnen.
Zusätzlich zu den drei im Vordergrund stehenden Wahlkampagnen um die Führungsämter wurden durch die Wahlen gleichzeitig neue Stadträte in Taipei und Kaohsiung sowie die neuen Mitglieder der Provinzversammlung bestimmt. Die KMT sah ihre Mehrheit in allen drei Einrichtungen schwinden. Der große Gewinner in Taipei war die Neue Partei, von deren 14 Kandidaten elf einen Sitz gewannen. Einige darunter konnten die meisten Stimmen in ihren Wahlbezirken verbuchen. [Die Stadt ist in Wahlbezirke gegliedert, die in der Regel mehr als nur einen Abgeordneten in den Stadtrat entsenden können. Jeder Wähler hat nur eine Stimme.] Die Neue Partei gewann außerdem zwei Sitze im Stadtrat von Kaohsiung und zwei in der Provinzversammlung Taiwan.
James Soong’s eindeutiger Sieg im Rennen um das Gouverneursamt hat eine erneute Überprüfung eines der Hauptwahlkampfthemen ausgelöst, nämlich des “Provinzialismus-Komplexes”. Dahinter verbirgt sich der Versuch, eine Einteilung des größten Teils der hiesigen Bevölkerung vorzunehmen, und zwar in sogenannte Taiwanesen, d.h. Bürger, deren Familien vor 1949 nach Taiwan gekommen sind, und sogenannte Festlandchinesen, d.h. Bürger, die nach der Übernahme Festlandchinas durch die chinesischen Kommunisten nach Taiwan übergesiedelt sind. Der Status der Kinder aus Mischehen zwischen diesen beiden Gruppen ist problematisch.
Obwohl die Bevölkerung der Provinz Taiwan mit überwältigender Mehrheit taiwanesisch ist, akzeptierte sie einen auf dem Festland geborenen KMT-Anhänger. Einige Stimmen führten dies auf die erfahrenen und überlegenen organisatorischen Ressourcen der KMT zurück. Aber diese reichen allein nicht aus, um Soong’s Erfolg zu erklären, da sie auch Huang Ta-chou(黃大洲), dem KMT-Kandidaten in der Taipeier Bürgermeisterwahl, zur Verfügung standen, der trotzdem eine beschämende Niederlage erlitt. Man kann das Ergebnis auch nicht auf Stimmenkauf zurückführen, ein Problem, welches die Regierung mittlerweile eingesteht und auch strenger strafrechtlich verfolgt. Soong’s riesige NT-Dollar-Summen wurden, so wird weithin angenommen, für wesentlichere Dinge, z.B. Reisen, Anzeigen, Gehälter, Druck- und andere Ausgaben, als für den traditionellen Stimmenkauf aufgewendet.
Darüber hinaus war klar, daß die Taiwanesen die DPP-Parole in der Gouverneurswahlkampagne “Taiwanesen wählen Taiwanesen” nicht allzu gut aufnahmen. Zugegeben, ihre Ablehnung überraschte eine Reihe einheimischer wie ausländischer Journalisten und Politikwissenschaftler, die versuchten, die öffentliche Meinung in der Provinz zu analysieren. Die Erhebungen konnten in vielen Fällen auch kein klares Bild geben, unter anderem weil viele Leute die Umfragepraktiken nicht verstanden oder ihnen nicht trauten.
Es ist allerdings weniger schwierig, Schlüssel aus den Wahlergebnissen zu ziehen. In den Analysen nach der Wahl werden häufig Motive mit Wirkung verwechselt. Was auch immer die Intention der Wähler gewesen sein mag, so fördern die Konsequenzen ihrer Wahlentscheidungen den Status quo, bewahren die Stabilität in der demokratischen Transformation Taiwans und den eingeschlagenen Kurs pragmatischen Manövrierens in der Mitte zwischen Unabhängigkeit und Wiedervereinigung.
Wenn dies die Entscheidung der Wähler gewesen ist, dann deckt sie sich mit den Hauptlinien der Taiwan-Politik, die schon zu erkennen waren, bevor Chiang Ching-kuo offiziell die sogenannte Demokratisierungsperiode einleitete.
Taiwan genießt nun den Ruf, neben Japan der demokratischste Staat in Asien zu sein. Obwohl sein Demokratisierungsprozeß noch nicht abgeschlossen ist, berechtigen die in Taiwan regelmäßig durchgeführten, freien und fairen Wahlen es zu einer Art Auszeichnung dafür, daß es sich selbst von einer rigiden, unter Kriegsrecht stehenden Gesellschaft zu einer Demokratie mit freien Wahlen entwickelt hat.
Der derzeitige Zeitplan für demokratische Reformen ist recht klar. Einige der größten Herausforderungen beinhalten die Verbesserung der Berichterstattung über Parteien und Kandidaten in den elektronischen Medien, sowohl um den Fluß objektiver Nachrichten und Analysen zu optimieren, als auch um einseitige Berichte und Propaganda zu vermindern. Eine weitere Herausforderung liegt in den mit jeder Wahl steigenden, enormen Wahlkampfausgaben. Taiwan verdient den Respekt der Welt für seinen wachsenden Reichtum, doch in Japan oder den Vereinigten Staaten liegen die Pro-Kopf-Einkommen zwei- bis zweieinhalbmal so hoch. Wahlen auf Taiwan sind jedoch teurer als die in Japan oder in den USA. Und die Kampagnenausgaben werden noch höher klettern, wenn es den Parteien und Kandidaten gestattet wird, Werbung im Fernsehen zu machen.
Trotz der verbleibenden Mängel ist Taiwans Demokratisierung ein bemerkenswerter Erfolg. Sie zeichnet sich auch dadurch aus, daß sie mit einem Minimum an Gewalt oder Gefahr von Gewalt realisiert worden ist. Sun Yat-sen, der Vater der Republik China, war ein Apostel der asiatischen - oder genauer gesagt - der chinesischen Demokratie. Er war ebenfalls ein Befürworter des Gradualismus [die Idee oder Politik der langsamen, schrittweisen Verfolgung eines Ziels], d.h. demokratischer Prinzipien, die er in seiner Studienzeit angenommen hatte. Über die Jahrzehnte hinweg hat die politische Elite der Insel allmählich die politische Macht von einem kleinen Kreis auf buchstäblich jeden erwachsenen Bürger, der sich beteiligen möchte, übertragen. Eine allmähliche, friedliche Umwandlung war das Ziel der KMT. Eine schnellere, aber ebenfalls gewaltlose Transformation war das Ziel der Oppositionspartei. Sie haben zusammengearbeitet, um die sogenannte Taiwan-Erfahrung zu mehr als nur einem Beispiel wirtschaftlichen Wachstums zu machen. Sie haben der Welt eine ungewöhnliche Lehre erteilt, indem sie eine Dezentralisierung der Macht durch demokratische Prozesse statt einer Machtersetzung durch Revolution vollführten.
Aus diesen Gründen reicht die Bedeutung der 1994er Wahlen weit über das Ergebnis hinaus, welche Kandidaten von welcher Partei für welches Mandat auf einer kleinen Insel mit 21 Millionen Einwohnern gewählt worden sind. Die Wahlen haben bewiesen, daß die Führer und Anhänger in einem Zeitraum von eineinhalb Generationen zusammenarbeiten können, um einen undemokratischen Staat in einen zunehmend demokratischen zu verwandeln. Darüber hinaus geschah es in einem Teil der Welt, dem man nachsagt, der demokratischen Idee abgeneigt zu sein.
Die innerhalb wie außerhalb Asiens zu hörende Bemerkung, daß Taiwan schlechtsitzende Wahlkleider importiert habe, ist nur eine Variante der Behauptung, daß asiatische Wertvorstellungen und Institutionen im Widerspruch zu westlichen ständen. Was die Frage nach der Eignung einer demokratischen Staatsform für Taiwan betrifft, sollte man sich in Erinnerung rufen, daß Sun Yat-sen chinesischen Nationalismus mit westlichen Ideen vermischte, aber daß er sie auch modifizierte, um sie den durch die chinesische Geschichte und Kultur geprägten Umständen anzupassen. Darüber hinaus sind bestimmte Wahlvorgänge nicht ausschließlich den amerikanischen oder europäischen Praktiken entlehnt, sondern kommen aus anderen Ländern Asiens. Beispielsweise stammt Taiwans ungewöhnliche Methode “eine Stimme, viele Sitze” bei den Parlamentswahlen aus Japan, wo sie 1925 eingeführt und bis 1994 praktiziert wurde.
Man kann daher sagen, daß Taiwan nicht nur ein Beispiel für eine schrittweise, gewaltlose Demokratisierung ist, sondern auch eine Mischung aus unterschiedlichen Vorgehensweisen und Institutionen darstellt, die sowohl universal als auch provinziell ist. Alles in allem bietet diese Verbindung eine Formel für andauernden Frieden und Wohlstand für die Menschen auf Taiwan.
Antonio Chiang, Herausgeber von The Journalist:
Als professioneller Journalist habe ich letzthin viel Zeit mit dem Versuch zugebracht, die Wahlen und ihre Nuancen zu deuten. Es ist einfach, die Bäume zu sehen, aber schwierig, den Wald zu verstehen.
Wir haben viele Wahlen gehabt, und sie können den Menschen den Eindruck vermitteln, Taiwan sei chaotisch, da die Wahlkämpfe oftmals einen so negativen Beigeschmack haben. Viele Menschen machen sich deswegen große Sorgen. Aber am Ende wissen wir, daß jede Wahl wie ein geräuschvolles Tempelfest ist, das Götter oder Geister heraufbeschwört. Wenn die Feierlichkeiten vorbei sind, verschwinden die Geister, und die Menschen kehren zum Alltag zurück. In den letzten zehn Jahren gab es beinahe jedes Jahr irgendeine Wahl; sie sind ein wichtiger Teil unserer Transformation von einer autoritären zu einer demokratischen Regierung.
Unsere demokratische Entwicklung hat alle möglichen politischen Tabus aus dem Weg geräumt und Raum für neue Ideen geschaffen. Die Wahlkampfparolen und die Rhetorik sind nicht mehr so beängstigend. Die Bürger treffen schließlich die Entscheidung - und bei diesen Wahlen kamen sie zu klaren Ergebnissen. Eines der besten Resultate war, daß keine der Parteien auf ganzer Linie geschlagen wurde. Jede verzeichnete ihren eigenen Sieg. Die DPP gewann das Rennen um den Taipeier Bürgermeisterposten, die KMT gewann das Gouverneursmandat, und die Neue Partei bewies ihre zunehmende Stärke, denn es war dies das erste Mal, daß sie so viele Stimmen verbuchen konnte. Taiwan hat tatsächlich eine gefestigte politische Basis, obwohl die Oberfläche manchmal instabil erscheint, ja sogar Anlaß zur Furcht gibt. Die Menschen hören sich die Reden an, aber dann trifft jeder seine eigene Entscheidung.
Diese Wahl hat unsere politische Landschaft verändert. Die KMT ist so gespalten, daß sie früher oder später die Macht verlieren wird. Sie ist bereits lange genug an der Macht, um den Weltrekord zu brechen. Aber durch die Art und Weise, wie die DPP protestiert, besiegt sie sich in gewisser Hinsicht selbst. Andernfalls wäre sie schon längst Regierungspartei. Obwohl sie als ein Sprecher der Taiwanesen auftritt, gibt es in der DPP viele innere Widersprüche. Die Neue Partei ist gut für unser politisches System, da wir jetzt drei Parteien haben, die alle Facetten der Gesellschaft Taiwans und alle möglichen Ziele abdecken.
Die Neue Partei ist ein neues Phänomen, und sie ist sehr wichtig für unsere politische Kultur. Gleich den neuen Parteien in osteuropäischen Ländern wie Polen agiert die Neue Partei als ein Reformer der alten Methoden und Anwendungsbereiche der Macht. Sie fordert sowohl die KMT als auch die DPP heraus, und das ist sehr wichtig für unsere politische Entwicklung. Im letzten Jahrzehnt gab es nur die DPP als Opposition zur KMT.
Die Idee einer “loyalen Opposition” ist eine neue Entwicklung in der chinesischen Tradition, und das Konzept hat es schwer, Wurzeln zu schlagen. Aber aufgrund der DPP gewöhnen wir uns an diese Art der Opposition. Und jetzt gibt es die Neue Partei als Opposition zur Opposition. In Zukunft wird keine Partei mehr in der Lage sein, eine klare Mehrheit im Taipeier Stadtrat, in der Provinzversammlung oder sogar im Legislativ-Yüan zu gewinnen. Es wird für jede Partei schwierig sein, die Politik zu dominieren.
Während dieses Wahlkampfs gab es zwischen den Parteien viele Debatten zu den Fragen Wiedervereinigung und Unabhängigkeit. Doch durch meine Kontakte zu Angehörigen der drei Parteien weiß ich, daß fast alle von ihnen das eine sagen, aber das andere tun. Es gibt tatsächlich einen starken Konsens. Während der Wahlen benehmen sie sich, als ob sie verfeindet wären, aber wenn man ihrer wahren Stimme lauscht, dann merkt man, daß die DPP gar nicht so sehr für die Unabhängigkeit oder gegen die Wiedervereinigung ist und die Neue Partei nicht für eine sofortige Wiedervereinigung eintritt. In Wahrheit sind alle Parteien daran interessiert, den Status quo zu erhalten.
Die Wiedervereinigung ist ein sehr beunruhigendes, zweideutiges und schwer definierbares Thema. De facto ist Taiwan bereits ein unabhängiges, souveränes Land, das kann niemand abstreiten. Aber unabhängig von wem? Sind wir wie Tibet? Was ist unser Status? Die Kandidaten übertrieben während des Wahlkampfs ihre Haltung zu diesem Thema, daher bin ich nicht zu sehr beunruhigt. In Wirklichkeit ist den Mitgliedern der drei Parteien viel an Taiwans Wohlergehen gelegen. Jeder zeigte, daß er sich mit Taiwans Interessen identifiziert.
Die Parteien sind außerdem sehr pragmatisch - auch die DPP, die im Prinzip eine Partei der Mittelklasse ist. Mitglieder sämtlicher Parteien haben Freunde oder Verwandte mit Geschäften in Festlandchina. In privaten Diskussionen stellen sich die Menschen als sehr praktisch denkend heraus; sie kalkulieren ihr Risiko. Sie wissen, daß sie eine funktionsfähige Beziehung zu Festlandchina aufbauen müssen. Daher können wir sicher sein, daß unsere Beziehungen über die Taiwanstraße nicht gefährdet werden, egal wer an der Macht ist.
Die Botschaft dieser Wahlen lautet, daß wir schneller in der Entwicklung unserer Verfassung voranschreiten sollten. Der Gouverneur ist nun der höchste von den Bürgern gewählte Beamte. Der Premierminister wird nicht öffentlich gewählt und auch nicht der Staatspräsident; das heißt, daß nur in bezug auf die Wahlen der Gouverneur die populärste politische Figur ist. In den nächsten zwei Jahren sollten wir mit den Reformen fortfahren. Andernfalls wird der Gouverneur auf lange Sicht eine viel mächtigere Position einnehmen als der Premier oder der Präsident, da er die direkte Unterstützung der Bürger hat. Ich denke, wir dürfen für die nächsten zwei Jahre viele Debatten und Auseinandersetzungen über die Details der Verfassungsreform erwarten.
Diese Wahlen haben auch einige Menschen im Ausland sehr unglücklich gemacht. Sie sind der Meinung, daß Taiwan sich zu schnell demokratisiert. Sie sagen, daß Chinesen keine Demokratie brauchten oder daß sie nicht damit umgehen könnten. Sie sagen außerdem, daß sich Taiwan durch die demokratische Entwicklung von der chinesischen Kultur entferne. Viele liberal eingestellte Menschen in Hongkong sind erfreut über Taiwans Demokratisierung, aber andere sorgen sich, daß Taiwan sich von Festlandchina distanziert. Und in Singapur, das im Prinzip auch eine chinesische Gesellschaft hat, ist Minister Lee Kuan Yew [der ehemalige Premierminister] nicht besonders glücklich über Taiwans Marsch hin zur Demokratie, weil es gegen die von ihm als “asiatische Werte” bezeichneten Prinzipien verstößt.
Taiwan - und nicht Festlandchina, Hongkong oder Singapur - ist die einzige chinesische Gesellschaft, die eine beständige Oppositionspartei vorweisen kann. Und auf Taiwan herrscht auch eine viel größere Pressefreiheit, mit Ausnahme des Fernsehens. Diese Früchte der Demokratie sind über eine lange Zeit gereift, und die Menschen wollen sie nicht aufgeben. Es ist uns bewußt, daß es einfach ist, in die alten politischen Praktiken zurückzufallen, aber die Menschen hier versuchen zumindest, das mit allen Kräften zu verhindern. Daß die Beteiligung bei diesen Wahlen bei über siebzig Prozent lag, läßt erkennen, daß sich die Bürger wirklich aktiv am politischen Geschehen beteiligen. Das ist ein Zeichen dafür, daß Taiwan als demokratische Gesellschaft heranreift.
Chu Yun-han, Professor für Politikwissenschaften an der Nationalen Taiwan-Universität:
Am Abend der Wahl wurde ich von Taiwan Television Enterprise (TTV) zu einem Live-Interview im Studio eingeladen. Als die Stimmenauszählung begann, mußte ich darüber nachdenken, was ich sagen würde, falls die DPP die Gouverneurswahl gewinnen sollte. Mein erster Gedanke war, daß TTV einen neuen Vorstand bekommen würde [der Sender gehört der Provinzregierung] und daß dies nur die Spitze des Eisberges sein würde [was Veränderungen anbelangte].
Der Sieg in der Gouverneurswahl war der entscheidende Punkt, wenn die KMT ihre Regierungsposition innebehalten wollte. Die Provinzregierung kontrolliert einen der drei Hauptfernsehsender; sie kontrolliert die Bank, welche die Taiwan-Dollars druckt, die Taiwan-Bank; und sie kontrolliert die drei wichtigsten Handelsbanken. Darüber hinaus arbeiten schätzungsweise eine drittel Million Menschen für die Provinzregierung. Daher war der Sieg in der Gouverneurswahl von wirklich entscheidender Bedeutung.
Ich denke, daß der KMT ein Stein vom Herzen gefallen ist. Von einem so überwältigenden Sieg aber hätte sie nicht zu träumen gewagt. Doch seine Bedeutung reicht weiter als die Kontrolle der Provinzregierung über öffentliche Einnahmen. Die Kontrolle des Gouverneurspostens selbst ist noch wichtiger. Hätte die DPP gewonnen, hätte die Basis-Unterstützung für die KMT in jedem Landkreis geschwächt werden können. In jedem Kreis gibt es normalerweise zwei oder drei rivalisierende lokale Fraktionen, die gewöhnlich mit der KMT in Verbindung stehen. Diese Fraktionen haben Repräsentanten in der Provinzversammlung, wo sie saftige Diäten, eine Menge Geldzuwendungen der Regierung und Privilegien einheimsen können.
Sollte die DPP im Gouverneurspalast regieren, würde sie auch die Banken kontrollieren und hätte das Sagen über Kreditvergaben; sie könnte den Steuerprüfer dazu anhalten, die Bücher nochmals durchzusehen - alles Sachen, die die Lokalpolitiker in arge Bedrängnis brächten. Das ist die Art von Alptraum, der die KMT eine ganze Weile verfolgt hat, vor allem in den letzten Wochen vor dem Wahltag, als viele Wahlveranstaltungen scheinbar andeuteten, daß die DPP Chancen auf einen Gewinn des Gouverneurssitzes hätte.
Der Kampf um das Gouverneursamt war auch insofern wichtig für die KMT, als es die Legitimität der Partei auf die Probe stellte. Niemals zuvor war die Partei direkt auf die Probe, auf eine echte Bewährungsprobe vor den Augen eines so großen Teils der Wählerschaft gestellt worden. Die KMT hält eine klare Mehrheit im Legislativ-Yüan und vereint auch die Mehrheit der Kreisräte und Stadtbürgermeister auf sich. Aber die Bürger haben sich immer gefragt, wieviel öffentliche Unterstützung die KMT wirklich hatte.
Früher hat sich die KMT nie der DPP direkt gestellt. Stattdessen fanden die Wettkämpfe tatsächlich auf Regionalebene, zwischen örtlichen Politikern und Fraktionen statt. Die Politiker auf diesen Ebenen hatten ihr eigenes Netzwerk und organisierten ihre Wahlkampagnen sowie das Geld dafür selbst. Sie gewannen ihre Stimmen durch den Einsatz verschiedener Methoden, manchmal durch ihre eigenen Beziehungsnetze, durch Stimmenkauf oder weil sie [ihren Wählern] bestimmte Dienste erweisen konnten.
In der Vergangenheit war es schwierig zu sagen, ob die Wähler den Kandidaten unterstützten oder ihm nur einen Gefallen zurückzahlten. Es war nie klar, ob die Wähler wirklich hinter der regierenden Partei standen. Daher waren diese Wahlen ein neues Spiel für die KMT. Diesmal konnte sich die Partei nicht auf lokale Kader oder die traditionelle Methode des Stimmenfangs verlassen. Stattdessen mußte sie verstärkt auf die Medien, hauptsächlich auf das Fernsehen, und außerdem auf die Bürokratie - den gesamten Staatsapparat -, zurückgreifen. Die KMT verließ sich auch auf ihr zugeneigte oder ihr nahestehende Bürgergruppen und Vereinigungen. Folglich war diese Wahl ein wichtiger Test. Es war ein Weg, zu einer neuen Wahlkampfstrategie zu finden. Hätte die KMT nicht das Gouverneursmandat gewonnen, glaube ich nicht, daß sie zuversichtlich in bezug auf einen Sieg in der Präsidentschaftswahl [1996] oder der wichtigen, nächstes Jahr anstehenden Parlamentswahl wäre.
Die DPP auf der anderen Seite dachte, daß sie für das Rennen um die Präsidentschaft noch nicht bereit sei. Sie mußte sich noch ein wichtiges Sprungbrett schaffen, und die Gouverneurswahl war das nächstliegende. Die Parteimitglieder werden sich nun der Tatsache bewußt, daß sie eine landesweite Wahlkampforganisation entwickeln müssen. Sie müssen mehr Menschen dazu bewegen, sich mit der DPP zu identifizieren, und sie müssen auch das Format ihrer prominenten Führer verstärken und sie auf ein ebenbürtiges Niveau mit den KMT-Kandidaten heben. Im allgemeinen sind die Regierungsbeamten der KMT beim größten Teil der Bevölkerung bekannter und höher angesehen [als die der DPP].
Die DPP muß sich nach dieser Wahl einer eingehenden Gewissensprüfung unterziehen, vor allem weil es diesmal einen Rückgang von zwischen drei und fünf Prozent im Stimmenanteil gab im Vergleich zu dem, was die Partei bei den letzten Kreisratswahlen verbuchen konnte. Sie muß das Moment beachten. Das ist besonders wichtig, weil diese Wahl eine hohe Beteiligung hatte. Die Wahlbeteiligung war einmalig.
Vergleicht man die Stimmenverteilung auf die Parteien in dieser Wahl mit der Vergangenheit, so zeigt sich, daß Bürger, die nie zuvor gewählt haben, es diesmal taten, und die meisten von ihnen stimmten für die KMT. Das bedeutet, daß die Wähler keine entscheidende Umwälzung oder Diskontinuität wollten. Sie verstanden die Wichtigkeit und die Folgen dieses Kampfes um den Gouverneursposten. Sie wußten, daß es Schwierigkeiten geben würde, wenn die KMT verlieren sollte. Es hätte bedeutet, daß ein Sieg über die DPP im kommenden Dezember schwieriger gewesen wäre, was dazu hätte führen können, daß die KMT ihre Mehrheit im Parlament verloren hätte. Diese Furcht motivierte viele Wähler hervorzukommen, die vorher nicht herausgekommen waren.
Ich glaube, die DPP kann eine Menge aus ihrem Sieg bei der Taipeier Bürgermeisterwahl lernen. Chen Shui-bian lieferte einen geradezu perfekten Wahlkampf, und er wußte, was die Wähler wollten. Die Wähler erwarteten nicht von ihm, daß er über die Ungerechtigkeiten der KMT-Herrschaft oder über repressive Maßnahmen in der Vergangenheit sprach. Sie wollten, daß sich ihr Kandidat auf die Lebensqualität, öffentliche Politik, die Zukunft konzentrierte - alles Themen, die die Mittelschicht wirklich ansprechen. Chen Shui-bian tat das. Er vermied die Kontroversen der Vergangenheit und hielt auch an einer guten Beziehung zu seiner Hauptwählerschaft, darunter viele Akademiker, fest. Ärzte, Anwälte, Steuerberater, Professoren - sie alle standen hinter ihm. Das ist fast eine Garantie dafür, daß seine Ratgeber sehr gut sind; er wird von Experten akzeptiert und beraten.
Ich prophezeie, daß die KMT wahrscheinlich keinen weiteren Bruch erleben wird. Und wenn sich Präsident Lee Teng-hui entscheidet anzutreten [in der Präsidentschaftswahl], wird er wahrscheinlich mit Leichtigkeit gewinnen. Allerdings können die Wähler jemanden für den Exekutivposten unterstützen, aber sich trotzdem bei der Wahl der Parlamentsabgeordneten einer anderen Partei zuwenden. Auf diese Art könnte es eine Kontrolle über die Exekutive geben, so daß keine einzelne Partei die Politik dominieren kann. Ich denke, die DPP wird in der nächsten Wahl eine ansehnliche Zahl von Parlamentssitzen gewinnen; die Neue Partei wird auch zulegen, obwohl sie eine Minderheitspartei bleiben wird.
Aber ich glaube nicht an die von ein paar KMT-Mitgliedern gemachten düsteren Vorhersagen, daß die KMT ihre Mehrheit im Parlament verlieren könnte. Ich glaube, die KMT wird wahrscheinlich anpassungsfähig genug sein, um diese Befürchtung zu zerstreuen, genau wie bei diesem Mal. Ungefähr drei oder vier Wochen vor der Wahl sprach jeder von der Verwundbarkeit James Soong’s, eines Festlandchinesen, der nicht alle seine Verbindungen zur alten KMT gekappt hatte. Aber obwohl die DPP ihn häufig attackierte, gewann er. Bei dieser Wahl haben wir gesehen, wie die Wähler etwas praktizierten, was ich “kollektive Vernunft” nennen würde.
(Deutsch von Jessika Steckenborn)